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ETHIK/746: Bioethik und moderne Demokratie (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion
9/2009

Bioethik und moderne Demokratie
Eine Bilanz zur jüngsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestags

Von Johannes Reiter


Von der Wiege bis zur Bahre - das war einmal eine Wendung, die die Zeit eines Menschen auf Erden beschrieb. Heute könnte es heißen: vom Gentest der Eltern bis zum designierten Sterben durch Patientenverfügung. In der vergangenen 16. Wahlperiode hat der Deutsche Bundestag die menschliche Lebensspanne durch Gesetze geregelt und somit Rechtsklarheit geschaffen. Es bleiben aber ernst zu nehmende offene Fragen.


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Bioethische Fragen werden nach wie vor - nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland - intensiv diskutiert. Die engagierten und vorpreschenden Befürworter auf der einen Seite, die vorsichtigen und besorgten Gegner auf der anderen Seite stehen sich schon gewohnheitsmäßig kontrovers gegenüber. Es lässt sich lediglich eine Entspannung der Debatte - auch als Ergebnis der Beratung in Ethikkomitees, von Bürgerdialogen und kooperativen Diskursen - feststellen.

Die Themen und Inhalte sind im Wesentlichen die gleichen geblieben, während die Diskussion als solche differenzierter geführt wird. Heute würde niemand mehr die Frage stellen "Gentechnik - Ja oder Nein?", diese ist längst zu Gunsten der Gentechnik entschieden. Vielmehr ist man heute gezwungen, sich mit den sich überschlagenden Forschungsergebnissen in den einzelnen Anwendungsbereichen ethisch auseinanderzusetzen.

Auch wenn hierbei oft keine endgültigen Lösungen moralischer Streitfragen zu erwarten sind, kann die Analyse und ethische Diskussion der Probleme doch erheblich zu deren Klärung und Entscheidung beitragen. Fraglich ist allerdings, ob ein Konsens bereits ausreicht, ethische Fragen zu beantworten. Er löst häufig das Problem nicht, sondern beendet lediglich die Diskussion. Nur weil alle Kommissionsmitglieder übereinstimmen, muss die Entscheidung nicht allgemein akzeptabel sein. Sicherlich sollte in gesetzgeberischen Verfahren aus pragmatischen Gründen irgendwann eine Lösung herbeigeführt werden. Aber damit muss nicht gleichzeitig die öffentliche Diskussion erledigt sein. Dies trifft auch auf die vom Deutschen Bundestag in der vergangenen 16. Legislaturperiode verabschiedeten bioethischen Gesetze zur neuen Stichtagsregelung in der Stammzellforschung (2008), Gendiagnostik (2009), Spätabtreibung (2009) und zur Patientenverfügung (2009) zu.


Grenzen für Gentests

Nach jahrelangen vorangegangen Debatten hat am 24. April 2009 der Deutsche Bundestag das Gendiagnostikgesetz verabschiedet (vgl. HK, Oktober 2008, 509f.). Ein entsprechender Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP sowie der Fraktion Die Linke angenommen. Mit dem Gendiagnostikgesetz werden erstmals verbindliche Regeln für die Bereiche der medizinischen Versorgung, der Abstammung, des Arbeitslebens und der Versicherungen sowie die Anforderungen an eine gute genetische Untersuchungspraxis festgelegt. Hauptkritik der Opposition war vor allem, dass das Gesetz zu viele Ausnahmeregelungen vorsehe.


Künftig dürfen genetische Untersuchungen grundsätzlich nur durchgeführt werden, wenn die betroffene Person in die Untersuchung rechtswirksam eingewilligt hat. Genetische Untersuchungen bei nicht einwilligungsfähigen Personen müssen einen gesundheitlichen Nutzen für die untersuchte Person haben und können ausnahmsweise unter strengen Voraussetzungen auch unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für einen Familienangehörigen zugelassen werden. Genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken dürfen nur von einer Ärztin oder einem Arzt durchgeführt werden. Die genetische Beratung gehört dabei zu den zentralen Elementen des Gesetzes. Bei einer genetischen Untersuchung, die der Abklärung bereits bestehender Erkrankungen dient, soll der untersuchten Person eine Beratung angeboten werden.

