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FORSCHUNG/2930: Autophagie - Recycling-Strategien der Zellen (Einblicke/Uni Oldenburg)


EINBLICKE - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 56/Herbst 2012

Recycling-Strategien der Zellen

Von Prof. Dr. Christiane Richter-Landsberg



"Autophagie" heißt die regelmäßige "Müllentsorgung" in den Zellen unseres Körpers, eine Art Selbstverdauung. Eine Fehlfunktion dieses Prozesses ist vor allem für Zellen des Gehirns fatal und kann zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson beitragen. Die molekularen Grundlagen der Selbstverdauung in zellulären Systemen erforscht die Arbeitsgruppe "Molekulare Neurobiologie/Neurochemie".


Als Alois Alzheimer am 3. November 1906 auf der "37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte" in Tübingen den Fall einer Patientin vorstellte, die in geistiger Umnachtung gestorben war, konnte er nicht ahnen, dass die später nach ihm benannte Demenz-Erkrankung zu einem drängenden gesellschaftlichen Problem unserer alternden Gesellschaft werden würde. In Deutschland leiden heute schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen an Erkrankungen des zentralen Nervensystems, zwei Drittel davon an der Alzheimer Erkrankung. Jährlich treten etwa 200.000 neue Fälle auf.

Alzheimer entdeckte bei seinen Untersuchungen von Gewebeschnitten des Gehirns der verstorbenen Patientin zahlreiche Eiweißverklumpungen, die zum Zerfall der Nervenzellen geführt hatten. Krankhafte Ablagerungen von Proteinen im Gehirn sind auch bei Patienten mit Parkinson- oder Huntington-Krankheit und bei weniger bekannten Leiden wie Corticobasale Degeneration (CBD), Progressive Supranukleäre Blickparese (PSP), Pick Krankheit und Multisystematrophie (MSA) zu beobachten.

All diese neurodegenerativen Erkrankungen werden Proteinopathien genannt und sind bis heute nicht heilbar. Die Proteinaggregate dienen wegen ihrer unterschiedlichen Zusammensetzung auch als diagnostische Marker, mit denen man die Krankheiten eindeutig charakterisieren und unterscheiden kann. Während bei der Alzheimer-Krankheit vor allem Nervenzellen betroffen sind, die der Informationsübertragung dienen, werden bei anderen Erkrankungen auch die Stützzellen (Gliazellen) des Gehirns befallen. So treten bei der MSA typische halbmondförmige oder dreieckige Ablagerungen in den Gliazellen auf, die die Fortsätze von Nervenzellen mit einer isolierenden Schutzschicht umhüllen, den sogenannten Oligodendrozyten.

Die krankhaften Veränderungen in diesen Zellen und ihre zugrunde liegenden molekularen Ursachen untersuchen wir in der Arbeitsgruppe Molekulare Neurobiologie/Neurochemie im Institut für Biologie und Umweltwissenschaften. MSA ist eine rasch fortschreitende neurodegenerative Erkrankung, die multiple Systeme betrifft und mit Symptomen einhergeht, die der Parkinson Krankheit ähneln. Typisch sind beispielsweise verlangsamte Bewegungen, Gleichgewichtsstörungen, Schluck- und Sprechstörungen sowie Zittern. Die dynamische Entstehung der Aggregate und die molekularen Mechanismen untersuchen wir bei Ratten und Mäusen. Aus den Gehirnen dieser Tiere legen wir Zellkulturen an, die über längere Zeiträume im Inkubator gehalten werden und als Modellsysteme dienen.

In mehreren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekten arbeiten wir intensiv mit Wissenschaftlern der University of Pennsylvania, USA, der Aarhus Universität in Dänemark, der Universität Göttingen und dem Klinikum Bremen zusammen. Unsere neuesten Untersuchungen, über die wir in internationalen Fachzeitschriften berichtet haben (z.B. PlosOne, Glia, Journal of Neurochemistry), zeigen, dass eine fehlerhafte "Qualitätskontrolle" im Nervensystem und ein Versagen der Systeme, die am Abbau von Proteinen beteiligt sind, zu den Erkrankungsprozessen beitragen können. In aktuellen Forschungsarbeiten gehen wir der zentralen Frage nach, ob eine Modulation der Autophagie, eines zellulären Selbstreinigungsprozesses, als therapeutische Maßnahme bei Erkrankungen des Gehirns und auch bei Alterungsprozessen eingesetzt werden kann.

