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GESCHICHTE/534: Mittelalter - Die Flucht vor dem Todkranken (epoc)


epoc 4/11
Das Magazin für Archäologie und Geschichte

Mittelalter
Die Flucht vor dem Todkranken

Von Daniel Schäfer


Angesichts miserabler Lebensumstände war der Tod im Mittelalter allgegenwärtig. Doch kaum ein Arzt wusste, wie er mit Sterbenden umgehen sollte. Wer ihnen dennoch beistand, konnte schnell der Habgier verdächtigt werden.


AUF EINEN BLICK

Hilflos im Angesicht des Todes

1. Im Mittelalter war eine medizinische Weiterbehandlung Sterbender umstritten.

2. Die meisten Ärzte sorgten sich sogar um ihren Ruf, wenn sie Todkranke therapierten.

3. Angesichts ihrer Machtlosigkeit überließen sie den Platz am Sterbebett lieber dem Geistlichen - dem »Arzt der Seele«.


»Am 15. Tag des August rieben am Morgen einige der Asklepiosjünger den Kopf des Autokrators mit allen möglichen Dingen ein, die sie für richtig hielten, dann gingen sie nach Hause, nicht grundlos und auch nicht wegen irgendeines dringenden Geschäftes, sondern weil sie die unmittelbar drohende Gefahr für den Autokrator erkannt hatten. Die Kaiserin wusste nicht, wie sie den brennenden Schmerz in ihrem Herzen ertragen konnte. Die Vertreter der ärztlichen Kunst aber fanden sich wieder ein, und nachdem sie eine kurze Weile gewartet hatten, betasteten sie das kaiserliche Handgelenk und fühlten, dass die Pulsschläge der Arterie immer schwächer wurden; trotzdem spielten sie die Situation herunter und machten uns sogar gegen jeden Augenschein Hoffnung auf Besserung. Dies taten sie mit einer gewissen fürsorglichen Absicht, da sie wussten, dass zugleich mit dem Hinscheiden des Basileus auch die Basilis (die Kaiserin, die Red.) ihre Seele aushauchen würde. Ich aber legte erneut die Rechte an sein Handgelenk und prüfte die Bewegung des Pulses, und sooft die Kaiserin ihre Hände zum Kopf führte, um sich das Diadem herunterzureißen (denn so wie es stand, musste sie auch ihre kaiserliche Kleidung ablegen), ebenso oft hinderte ich sie daran, da ich Kraft in den Pulsen spürte. Als ich aber noch einmal sein Handgelenk erfasst und erkannt hatte, dass alle Kraft allmählich dahinschwand und jetzt das Blut in den Arterien aufgehört hatte zu pulsieren, senkte ich den Kopf.«

Dieser Bericht der Kaisertochter Anna Komnena über den Tod ihres Vaters Alexios I. im Jahr 1118 ist bemerkenswert. Zum einen schließt die damals 34-Jährige damit ihr großes Geschichtswerk über das Byzanz der vorausgehenden 50 Jahre ab, in denen unter anderem auch die ersten Kreuzfahrer die Stadt am Goldenen Horn erreichten. Zum anderen enthält die ausführliche Darstellung von Krankheit und Sterben des Kaisers viele Details, die einiges über die medizinischen Kenntnisse der Biografin verraten. Dabei kommen die behandelnden Ärzte, deren Namen wir teilweise kennen, ziemlich schlecht weg. Anna war davon überzeugt, dass deren therapeutische Bemühungen - Aderlass, Brenneisen, Pfeffertrank und Einsalbungen - deshalb erfolglos blieben, weil sie für die Symptome schlichtweg falsch waren.

Ärzte im Sinn von Buchgelehrten lassen sich im Europa des frühen Mittelalters selten nachweisen - im Gegensatz zur islamischen Welt: Von dort stammte ein größerer Teil des medizinischen Wissens der Antike. Erst im späten 10. Jahrhundert entstand im süditalienischen Salerno eine zentrale medizinische Ausbildungsstätte - ab 1200 wurden auch an bereits bestehenden Universitäten entsprechende Fakultäten gegründet, an denen die Studenten allerdings über lange Zeit nur theoretisches Wissen erlernten.

Praktische Ärzte, oft Juden, waren im Okzident meist im Umfeld von Herrscherhäusern und Klöstern tätig - selten hingegen in Hospitälern: Diese Form medizinischer Versorgung fand sich hauptsächlich bei den Ritterorden der Kreuzfahrer nach Vorbildern aus dem byzantinischen und islamischen Kulturkreis, wo sich Urformen des heutigen Krankenhauses entwickelten. Im hohen Mittelalter gab es außerdem - erstmals seit der Antike - auch wieder Ärzte, die im Sold der Städte standen. Neben den akademisch Ausgebildeten existierte in jener Zeit zudem ein breites Spektrum weiterer Heilberufe: Bader, Scherer, Steinschneider und Hebammen.

