Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

FORSCHUNG/2577: Forscher zweifeln "Vegetativen Status" an (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 99 - 3. Quartal 2011
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Forscher zweifeln »Vegetativen Status« an

Von Edith Breburda


Immer mehr Mediziner erkennen, dass Patienten im so genannten persistierenden vegetativen Stadium keineswegs von der Außenwelt völlig abgeschlossen sind, wie allgemein vermutet wird. Nun eröffnen zwei Wissenschaftler der Harvard- und Cornell-Universität in den USA neue Perspektiven.


Immer öfter wird die Diagnose »Vegetatives Stadium« von Experten hinterfragt. Gibt es so etwas wie ein über Jahre hinweg anhaltendes Wachkoma? Ist es zulässig, eine Diagnose wie »lebenslängliche Hirnschädigung«, bei der es keine Hoffnung auf Besserung gibt, überhaupt zu stellen? Der bekannteste Fall, in dem eine solche Diagnose gestellt wurde, ist der der US-Amerikanerin Terri Schiavo. Sie starb am 31. März 2005, nachdem ein Gericht angeordnet hatte, ihr die Magensonde zu entfernen. (Vgl. auch LF, Nr. 74, S. 10ff.)

Bislang waren es vor allem Anwälte, die Angehörige von Wachkoma-Patienten vertraten, die anzweifelten, dass die Betroffenen rein gar nichts von ihrer Außenwelt wahrnehmen, wenn sie sich nicht auf eine uns vertraute Weise mitteilen können.

Nun veröffentlichte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Discover am 6. Juli 2011 einen Bericht über eine neue Studie, die die Wahrnehmungen von Patienten erforscht, die sich im Wachkoma - auch Vegetatives Stadium genannt - befinden. Die Wissenschaftler Dr. Joseph Giancino, Direktor des Rehabilitationszentrums für Neuropsychologie des Spaulding Lehrkrankenhauses der Harvard Medical School in Boston, und der Neurologe Dr. Nicholas Schiff vom Weil Cornell Medical Center der Cornell Universität in New York suchen nach Wegen, die Reiz-Reaktionen ihrer im Wachkoma befindlichen Patienten genauer voneinander abzugrenzen als Reflexe oder reelle Wahrnehmungen.

»Es sind menschliche Wesen, aber es scheint, als hätten sie ihre Humanität verloren«, erklärt Dr. Giancino gegenüber dem Discover-Magazin. »Es bleibt zu klären, ob das wirklich der Fall ist.« Aus der Vielzahl der Studien, die in den letzten drei Jahren gemacht wurden, geht hervor, dass 41 Prozent der Wachkoma-Patienten über eine gewisse Wahrnehmung verfügen - und die Tendenz ist steigend. Dr. Schiff war erstaunt über seinen ersten Patienten, der sich im Vegetativen Stadium befand. Drei Jahre später konnte dieser wieder sprechen. Bei einem Patienten mit minimalsten neuronalen Aktivitäten, der die Stimme seiner Mutter vernahm, konnte ein enormer Anstieg seiner Gehirnströme festgestellt werden, die mit denen eines gesunden Menschen identisch waren. Ein anderer Patient wachte nach 19 Jahren Wachkoma wieder auf und sprach ganz normal. Später sah man, dass sich im Gehirn des Betroffenen neue Nervenzellen gebildet hatten.

Niemand hätte bis dato geglaubt, dass so etwas möglich ist, nach einer Jahrzehnte alten Gehirnschädigung. Wissenschaftler fühlen sich durch diese Kranken-Berichte ermutigt, Patienten mit Hirntrauma eine reelle Chance auf Rehabilitation einzuräumen. Ein Mann, der anstelle seines intakten Gehirns nur eine schattenhafte Flüssigkeit bei der bildgebenden Diagnostik aufzeigte, ist dank eines Systems, das Kopfbewegungen registriert, nun in der Lage, E-Mails zu schreiben. Ein anderer Patient, der kaum bei Bewusstsein schien, konnte mit Hilfe von Elektroden seiner Mutter mitteilen, dass er sie liebt.

Früher bezeichnete man Hirntrauma-Patienten als »Quallen«, reflektierte Dr. Giancino. »Menschen im Vegetativen Status behandeln wir immer noch mit sehr vielen Vorurteilen.« Und sein Kollege Dr. Schiff bejahte auf einer Konferenz von Neurologen die Frage, dass die Prognose »Wachkoma« Leute regelrecht »umbringt«.

Die Studien der beiden Experten zeigten, dass schätzungsweise rund 250.000 bis 300.000 Wachkomapatienten in den USA, die sich in Pflegezentren befinden, die Fähigkeit zu denken und zu fühlen nicht verloren haben, schreibt die Autorin McGowan in ihrem »Discover Magazin«-Artikel.

Hope-Network und Terri-Schiavo-Life, zwei US-Organisationen, die sich für ein möglichst unabhängiges Leben von Behinderten einsetzen, verweisen auf dokumentierte Studien, wonach Patienten im Vegetativen Stadium nach 20 Jahren aufgewacht sind und anschließend ein weitgehend normales Leben führten. Bobby Schindler, Terris Bruder und Begründer der Terri-Schiavo-Life-Organisation, ist überzeugt, dass die Diagnose »Vegetatives Stadium« aus der Medizin eliminiert werden sollte. Es sei ein unwissenschaftlicher und unmenschlicher Begriff, den Mediziner benutzen. Fehldiagnosen träten in 50 Prozent der Fälle auf, schreibt Schindler in Facebook. Die Diagnose »persistierendes vegetatives Stadium« von 1991 sei ausreichend gewesen, um seine Schwester vorsätzlich verhungern zu lassen, schreibt Schindler weiter.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Für Terri Schiavo kamen alle Zweifel zu spät.


*


Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 99, 3. Quartal 2011, S. 9
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
Tel: 0821/51 20 31, Fax: 0821/15 64 07
E-Mail: info@alfa-ev.de
Internet: www.alfa-ev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2012