Im Laufe der Evolution haben Zellen eine Strategie entwickelt, nicht mehr gebrauchte zelleigene Proteine oder ganze Organellen in ihre Einzelteile zu zerlegen, sich sozusagen selbst zu verdauen und die Zerlegungsprodukte dem Stoffwechsel wieder zuzuführen. Dieser effiziente Recycling-Prozess wird als Autophagie (griechisch: sich selber fressen), genauer Makroautophagie, bezeichnet. Autophagie dient der Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichts der Zellen. Es ist eine Art Reinigungsprozess, bei dem auch defekte oder deformierte Proteine und alternde Organellen, also Abfall und zellulärer Schrott, entfernt und wiederverwertet werden. Übertriebenes Reinemachen allerdings kann zum Zelltod führen. Andererseits kann eine Störung oder Abschwächung des autophagischen Mechanismus fatale Folgen haben und zu Krankheiten wie Krebs, Parkinson oder Alzheimer beitragen.

Die Bezeichnung Autophagie stammt von dem belgischen Forscher Christian de Duve, der 1974 für seine grundlegenden biochemischen Untersuchungen und die Entdeckung der Lysosomen den Nobelpreis für Medizin erhielt. Lysosomen sind kleine membranumschlossene Kompartimente, angefüllt mit speziellen Enzymen, den sogenannten sauren Hydrolasen, die der intrazellulären Verdauung oder Zerlegung von Proteinen, Fetten, Zuckermolekülen und Nukleinsäuren dienen. Ihre Aufgabe ist der kontrollierte Abbau komplexer Makromoleküle zu einfachen Bausteinen, die dann aus den Lysosomen wieder freigesetzt und zum Wiederaufbau von neuen Makromolekülen verwendet werden. Lysosomen werden daher auch als "Müll-Recycling-Anlage" bezeichnet. Sie sind am autophagischen Prozess maßgeblich beteiligt.

In frühen elektronenmikroskopischen Aufnahmen entdeckten die Forscher membranumhüllte Bläschen, die cytoplasmatische Bestandteile und sogar ganze Organellen enthielten, wie beispielsweise Mitochondrien - das sind die Kraftwerke, die unsere Zellen mit Energie versorgen. Inzwischen sind die Schritte, die zum Abbau von cytoplasmatischen Bestandteilen und Zellorganellen führen, sehr gut untersucht. Zunächst wird im Cytoplasma (der wässrigen Substanz im Inneren der Zellen) eine doppellagige Membran ausgebildet (Phagophore), die sich vergrößert und Teile des Cytoplasmas und Organellen umschließt. So entsteht ein Autophagosom. Letztendlich verschmelzen Autophagosomen mit den Lysosomen, und so genannte Autolysosomen bilden sich. Im Autolysosom werden die Bestandteile mit Hilfe der lysosomalen Enzyme zerlegt oder "verdaut" und das wieder verwertbare Material ins Cytoplasma entlassen. Auf diese Weise erneuern Zellen kontinuierlich ihren Inhalt und befreien sich von unliebsamen, schadhaften Bestandteilen. Autophagosomen arbeiten immer, bilden sich aber vermehrt bei Stress-Situationen, wie etwa einem Mangel an Nährstoffen, oder durch schädliche Einwirkungen aus der Umgebung.

Neben dem lysosomalen Abbau können Proteine auch in einem anderen System, dem so genannten Proteasom abgebaut werden. Hier werden vor allem kurzlebige cytoplasmatische Proteine entsorgt. Das als "Abfalltonne" bezeichnete Proteasom besteht aus vielen verschiedenen Proteineinheiten, die zu einer fässchenartigen Struktur zusammengelagert sind. Größere Eiweißschollen können das Eingangstor zum Fässchen aber nicht durchdringen und müssen über den lysosomalen Weg verschrottet werden. Autophagie ist somit der einzige Prozess, durch den große Substrate wie Proteinklumpen und Organellen abgebaut werden können. Beide Prozesse, die Entsorgung durch Lysosomen oder Proteasomen, stehen miteinander in enger Kommunikation. Wenn der eine gehemmt ist, kann unter Umständen der andere in Aktion treten.