Ausführliche Berichte über den nahenden Tod sind in Quellen aus dem frühen und hohen Mittelalter schwer zu finden. Die Sicht der Patienten ist nahezu unbekannt, vom massenhaften Sterben der Säuglinge und Kleinkinder gibt es gar keine Zeugnisse. Eine wichtige Ausnahme bilden die Legenden über das Leben der Heiligen, denn die ausführliche Darstellung ihres irdischen Endes spielte bei der späteren Heiligsprechung eine herausragende Rolle. Allerdings erscheinen Ärzte in diesen hochstilisierten Texten so gut wie nicht; ebenso wenig wie in den fiktionalen und historiografischen Inszenierungen des kriegerischen Tods. Dagegen wird immer wieder das Ableben im klösterlichen Umfeld thematisiert, etwa das Lebensende des Mönchs Wetti von der Reichenau im Jahr 824, das sein Schüler Walahfrid Strabo aufzeichnete. Im späten Mittelalter mehrten sich - unter dem Eindruck der Seuchen - in erster Linie Schilderungen kollektiven Sterbens. So finden sich beispielsweise in Stadtchroniken oder in literarischen Werken wie Giovanni Boccaccios »Decamerone« aus der Zeit um 1350 erschütternde Zeugnisse über den plötzlichen Tod, aber auch die sozialen Veränderungen durch das massenhafte Sterben.


Was tun, wenn die letzte Stunde schlägt?

Dass Anna Komnena in ihrem eingangs zitierten Bericht den Rückzug der »Asklepiosjünger« kurz vor dem Tod ohne Widerspruch hinnimmt, hat seinen Grund: Das nach heutigem ärztlichem Ethos Undenkbare war seinerzeit üblich und akzeptiert. Tatsächlich hatten Ärzte im Mittelalter eine wesentlich größere Distanz zum Lebensende als ihre heutigen Nachfolger - obwohl sie ständig damit konfrontiert waren und von Zeitgenossen nicht selten als Helfershelfer des Tods gesehen wurden. Wenn es ans Sterben ging, dann war laut einem spätmittelalterlichen Kodex zum ärztlichen Selbstverständnis - den »Zehn Fragen über den Ärztestand« (»Decem quaestiones de medicorum statu«) - eine Weiterbehandlung prognostisch ungünstiger Fälle umstritten. Einigen Ärzten galt sie als unethisch: Sie befürchteten nämlich, damit in den Verdacht der Habgier zu geraten, wenn sie bis zum Lebensende ihrer Patienten Honorare erhielten. Zudem war die Position des freiberuflich tätigen Arztes gefährdet. Das Sterben eines Patienten wurde, wie der Bericht Anna Komnenas beispielhaft zeigt, leicht mit einer falschen Therapie in Verbindung gebracht. Dies konnte nicht nur der eigenen Reputation sowie der von Kollegen schaden, sondern den Heilkundigen in Bedrängnis, ja in Lebensgefahr bringen. So wie im Fall von Gabriele Zerbi: Der berühmte Professor aus Padua wurde im Jahr 1504 an den Hof des türkischen Sultans gerufen, um diesen wegen einer akuten Erkrankung zu behandeln. Nach ersten Erfolgen reiste Zerbi reich belohnt wieder in Richtung Venedig, wurde aber, nachdem der Herrscher doch noch gestorben war, unterwegs aufgegriffen, gemeinsam mit seinem Sohn zwischen zwei Holzbretter gespannt - und zersägt.

Auch wenn dieser Bericht vermutlich ein Stück antitürkische Gräuelpropaganda war und somit nicht ganz der Wahrheit entspricht, so zeigt er doch - gemeinsam mit anderen Beispielen - die persönlichen Gefahren bei der Behandlung schwer Kranker. Deshalb riet der praktisch tätige Gelehrte Bernard de Gordon um 1300 seinen Kollegen, sich ohne Verabschiedung von den Angehörigen zu entfernen, sobald ein Patient zu sterben drohte. Aus heutiger Sicht scheint dies auch angesichts der therapeutischen Machtlosigkeit der vormodernen Heilkunde, die bei lebensgefährlichen Erkrankungen besonders deutlich wurde, nachvollziehbar.

