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GESCHICHTE/504: Geburtshilfe - Wenn Tod und Leben beieinander stehen (RUBENS)


RUBENS 16. Jahrgang, Nr. 134 vom 1. Juni 2009 Nachrichten Berichte und Meinungen aus der Ruhr-Universität Bochum

Serie: Medizinhistorische Sammlung
Wenn Tod und Leben beieinander stehen

Von Dr. Stefan Schulz


Die Geburt ist nicht nur Anlass zur Freude, sondern auch für Angst und Sorge. Das war auch vor 200 Jahren so. Ein besonders schwieriges Problemfeld war die sog. schwere Geburt.


War die gleichzeitige Rettung des mütterlichen und kindlichen Lebens durch geschickte Handgriffe oder den Einsatz der Geburtszange nicht mehr möglich, entstand eine ethisch diffizile Situation. Spezifische Probleme ergaben sich für die Geburtshelfer, in deren Profession die dann noch üblichen Interventionsmöglichkeiten fielen: Sollten sie der Mutter - wenn nötig auf Kosten des Kindes - oder dem Kind - wenn nötig auf Kosten der Mutter - helfen? Oder sollten sie abwarten, bis Mutter oder Kind verstorben waren, um dann alles für die überlebende Mutter oder das überlebende Kind zu tun? Die wichtigsten, mit diesen Fragen verknüpften Techniken waren in dieser Zeit der "Kaiserschnitt", der nach Meinung vieler Ärzte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein einem Todesurteil für die Mutter gleichkam, und die sog. verkleinernden Operationen am Kind. Welche dieser Techniken eingesetzt werden sollte, hing von den Antworten auf das ethische Problem ab.


Gesundheitspolitik und Geburtshilfe

Die Publikationen der professionellen Geburtshelfer um 1800 zeigen hier kein einheitliches Bild. Fokussiert man aber die Veröffentlichungen in einem wohl definierten Gebiet, z.B in Wien, so werden Problemwahrnehmungen, -beschreibungen und -lösungen nachweisbar, die für mehr oder weniger lange Zeiträume Konjunktur hatten und im öffentlichen Raum als Norm galten. Doch auch hier ereigneten sich schließlich moralische Verwerfungen. Als wesentlicher Motor wirkten in Wien allgemeine gesundheitspolitische Veränderungen, wie sie mit der Regierungszeit von Joseph II. und der folgenden Restauration verbunden waren. Dabei lösten die neuen Haltungen nicht einfach die älteren ab, sondern diese wirkten mit geringerem argumentativem Gewicht weiter. Eindrücklich belegt dies die Diskussion um die verkleinernden Operationen am Kind.

Zunächst stand in Wien ein christlich geprägter Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen, in dem das Tötungsverbot und eine moralische Differenzierung zwischen "instrumentellem Intervenieren" und "Geschehen lassen" das größte Gewicht besaßen, im Mittelpunkt. Im Kreis der Geburtshelfer zirkulierten zu dieser Zeit autoritativ wirkende Entscheidungen theologischer Autoritäten: Wenn man die Mutter nur dadurch retten könne, dass man das Kind umbringe, so dürfe dies nicht geschehen: "Man soll nichts Böses tun, auf dass etwas Gutes daraus entstehen möge". Dementsprechend argumentieren die Wiener Geburtshelfer dafür, verkleinernde Operationen am Kind erst dann zu einzusetzen, wenn "sichere Zeichen für den Tod" des Kindes sprachen. Doch auch das Gebot zu helfen hatte Gewicht. Denn die Geburtshelfer waren sich darüber einig, dass Irrtümer bei der Diagnose des kindlichen Todes unter der Geburt nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden konnten. Sie nahmen damit in Kauf, dass ungeborene Kinder möglicherweise getötet wurden, um die Mutter zu retten, bestimmten aber den Tod der Kinder so genau wie möglich.


Wert des Lebens

Wenige Jahre später änderte sich dies, nachdem weit reichende gesundheitspolitische Verwerfungen in Wien stattgefunden und (staats-)utilitaristische Ziele für einige Jahre Konjunktur gewonnen hatten. In den Schriften der Geburtshelfer trat jetzt ein utilitaristisch gefärbter Wahrnehmungsrahmen neben das christlich geprägte Tötungsverbot, deutlich fassbar im jetzt nachweisbaren Argument des "Wertes des Lebens". Nun galt es als moralisch geboten, bereits dann verkleinernde Operationen am Kind einzusetzen, wenn "keine sicheren Zeichen mehr für ein lebendes" Kind zu entdecken waren: Die moralisch relevante "Wahrscheinlichkeitsgrenze" zwischen Leben und Tod verschob sich in Richtung Leben. Eine Opferung des sicher lebenden, ungeborenen Kindes zugunsten der nun als "wertvoller" bewerteten Mutter wurde allerdings nicht gefordert. Hier ist das noch wirkende moralische Gewicht des christlich geprägten Tötungsverbotes erkennbar. Unter dem Einfluss der Wiener Restauration hatten später wieder die älteren, als verlässlicher bewerteten Haltungen Konjunktur, die utilitaristische Sicht auf den "Wert des Lebens" wurde wieder in den Hintergrund gedrängt.

Zur Gruppe der utilitaristisch argumentierenden Geburtshelfer, die einen "Statusunterschied" zwischen Mutter und ungeborenem Kind vertraten, gehörte auch Franz Carl Joseph Naegele (1778-1851), der nicht nur die in Rubens 108 vorgestellte Geburtszange, sondern auch ein "Perforatorium" entwickelte. Dieses Instrument wurde eingesetzt, um den Kopf des Kindes zu verkleinern, etwa bei einem Missverhältnis zwischen Kopfgröße und Weite des Geburtskanals. Das in der Medizinhistorischen Sammlung erhaltene, ca. 27 cm lange Exemplar wurde Anfang des 20. Jahrhunderts produziert.


PD Dr. Stefan Schulz, Medizinhistorische Sammlung der RUB


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Quelle:
RUBENS 16. Jahrgang, Nr. 134 vom 1. Juni 2009, S. 4
Herausgeber: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel: 0234/32-23999, -22830, Fax: 0234/32-14136
Internet: www.rub.de/rubens
E-Mail: rubens@presse.rub.de
ISSN 1437-4749


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2009