Einen besonderen Stellenwert hat die Beratung bei denjenigen Untersuchungen, die eine Vorhersage erlauben, entweder für die Gesundheit der betroffenen Person selber oder in Bezug auf die Gesundheit eines ungeborenen Kindes. Deswegen ist hier in beiden Fällen die genetische Beratung vor und nach der Untersuchung verpflichtend.

Die vorgeburtliche genetische Untersuchung wird auf medizinische Zwecke beschränkt, also auf die Feststellung genetischer Eigenschaften, die die Gesundheit des Fötus oder Embryos vor oder nach der Geburt beeinträchtigen können. Verboten werden allerdings solche vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen auf Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen können, sogenannte spätmanifestierende Krankheiten. Ebenso sind Untersuchungen etwa zu Geschlecht oder Haarfarbe untersagt. Genetische Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung sind nur dann zulässig, wenn die Personen, von denen eine genetische Probe untersucht werden soll, in die Untersuchung eingewilligt haben. Eine "heimliche" Abstammungsuntersuchung wird als Ordnungswidrigkeit geahndet und kann mit einem Bußgeld von bis zu 5000 Euro bestraft werden.

Im Arbeitsrecht sind genetische Untersuchungen auf Verlangen des Arbeitgebers grundsätzlich verboten. Auch Versicherungsunternehmen dürfen beim Abschluss eines Versicherungsvertrages weder die Durchführung einer genetischen Untersuchung noch Auskünfte über bereits durchgeführte Untersuchungen verlangen. Zur Vermeidung von Missbrauch müssen die Ergebnisse bereits vorgenommener genetischer Untersuchungen vorgelegt werden, wenn eine Versicherung mit einer sehr hohen Versicherungssumme, ab 300.000 Euro, abgeschlossen werden soll.

Die Grünen-Abgeordnete Priska Hinz beklagte, das Gesetz der Koalition sei nur "Stückwerk" und bleibe hinter dem vor zwei Jahren von ihrer Fraktion vorgelegten Gesetzentwurf zurück. Als Nachteil hob sie insbesondere hervor, dass der Bereich der Forschung völlig ungeregelt bleibe. Der FDP-Abgeordnete Heinz Lanfermann kritisierte hingegen, dass das Gesetz in manchen Bereichen zu restriktiv sei. Die Unionsabgeordnete Annette Widmann-Mauz (CDU) verteidigte den Gesetzentwurf der Koalition. Er sorge dafür, dass der Mensch weiterhin in seiner "Einzigartigkeit" gewahrt bleibe. Dazu gehörten auch seine "Unzulänglichkeiten". Auch von Seiten der Bundesärztekammer wurde das neue Gesetz begrüßt, insbesondere der verankerte Arztvorbehalt. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe zeigte sich erleichtert darüber, dass nun das Verbot vorgeburtlicher Untersuchungen auf spätmanifestierende Krankheiten festgeschrieben wurde.


Spätabtreibungen werden erschwert

In ihrem Koalitionsvertrag von 2005 hatten SPD und Union vereinbart zu prüfen, "ob und gegebenenfalls wie" die Situation bei Spätabtreibungen verbessert werden könne (vgl. HK, Oktober 2008, 510). Daraus hatte sich eine erbitterte Debatte entwickelt, die am 13. Mai 2009 mit der vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Reform des Schwangerschaftskonfliktgesetzes beendet wurde. Die vom Parlament beschlossenen Änderungen verpflichten Ärzte, schwangeren Frauen nach einer Diagnose, die nach dem geltenden Recht als Rechtfertigung für die Vornahme einer vorgeburtlichen Kindstötung nach der 12. Schwangerschaftswoche gilt, eine ausführliche Beratung anzubieten.