Nicht nur die Angst, der Unfähigkeit oder Habgier beschuldigt zu werden, trieb manche spätmittelalterliche Ärzte um, sondern auch die Sorge, wegen eines Sterbenden das eigene Leben zu riskieren: Schließlich benötigten ja noch andere Patienten ihre Hilfe! Insbesondere in Zeiten, in denen Seuchen ganze Landstriche dahinrafften, handelten viele Ärzte nach dem Hippokrates oder Galen zugeschriebenen Motto: Fuge cito, longe, tarde - »Fliehe rasch, weit weg, und komme spät zurück«.

Doch ernteten die Mediziner auch Kritik. Guy de Chauliac etwa, der als Leibarzt von Papst Clemens VI. trotz der großen Pest von 1348 in Avignon verharrte, warf den Kollegen vor, die Patienten im Stich gelassen zu haben. Und sogar der bereits erwähnte Bernard de Gordon rief dazu auf, selbst in scheinbar hoffnungslosen Fällen die Herausforderung einer schweren Krankheit anzunehmen; so könne sich ein Arzt nämlich auszeichnen und seine besondere Fähigkeit unter Beweis stellen.

Theologen wie der Italiener Johannes von Capestrano verwiesen zudem auf das Gebot der Nächstenliebe; die erwähnten »Decem quaestiones de medicorum statu« befürworteten ebenfalls eine Weiterbehandlung, betonten allerdings, dass zuvor die Patienten und deren Angehörige über die schlechte Prognose unterrichtet werden müssten. Wichtig sei auch der rechtzeitige Empfang der Sakramente. In jedem Fall - Abbruch der Therapie oder Weiterbehandlung - war die Voraussage des Todes ein entscheidender Schritt; diesem Wissen waren ethische Überlegungen wie die heutige Sorge, den Patienten damit womöglich zu schaden, nachgeordnet. Der Prognose ist in medizinischen Texten viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet als etwa der Feststellung oder Beschreibung des Todes, mit der Ärzte im Mittelalter fast nichts zu tun hatten.

Schon in der Antike spielt der nahende Tod eine bedeutende Rolle: Die berühmte »Facies Hippocratica«, die Beschreibung des Gesichts eines Sterbenden aus der Schrift »Prognostikon« des Hippokrates (siehe Kasten unten), war nur eines von vielen »Todeszeichen«, mit deren Hilfe Ärzte - häufig mit einem Blick - die Situation einschätzen und entsprechende Konsequenzen ziehen konnten. Im Hoch- und Spätmittelalter griffen Heilkundige dieses Wissen begierig auf und erweiterten es beträchtlich - oft um spekulative Methoden und Tests, die die per se stets unsichere Prognose »sicher« machen sollten.


Facies Hippocratica

»Zuerst beobachte man das Gesicht des Kranken, ob es so wie bei Gesunden ist, besonders ob es so wie sonst aussieht, denn in diesem Fall stünde es am besten; ist es aber ganz gegenteiliger Art wie sonst, dann steht es am schlimmsten. Das wäre folgender Fall: Spitze Nase, tief liegende Augen, eingesunkene Schläfen, kalte und geschrumpfte Ohren, zurückgebogene Ohrläppchen, spröde, gespannte und trockene Gesichtshaut, gelbe oder dunkle, bläuliche oder bleierne Farbe des ganzen Gesichts.«

Hippokrates, »Prognostikon« (um 400 v. Chr.)


Auch solche Vorhersagen werden oft dem »Meister der Prognose«, dem griechischen Arzt Hippokrates, zugeschrieben. So habe er beispielsweise eine bestimmte Reihe von Vorboten des Todes, die in erster Linie auf Hautzeichen beruhen, als Geheimwissen in einer elfen beinernen Kapsel - der Capsula eburnea - mit ins Grab genommen (siehe Kasten unten). Die Verbreitung derlei an Wahrsagerei grenzende Lehren war enorm. Die große Zahl volkssprachlicher Übersetzungen solcher pseudohippokratischen Werke lässt vermuten, dass besonders nichtakademische Heiler und medizinische Laien nach dieser »Sicherheit« der Vorhersage strebten. Genauso wie die schwer kranken Patienten übrigens auch. Denn sie konnten nun rechtzeitig für das Jenseits vorsorgen und mussten die Schrecken erregende Unsicherheit der Todesstunde - mors certa, hora incerta - nicht länger ertragen.


