Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

GESCHICHTE/511: Arbeitsphysiologie - Schwitzen im Dienst der Wissenschaft (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2009

Rückblende / Arbeitsphysiologie
Schwitzen im Dienst der Wissenschaft

Von Elke Maier


Ein Waschbrettbauch braucht Disziplin - und einen guten Trainingsplan. Wie sich Muskeln optimal aufbauen lassen, hat Erich Albert Müller am Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie untersucht. Heute, mehr als 50 Jahre später, sind die von ihm beschriebenen Grundprinzipien noch immer aktuell - so wie viele Erkenntnisse aus der arbeitsphysiologischen Forschung von damals.


Nach einer halben Flasche Schnaps und zwei Litern Bier Fahrrad fahren - was im Straßenverkehr empfindliche Strafen nach sich zieht, wurde am Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie sogar entlohnt. Denn die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie sich Alkohol auf die Arbeitsleistung von Schwerarbeitern auswirkt. Dazu hatten sie eine Testperson angestellt und zur Ergometerarbeit verpflichtet: In einem Langzeitversuch über sechs Monate "wurden an den Alkoholtagen ½ l Münsterländer Korn und 4 Flaschen Dortmunder Bier (à 0,5 l) getrunken".

Laut Protokoll durfte sich der Proband manchmal am Versuchstag selbst, zeitweise schon am Vorabend des Experiments betrinken: "Wir sehen in unseren Versuchen, dass die Katerwirkung einen quantitativ stärkeren und eindrucksvolleren Ausschlag der Leistungskurve bedingt als die unmittelbare Alkoholwirkung", interpretierten die Wissenschaftler die absinkende Arbeitsleistung der Testperson. Hingegen wirkte sich dieselbe Alkoholmenge positiv aus, wenn sie kurz vor Arbeitsbeginn genossen wurde. Fazit: "Je weniger die Arbeit 'als Last' empfunden wird, umso intensiver und frischer ist der Arbeitswille der Versuchsperson." Die Versuche sollten den Alkohol aber nicht als Mittel zur Leistungssteigerung empfehlen, sondern die Auswirkungen des Alkoholkonsums beschreiben, der unter Schwerarbeitern - und nicht nur unter diesen - zumindest früher weit verbreitet war.

Doch die Forscher am Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie widmeten sich längst nicht nur der Wirkung von Rauschmitteln - vielmehr hatte sich das 1912 gegründete Institut der "wissenschaftlichen Erforschung der Physiologie, Pathologie und Hygiene der geistigen und körperlichen Arbeit" verschrieben und wollte daher möglichst viele Aspekte beleuchten.

Im Jahr 1929 zog das Institut von Berlin nach Dortmund um und damit direkt ins Zentrum harter Arbeit - ins Ruhrgebiet. In den Bergwerksstollen der Zechen und an den glühenden Hochöfen der Stahlwerke zwischen Rhein und Ruhr fanden die Physiologen genau die Bedingungen vor, für die sie sich so brennend interessierten: Wie beeinflusst körperliche Arbeit die Gesundheit? Welche Nährstoffe braucht der Körper, um große physische Belastung auszuhalten? Um Fragen wie diese zu beantworten, entwickelten die Wissenschaftler eine Reihe ausgefallener Versuchsanordnungen.


Die ultimative Bodybuilding-Formel

So erforschten sie die Staub filternden Eigenschaften der menschlichen Nase und bliesen Testpersonen zu diesem Zweck Staub ins Riechorgan. Dabei fanden sie einen Zusammenhang zwischen Staubbindung in der Nase und der Silikose (Staublunge): "Es ergibt sich, daß bei Bergleuten mit schlecht filternden Nasen silikotische Veränderungen eher auftreten und schwerere Grade erreichen als bei Bergleuten mit gut filternden Nasen (...)"

In einem anderen Versuch steckten die Forscher einen Probanden in eine Klimakammer und ließen ihn im Dienst der Wissenschaft Fahrrad fahren - diesmal mehrere Stunden lang bei Temperaturen bis zu 46 Grad Celsius, mit und ohne Getränk. Gewissenhaft sammelte man den abgegebenen Schweiß, um die darin enthaltene Chlormenge zu bestimmen. Vor und nach dem Experiment stellten die Forscher den jungen Mann auf die Waage, um die abgegebene Schweißmenge zu ermitteln. Auf diese Weise wollten sie herausfinden, wie sich Schwerarbeit unter Hitze auf den Mineralstoffwechsel und die Leistungsfähigkeit des Körpers auswirkt.

Dagegen erschienen die Experimente, die Erich Albert Müller als Abteilungsleiter am Dortmunder Institut einführte, als vergleichsweise trockene Muskelarbeit. Er entdeckte die ultimative Bodybuilding-Formel zusammen mit seinem Kollegen Theodor Hettinger in den 1950er-Jahren - das Kaiser-Wilhelm-Institut hieß inzwischen Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie. Die beiden untersuchten die Zusammenhänge zwischen Trainingsreiz und Muskelkraft bei untrainierten Testpersonen beiderlei Geschlechts: "Wir fanden, daß Kontraktionen mit weniger als etwa 1/3 der Maximalkraft den Muskel nicht trainieren. Überschreitet die Kontraktion eines Muskels 1/3 der Maximalkraft, so wächst seine Masse und damit auch seine Kraft", schrieb Müller.