Die Schwangere kann diese Beratung, die "ergebnisoffen" zu erfolgen hat, ablehnen. Zwischen der Diagnose und der schriftlichen Feststellung der Indikation zur Abtreibung müssen mindestens drei Tage liegen. Ärzte, die keine umfassende Beratung anbieten oder eine schriftliche Feststellung der Indikation ohne Vorliegen einer "erheblichen Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren" ausstellen, begehen eine Ordnungswidrigkeit, die künftig mit einem Bußgeld von bis zu 5000 Euro geahndet werden kann. Ferner verpflichtet das geänderte Schwangerschaftskonfliktgesetz die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, "Informationsmaterial zum Leben mit einem geistig oder körperlich behinderten Kind und dem Leben von Menschen mit einer geistigen und körperlichen Behinderung" zu erstellen.


Während sich der Fötus bis etwa zur 14. Schwangerschaftswoche aus medizinischer Sicht relativ problemlos absaugen oder chemisch mit der Abtreibungspille Mifegyne abtreiben lässt, muss der Arzt in den letzten Schwangerschaftswochen regelrecht eine Frühgeburt einleiten. Um dabei sicherzugehen, dass der Fötus nicht lebend zur Welt kommt, wird er zumeist vorher im Mutterleib mit einer Spritze abgetötet. Danach wird medikamentös die Geburt eingeleitet. Wenn eine Schwangerschaft nach der 22. Woche abgebrochen wird, spricht man von einer Spätabtreibung. Das Kind wäre dann bereits lebensfähig. Laut offiziellen Zahlen waren dies im vergangenen Jahr 231 Fälle, wobei Kritiker die Dunkelziffer wesentlich höher einschätzen. Grund für eine Spätabtreibung ist meist eine festgestellte Behinderung des ungeborenen Kindes.

Bei der namentlichen Abstimmung votierten 326 Parlamentarier für die von den Abgeordneten Johannes Singhammer (CSU), Kerstin Griese (SPD), Ina Lenke (FDP) und Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) vorgelegten Änderungen, 234 stimmten dagegen. Eine von den Initiatoren des Antrags gesondert zur Abstimmung gestellte bessere statistische Erfassung der so genannten Spätabtreibungen fand dagegen keine Mehrheit. Mit dieser Initiative sollte die Dunkelziffer erhellt werden, die durch gemeldete "Totgeburten" entsteht, die tatsächlich auf Abtreibungen zurückzuführen sind.


Das Gesetz fand ein geteiltes Echo. Pro Familia kritisierte die Entscheidung des Parlaments. Die Bundesärztekammer (BÄK) und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) begrüßten dagegen die vom Bundestag verabschiedete Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes nachdrücklich. Mit großer Erleichterung hat auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung das Votum des Bundestags zu Spätabtreibungen aufgenommen. "Das ist eine wirkliche Hilfe für schwangere Frauen, die ja meist völlig unvorbereitet mit der Diagnose konfrontiert werden, dass sie ein behindertes Kind erwarten", erklärte der Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, Robert Antretter. Auch der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Hans Joachim Meyer, begrüßte den Bundestagsbeschluss. Dieser Beschluss werde dem Schutz des Lebens und dem Beistand der Eltern in ihrer Notsituation dienen.

Da auch künftig Spätabbrüche nicht statistisch erfasst werden, lässt sich über die Wirkung des Gesetzes nur schwer etwas ausmachen. Die Beratung und die dreitägige Bedenkzeit der Frau mögen zwar an ihrem Dilemma nichts ändern, aber verhindert werden Panikreaktionen und Automatismen, mit denen die Diagnose einer Behinderung in vielen Fällen zur sofortigen Abtreibung führte. Die Reform kann auch den Sinn dafür wecken, dass viel zu viele pränatale Untersuchungen durchgeführt werden, die Eltern unnötig unter psychischen Druck setzen. Und zur Wahrheit gehört, dass sich längst eine unheilvolle Automatik eingeschliffen hat, die werdende Eltern von behinderten Kindern der belastenden Erwartung aussetzt, selbstverständlich abzutreiben.


