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RAUCHEN/556: Ärztliche Kritik am Raucherurteil des Bundessozialgerichts (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2019

Urteil
Ärztliche Kritik am BSG-Raucherurteil

von Dirk Schnack


Gesetzlich krankenversicherte Raucher haben weiterhin keinen Anspruch auf Erstattung von Arzneimitteln zur Nikotinentwöhnung. Das Bundessozialgericht (BSG) entschied Ende Mai, dass der gesetzliche Ausschluss rechtmäßig und nicht gleichheitswidrig ist.

Damit wiesen die Richter die Klage einer Patientin aus Schleswig-Holstein ab, die bei dem Eckernförder Allgemeinmediziner Dr. Ulf Ratje in Behandlung ist. Sie hatte auf die Kostenübernahme für Medikamente bei Alkoholsucht und illegale Drogen verwiesen. Die seit Jahrzehnten rauchende Frau leidet an COPD und hat wiederholt erfolglos versucht, das Rauchen aufzugeben. Von ihrer Krankenkasse fordert sie deshalb die Kostenübernahme für eine leitliniengerechte Raucherentwöhnung mit verhaltenstherapeutischen Gesprächen und Nikotinersatz, was diese unter Hinweis auf die bestehende Rechtslage ablehnt.

Das Gericht verwies in diesem Zusammenhang auf die Absicht des Gesetzgebers, bei Medikamenten zur Raucherentwöhnung die Steigerung der Lebensqualität in den Vordergrund zu stellen und die Kostenübernahme auszuschließen. Daran ändere auch nichts, dass die Behandlung auch der Gesundheit zugute kommen kann.

Ratje hält das Urteil für eine Fehlentscheidung, weil das Gericht nach seiner Ansicht eine Ungleichbehandlung hätte feststellen, das Verfahren aussetzen und eine Vorlage vor dem Bundesverfassungsgericht beschließen müssen. "Wenn man das Thema eingehender bewertet hätte, wäre die Entscheidung anders ausgefallen", sagte Ratje nach der Verhandlung dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt. Er nennt folgende Argumente:

• Ausreichend wirksame Strukturen zur Tabakentwöhnungsbehandlung gibt es nach seinen Angaben in Deutschland nicht. Wenn ein Arzt einem tabakabhängigen Raucher zum Rauchstopp rate, habe das eine Wirksamkeit von drei bis fünf Prozent. Eine strukturierte Entwöhnungsbehandlung mit der nach der S3-Leitlinie empfohlenen Kombination aus medikamentöser Nikotinentzugstherapie und verhaltenstherapeutischer ärztlicher Therapie habe dagegen eine Erfolgsrate von 30 bis 40 Prozent. Ohne angemessene Vergütung werden sich nach seiner Überzeugung keine Therapiestrukturen entwickeln. Bei den zurzeit im DMP COPD verankerten Inhalten zur Raucherentwöhnung handele es sich um mögliche Kurzberatungen mit einer niedrigen Erfolgsrate.

• Innerhalb der S3-Leitlinie "Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums" wurden von 17 deutschen Suchtexperten in einem über mehrere Jahre laufenden Prozess mehrere tausend Studien ausgewertet. Die Wirksamkeit von Nikotinersatztherapie bei der Behandlung der Tabakabhängigkeit hat mit einem Empfehlungsgrad A die qualitativ höchste Empfehlung bekommen.

• Die Verankerung der Medikamente zur Raucherentwöhnung im § 34 SGB V hält Ratje für inhaltlich falsch. Denn dort sind Medikamente von der Kostenübernahme durch Krankenkassen ausgeschlossen, bei deren Anwendung überwiegend eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. Bei der Anwendung von Medikamenten zur Raucherentwöhnung stehe aber eine Erhöhung der Lebensqualität, im Gegensatz z. B. zu Potenzmitteln, niemals im Vordergrund. Die Anwendung soll Entzugserscheinungen dämpfen. Ausschließlich so werden diese Medikamente eingesetzt. Ratje: "Eine rein theoretische Möglichkeit der Anwendung zum Erhalt eines "Kicks" ist ausgeschlossen."

• Nikotinersatztherapie ist nicht rezept-, sondern lediglich apothekenpflichtig. Bei unsachgemäßer Anwendung, etwa in zu hoher Dosierung, kann es zu Vergiftungserscheinungen kommen. Da der Grad der Tabakabhängigkeit festgestellt werden muss, um die Dosierung von Nikotinersatztherapie richtig einzuschätzen, besteht die Möglichkeit der Überdosierung. Deshalb hält es Ratje für unverständlich, dass hier keine Rezeptpflicht besteht.

• Der Gleichheitsgrundsatz etwa bezüglich der Behandlung der Alkoholabhängigkeit wurde vom Gericht nicht tiefergehend behandelt. "Bei 120.000 Todesfällen durch tabakabhängige Erkrankungen jährlich in Deutschland gegenüber 80.000 Todesfällen durch die Folgen des Alkoholkonsums besteht offensichtlich eine Gleichheit in der Schwere der Erkrankung", so Ratje. Die Behandlung der Alkoholabhängigkeit wird ebenso wie bei Nikotinabhängigkeit in eine Entgiftung und eine verhaltenstherapeutische Behandlung unterteilt. Die Medikamente im Rahmen der Entgiftung werden von den Krankenkassen bezahlt. Natürlich könne der Gesetzgeber der Auffassung sein, dass die Behandlung lebensstilabhängiger Erkrankungen grundsätzlich in die Eigenverantwortung fällt. Hier müsste dann aber der Gleichheitsgrundsatz gewahrt bleiben. Das würde bedeuten, dass die Behandlung der Alkoholabhängigkeit ebenso privatisiert würde wie z. B. die Behandlung der Adipositas, des Typ-2-Diabetes, der Medikamenten-, Heroin,- Kokain-, Spiel- oder Mediensucht. Ratje: "Das wäre unhaltbar."
AZ: B1 KR 25/18 R


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2019 im Internet unter:
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Juni 2019, Seite 37
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2019

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