Das Überraschende dabei: Die Kraft wuchs schon dann mit maximaler Geschwindigkeit, wenn der Muskel nur mit halber Maximalkraft kontrahiert wurde. Außerdem reichte schon eine einzige Kontraktion von nur einer Sekunde Dauer am Tag aus, um den größtmöglichen Kraftzuwachs zu erzielen. Wenngleich diese Werte später korrigiert wurden - heute geht man davon aus, dass der Muskel im Idealfall etwa fünf Mal am Tag für jeweils fünf Sekunden mit 70 Prozent der Maximalkraft kontrahiert werden sollte -, so gelten die Grundprinzipien noch immer: Um beim Krafttraining mit minimalem Aufwand eine maximale Wirkung zu erzielen, gilt es, Intensität, Dauer und Häufigkeit der Belastung richtig zu dosieren.

Doch nicht nur die Industriearbeit interessierte die Forscher: Eine Arbeitsgruppe widmete sich dem Energieverbrauch beim häufigsten aller Berufe - der Hausfrauenarbeit. Für ihre Studie statteten die Wissenschaftler drei Dortmunder Hausfrauen mit Gesichtsmasken und Respirations-Gasuhren aus und beobachteten sie bei ihren täglichen Verrichtungen. Akribisch listeten sie alles auf, ob Strümpfe stopfen, Butterbrot schmieren, Wäsche mangeln oder Fußboden bohnern. Aus dem Sauerstoffverbrauch errechneten sie den Energieaufwand und gaben Empfehlungen, wie die Hausarbeit rationeller gestaltet werden könnte - etwa durch die "allgemeine Einführung zeit- und caloriensparender Haushaltsmaschinen".

Neben dem Haushalt bot die Landwirtschaft ein weiteres Forschungsfeld - speziell die Frage, wie sich das Gehen auf verschiedenen Ackerböden auf den Energiebedarf des Landarbeiters auswirkt. Nicht minder spannend schien den Wissenschaftlern die Suche nach der arbeitsphysiologisch günstigsten Korbform beim Kartoffellegen. Das Ergebnis: Beim Gang über einen stoppeligen Acker oder in der Kartoffelfurche verbrennt der Arbeiter 70 Prozent mehr Kalorien als auf glattem Boden. Und: Nierenförmige Körbe mit Tragegurt eignen sich besser als ovale mit Griff, weil sie sich besser der Körperoberfläche anlegen und die statische Haltearbeit verringern.

Erich Albert Müller ging 1966 in Ruhestand und ließ sich in Freiburg nieder, forschte jedoch mit ungebrochenem Elan weiter. In seinem selbst gebauten Labor tüftelte er an der Verbesserung von Ergometern und führte seine Studien zum Muskeltraining fort. Als er 1977 starb, hinterließ er mehr als 300 wissenschaftliche Publikationen, darunter wichtige Grundlagen für die Ergonomie.

Bekannt wurde Müller vor allem mit seiner Definition eines Leistungspulsindex, der angibt, wo die individuelle Grenze der Dauerleistungsfähigkeit liegt. Diese Puls-Dauerleistungsgrenze inspirierte den renommierten Sportmediziner Wildor Hollmann, analog dazu 1959 eine Sauerstoff-Dauerleistungsgrenze und somit die Laktatmessung einzuführen - heute sowohl im Leistungssport als auch für viele Freizeitsportler beim Training unverzichtbar.

Sein technisches Geschick hatte Müller nicht nur darauf beschränkt, nützliche Dinge wie Ergometer, Pulszählgerät und Respirations-Gasuhr weiterzuentwickeln - schon früher, noch zu Dortmunder Zeiten, hatte er mit einer gleichermaßen originellen wie ausgeklügelten Technik so manchem seiner Mitmenschen einen unvergesslichen Empfang bereitet: Klingelte der Besucher an der Haustür, öffnete sich diese wie von Geisterhand und eine bewegliche Treppenstufe beförderte den erstaunten Gast automatisch durch die Tür.

Grundsätzlich jedoch plädierte der Hausherr fürs Treppensteigen: "Um den Körper als Energiemaschine auf normaler Leistungshöhe zu erhalten, genügen die eigenen vier Wände (...) Um Herz und Kreislauf leistungsfähig zu erhalten, ist es allerdings zusätzlich nötig, alle zwei bis drei Tage zehn Sekunden lang so schnell wie möglich eine Treppe heraufzulaufen."


*


Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2009, Seite 96-97
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München
Tel. 089/2108-1562, Fax 089/2108-1405
E-Mail: mpf@gv.mpg.de
Das Heft als PDF: www.magazin-dt.mpg.de

Das Heft erscheint in deutscher und englischer Sprache
(MaxPlanckResearch) jeweils mit vier Ausgaben pro Jahr.
Der Bezug des Wissenschaftsmagazins ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2010