Wie unsere Gesellschaft mit Behinderten umgeht, zeigt eine Entscheidung der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 14. Mai 2009. Dort wurde ein Fortpflanzungsmediziner freigesprochen, obwohl er die nach vorherrschender Rechtsauffassung in Deutschland verbotene Präimplantationsdiagnostik (PID) durchgeführt hat. Bei der PID werden im Labor erzeugte Embryonen vor der Übertragung in die Gebärmutter einem Gen-Check unterzogen. Anschließend werden nur genetisch einwandfreie Embryonen auf die Mutter übertragen. Genetisch auffällige Embryonen werden - wie es in der die Selektion verniedlichenden Fachsprache der Reproduktionsmediziner heißt - "verworfen".

Dagegen steht das Embryonenschutzgesetz (ESchG), dessen Paragraph 1 Absatz 1 Nr. 2 wie folgt lautet: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt."


Der Arzt, der sich selbst angezeigt hatte, wollte mit Hilfe des Gerichtes ein Tabu brechen, nämlich das Verbot der PID. Als er nach der PID seine Patientinnen mit den Testergebnissen konfrontierte, verweigerten diese - wie nicht anders zu erwarten - eine Übertragung der genetisch auffälligen Embryonen. Der offensichtliche Grund für dieses Vorgehen liegt auf der Hand: Nachdem der Arzt vorsätzlich nach vorherrschender Rechtsauffassung gegen das ESchG verstoßen hatte, suchte er nun seinen Schutz vor Gericht. Denn das ESchG verbietet an anderer Stelle, im Paragraphen 4 Abs. 2, ausdrücklich den Transfer von Embryonen gegen den Willen der Frau.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft hat Revision beantragt, und damit kommt der Fall vor den Bundesgerichtshof. Sollte die Berliner Entscheidung Bestand haben, sind gravierende Folgen zu erwarten. Die in der Bundesrepublik mittlerweile weit verbreiteten "Kinderwunsch"-Zentren (rund 122) werden dann die PID in großem Umfang anbieten.


Die Patientenverfügung löst nicht alle Probleme

Mit einer überraschend deutlichen Mehrheit hat der Deutsche Bundestag am 18. Juni 2009 das lang erwartete Gesetz über Patientenverfügungen verabschiedet (vgl. HK, Juli 2009, 330; Oktober 2008, 510ff.). Die Volksvertreter entschieden sich dabei für die liberalste Version der drei vorliegenden Gesetzentwürfe. Sie beschlossen in dritter Lesung mit einer Mehrheit von 317 Ja-Stimmen bei 233 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen den Gesetzentwurf der Abgeordneten Joachim Stünker (SPD), Michael Kauch (FDP) und weiterer Parlamentarier, der die Patientenverfügung als Rechtsinstitut im Betreuungsrecht verankert. Damit wurde nach gut sechs Jahren Diskussion über das Thema nach langjähriger Uneinigkeit kurz vor Ende der Legislaturperiode ein Schlusspunkt in der Debatte gesetzt. Das Gesetz ist am 1. September 2009 in Kraft getreten.


Dem verabschiedeten Gesetz nach sind künftig Betreuer oder Bevollmächtigte im Fall der Entscheidungsunfähigkeit des Betroffenen an seine schriftliche Patientenverfügung gebunden. Sie müssen prüfen, ob die Festlegungen in der Patientenverfügung der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation entsprechen und den Willen des Betroffenen zur Geltung bringen. Arzt und Betreuer müssen sich jedoch einig sein. In Konfliktfällen wird das Vormundschaftsgericht eingeschaltet. Die Patientenverfügung muss schriftlich vorliegen. Ist dies nicht der Fall, hat der Betreuer seine Entscheidung unter Berücksichtigung der Behandlungswünsche beziehungsweise des mutmaßlichen Willens des Patienten zu treffen. Eine ärztliche Beratung vor dem Abfassen der Verfügung ist nicht vorgeschrieben, wird aber empfohlen - ebenso wie eine regelmäßige Aktualisierung der Verfügung.