Die zelluläre Qualitätskontrolle durch Autophagie ist besonders im Nervensystem von großer Bedeutung. Da Nervenzellen sich nicht mehr teilen, kann der Ballast von fehlgefalteten, unnützen Proteinen und von beschädigten oder gealterten Organellen wie Mitochondrien durch Verteilung auf die Tochterzellen nach der Zellteilung nicht "verdünnt" werden. So wird vermutet, dass eine fehlerhafte Müllentsorgung zu Proteinklumpen in Gehirnzellen führt, die die Zellen verstopfen, zelluläre Vorgänge behindern und den Zelltod auslösen. Es gibt Hinweise von verschiedenen Forschergruppen, dass gestörte Autophagie, also zum Beispiel ein abgeschwächtes Selbstverdauungssystem, an Krankheitsprozessen im Gehirn beteiligt ist. In Mäusen mit ausgeschalteter Autophagie wurden neuronale Degenerationsprozesse und das Auftreten von Proteinaggregaten beobachtet. Gehirne von Alzheimer Patienten zeigen ein erhöhtes Vorkommen von Autophagosomen. Man vermutet, dass diese Vakuolen zwar vermehrt gebildet werden, aber deren Verschmelzung mit den Lysosomen und somit die Verdauung gestört ist.

Unsere Forschungsgruppe konnte kürzlich nachweisen, dass Proteinablagerungen in den Gehirnen von MSA-Patienten Komponenten enthalten, die auf einen fehlerhaften Ablauf des autophagischen Prozesses hindeuten. In einem Zellkultur-Modell haben wir zudem Proteinablagerungen erzeugt, die denen im lebendigen Organismus gleichen. Es ist uns gelungen, diese Ablagerungen anschließend durch eine Stimulierung der Autophagie wieder zu entfernen und so die zelluläre Überlebensstrategie zu simulieren.

In den letzten 25 Jahren hat es enorme Fortschritte gegeben, die die molekularen und klinischen Grundlagen neurodegenerativer Krankheiten weitgehend verständlich machen. Allerdings gibt es bislang keine Heilungschancen. Die weltweiten Forschungsaktivitäten lassen jedoch hoffen, dass in den nächsten Jahren Therapien entwickelt werden, die diese Krankheiten verhindern oder heilen.


Prof. Dr. Christiane Richter-Landsberg ist seit 1993 Hochschullehrerin für "Molekulare Neurobiologie" in Oldenburg. Sie studierte Pharmazie in Marburg und promovierte im Fach Biologie in Göttingen. Nach Studienaufenthalten in Israel und USA habilitierte sie sich 1988 in Bremen. Ihr Forschungsinteresse gilt Nervenzellen und Glia, Stressantworten und der Bedeutung von Stressproteinen in Gehirnzellen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Seite 6-7:
Erforscht zelluläre Überlebensstrategien: Prof. Dr. Christiane Richter-Landsberg, hier mit einem Fluoreszenzmikroskop. Das Computerbild zeigt eine Zelle, die mit Fluoreszenzfarbstoffen angefärbt wurde.

Seite 8:
1,2 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Erkrankungen des zentralen Nervensystems, zwei Drittel davon an Alzheimer.

Seite 9:
Müllentsorgung durch Autophagie: Mitochondrien und andere Zellbestandteile werden von einer Membran (rot) umhüllt, das Autophagosom verschmilzt mit Lysosomen (Autolysosom) - und die lysosomalen Enzyme (blau) zerlegen den Inhalt des Autophagosoms.

Seite 10:
Heilungschancen bei neurodegenerativen Krankheiten wie zum Beispiel Alzheimer sind derzeit noch nicht in Sicht.

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Quelle:
Einblicke Nr. 56, 27. Jahrgang, Herbst 2012, S. 6-11
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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Das Forschungsmagazin EINBLICKE erscheint zweimal im Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2013