Der Streit über die von etlichen Medizinern und Juristen abgelehnte, von den Kirchen jedoch favorisierte Reichweitenbegrenzung drohte das Gesetz scheitern zu lassen und führte zu der resignativen Formel "Lieber gar kein Patientenverfügungsgesetz als ein schlechtes". Eine Reichweitenbegrenzung, die den Patientenwillen kraft Gesetzes in bestimmten Fällen für unbeachtlich erklärt, sieht das verabschiedete Gesetz nicht vor, die Patientenverfügung gilt also unabhängig vom Stadium der Erkrankung, auch dann, wenn die Krankheit nicht zum Tod führt. Festlegungen in einer Patientenverfügung, die auf eine verbotene Tötung auf Verlangen gerichtet sind, bleiben jedoch unwirksam.


Auch wenn mit dem nun geltenden Gesetz Rechtsklarheit und Rechtssicherheit eingetreten sind, bleiben Fragen: Kann man vorausschauend und vorauswissend Vorkehrungen treffen für Ereignisse, die als eingetretene Ereignisse womöglich ganz andere Einstellungen hervorrufen, als man vorab gemeint hat? Übertritte in andere Lebensphasen lassen sich, wenn überhaupt, nur schwer im Voraus verfügen. Auch und gerade in einer derart unvorhergesehenen Situation können sich neue Sinnhorizonte öffnen und erschließen lassen, wie etwa die Krankheitsgeschichte von Walter Jens zeigt. Jens war früher vehement für aktive Sterbehilfe eingetreten und hätte das Leben, das er jetzt im Zustand der Demenz lebt, "niemals leben wollen". Jetzt hingegen "scheint er dieses Leben als lebenswert zu empfinden", so seine Frau Inge (vgl. HK, April 2009, 166 f.).

Wichtig erscheint, dass Patientenverfügungen sich nicht zu einem Bumerang entwickeln und auf die Betroffenen Erwartungsdruck ausüben (R. Marquard). Wenn man bedenkt, dass 80 Prozent des Budgets der gesetzlichen Krankenversicherungen für Patientinnen und Patienten in den letzten sechs Monaten ihres Lebens ausgegeben werden, könnte diese Tatsache bei den Erkrankten einen moralischen Druck erzeugen, die Allgemeinheit nicht länger finanziell zu belasten. Auch darf familiärer Druck als Anzeichen einer Überforderung oder Ausdruck der Spekulation auf ein zu erwartendes Erbe die Abfassung einer Patientenverfügung auf keinen Fall beeinflussen.


Nachdrücklich zu begrüßen ist das zusammen mit dem Patientenverfügungsgesetz verabschiedete Gesetz zum Assistenzpflegebedarf. Danach soll die Hilfe zur Pflege auch für die Dauer des stationären Krankenhausaufenthalts für pflegebedürftige Behinderte weiter geleistet werden. Zudem soll das Pflegegeld für die gesamte Dauer von stationärer Behandlung weiter ausbezahlt wird. Ferner sieht das Gesetz vor, dass im Medizinstudium die Palliativmedizin Pflichtlehr- und Prüfungsfach sowie Bestandteil der Approbationsordnung werden. Damit werden endlich den Schwerstkranken und Sterbenden eine professionelle Gesundheitsversorgung geboten.


Was in der 17. Legislaturperiode ansteht

Auch in der kommenden 17. Legislaturperiode (2009-2014) werden biomedizinische Wertkonflikte nicht ausbleiben. Schon jetzt richten sich erhebliche Erwartungen an den neuen Bundestag. Die Fortpflanzungsmediziner werden keine Ruhe geben, bis das Embryonenschutzgesetz von 1990 nach ihren Vorstellungen novelliert und damit aufgeweicht wird. Vor allem geht es ihnen darum, dass nicht mehr alle in-vitro erzeugten Embryonen auf die Frau übertragen werden müssen, sondern nur noch der fitteste (Single-Embryo-Transfer), der mit Hilfe morphologischer Beobachtungen und lichtmikroskopischer Untersuchung oder durch Präimplantationsdiagnostik ausgewählt wird. Die übrig gebliebenen Embryonen werden eingefroren, der Forschung zugeführt oder sterben gelassen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Transplantationsmedizin erneut die Widerspruchslösung ins Gespräch bringen, weil sie sich davon ein höheres Organaufkommen verspricht (vgl. HK, September 2007, 454f.). Der Gesetzgeber wird auch auf die vermehrt auftretenden Fälle reagieren müssen, in denen Angehörige die Organspende an Bedingungen knüpfen, beispielsweise dass zunächst Verwandte, Freunde und (reiche) Bekannte berücksichtigt werden und erst dann die restlichen Organe an andere Bedürftige weitervermittelt werden.

Ob mit der Einführung der Patientenverfügung und dem Gesetz zum Assistenzpflegebedarf der Ruf nach Sterbehilfe verstummt, bleibt abzuwarten. Immerhin spricht sich die Mehrheit der Deutschen (58 Prozent) für aktive Sterbehilfe aus (vgl. HK, Oktober 2008, 512). Und die Stimmen, die nach einer ärztlichen Suizid-Beihilfe rufen, mehren sich. Der FDP-Abgeordnete Kauch fordert für die Bundesrepublik ein Vorgehen, wie es in dem US-Staat Oregon praktiziert wird. Dort können seit 1997 tödliche Medikamente für Menschen verschrieben werden, die nach Meinung von zwei Ärzten an einer Krankheit leiden, welche innerhalb von sechs Monaten zum Tode führt. Die Betroffenen müssen volljährige Bürger Oregons und urteilsfähig sein, ihren Sterbewunsch in einem Abstand von 15 Tagen zweimal mündlich und einmal schriftlich vorbringen und intensiv über palliativmedizinische Alternativen aufgeklärt werden. Die tödlichen Mittel müssen sie selbst und daheim einnehmen.

Für dieses Modell hatte sich bereits im Mai 2009 auch die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert, Mitglied im Deutschen Ethikrat, auf dem Evangelischen Kirchentag in Bremen unter großem Beifall eingesetzt. Ihr Kollege im Ethikrat, der Jurist Jochen Taupitz, hatte im März im "Spiegel" ebenfalls eine Liberalisierung der Regeln zur ärztlichen Suizid-Beihilfe gefordert, erntete aber heftige Kritik der Bundesärztekammer. Vor allem deren Standesregeln stehen in Deutschland der ärztlichen Hilfe zur Selbsttötung entgegen.


Der Gesetzgeber wird auch nicht umhin kommen, den Bereich der grünen Gentechnik (Landwirtschaft und Ernährung) einer plausiblen Regelung zu unterziehen. Das Verbot des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen durch Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) hat in Deutschland die Debatte über die Agro-Gentechnik neu entfacht. Nicht nur zwischen den gesellschaftlichen Gruppen gibt es Differenzen, auch im Kabinett der Bundesregierung stehen sich unterschiedliche Positionen gegenüber. Auch in der ethischen Diskussion wird dieser Bereich vernachlässigt (vgl. jedoch HK, Juli 2004, 553; Januar 2005, 27).

Die ethische Diskussion wird sich sowohl auf die ökologischen als auch die ökonomischen Aspekte konzentrieren müssen. Ist eine so weit gehende Naturveränderung moralisch vertretbar und wie ist mit den Unsicherheiten dieser Technologie umzugehen? Befürchtet wird eine noch intensivere Landwirtschaft mit den entsprechenden Auswirkungen. Und viele bangen um die Sicherheit unserer Lebensmittel. 75 Prozent der Bundesbürger lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab. Der ganze Komplex ist schließlich auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu diskutieren.


Johannes Reiter (geb. 1944) ist seit 1984 Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Er ist Mitglied der Internationalen Theologenkommission. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Bioethik; langjähriger Mitarbeiter der HK für diesen Bereich.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 9, September 2009, S. 456-460
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2009