Spekulative Todesprognosen der »Capsula eburnea«

»Diese Lehre fand man im Grab des Hippokrates, der sie so schätzte, dass sie niemand nach ihm wissen sollte; es ist eine Kunst, wie man erkennen soll, an welchem Tag ein Kranker sterben soll.
Wenn ein Kranker eine Blatter (Pustel) im Gesicht bekommt, die bei einer Ader gelegen ist, und er seine linke Hand auf seine Brust legt, so sollst du wissen, dass dieser Mensch in 19 Tagen stirbt.
Entsteht eine Blatter an dem Knie, die schwarz ist, so wisse, dass der Mensch am gleichen Tag stirbt, wenn die Krankheit mit Schweiß begonnen hat.«

Ortolf von Baierland, »Arzneibuch« (um 1280)


Falls mittelalterliche »Ärzte des Leibs« solche empirischen oder spekulativen »Todeszeichen« erkannten, war es für sie im Allgemeinen an der Zeit, ihren Platz am Krankenbett anderen zu überlassen, den »Ärzten der Seele«, wie Bertold von Regensburg im 13. Jahrhundert die Priester nannte. Ihm oblag die rituelle Begleitung des Sterbenden, die Tröstung der Angehörigen sowie schließlich die Leitung der Bestattung. Erst im 17. Jahrhundert definierte der berühmte englische Philosoph Francis Bacon die Hinführung zu einem guten Tod - euthanasia exterior - als Aufgabe der Ärzte, die seit der Aufklärung allmählich die Geistlichen vom Sterbebett verdrängten.

Dennoch gab es auch schon im Mittelalter vereinzelt Ärzte, die den zuletzt genannten Rat Bernards de Gordon beherzigten und Todkranke behandelten. Dies traf vor allem in medizinischen Notfällen zu, etwa bei plötzlicher Bewusstlosigkeit, bei der die herkömmlichen »Todeszeichen« versagten. In solchen Fällen, etwa bei einem »Schlaganfall« - apoplexia -, waren es eher »Lebensproben«, die der Fachvertreter Bernard seinen Kollegen empfahl, um über den Beginn einer Therapie zu entscheiden: »Wenn du zu einem Patienten gerufen wirst und findest ihn ohne Gefühl und Bewegung und wie jemanden, der in schwerem, tiefem Schlaf schlummert, und wenn der Patient schnarcht, dann rufe ihn mit lauter Stimme bei seinem Namen und ziehe ihn an den Haaren und kreuze seine Finger und ziehe sie fest zusammen und steche ihn mit einer Nadel oder einem Griffel. Wenn er darauf in keiner Weise reagiert, handelt es sich um einen apoplecticus. Manchmal gibt es wegen des Fehlens von Gefühl, Bewegung, Atem und auch Puls großen Zweifel, ob der Patient tot oder lebendig ist. Dann sollen alle Öffnungen des Hauses geschlossen und ihm eine sorgfältig geformte Blüte aus Wolle auf den Mund gelegt werden. Und wenn die Wollfäden bewegt werden, lebt er zweifellos noch, und wenn sie überhaupt nicht bewegt werden, ist er tot. Wenn aber ein mit Wasser gefüllter seyphus (ein Gefäß, die Red.) genommen und ihm auf die Brust gestellt wird und dann allen im Haus befohlen wird, dass sie sitzen und ruhig sind, und wenn das Haus in der Einsamkeit liegt, dann sollen wir das Wasser in den Gefäßen sorgfältig beobachten, und wenn es in keiner Weise bewegt wird, ist der Patient ohne Zweifel tot. Wenn es aber bewegt wird, dann muss man davon ausgehen, dass er noch lebt.«

In Zeiten ohne EKG und andere technische Diagnostik konnte man auf diese Art und Weise rasch einen Scheintod feststellen. Zur Sicherheit galt es noch, den Rat des berühmten islamischen Arztes Avicenna zu beherzigen und mit der Bestattung 72 Stunden zu warten.


Scheintod der Liebe wegen

Einen Widerhall finden solche Hinweise der Buchmedizin in fiktionalen Schilderungen. Chrétien de Troyes etwa baut in seinen um 1176 entstandenen Artusroman »Cligès« kritische Anmerkungen zum Verhalten der Ärzte in einer Situation auf Leben und Tod ein: Um der Ehe mit dem »griechischen König« - dem Kaiser von Byzanz - zu entrinnen und zu ihrem Geliebten Cligès zu gelangen, wird Fénice durch einen Trank ihrer heilkundigen Amme in einen scheintodähnlichen Zustand versetzt. Doch Ärzte aus der schon erwähnten medizinischen Hochburg Salerno melden sich bei dem Herrscher. Obwohl im Harn der Kranken »Todeszeichen« zu erkennen sind, schöpfen sie auf Grund ihres Buchwissens Verdacht und verwetten ihr Leben, dass Fénice den Kaiser täuscht. Und tatsächlich: Bei einer körperlichen Untersuchung meinen sie anhand von Bewegungen ihres Brustkorbs festzustellen, dass sie lebt. Mit drohenden Anreden und zunehmend grausamen Mitteln versuchen sie nun, die Scheintote zu Bewusstsein zu bringen. Doch die Amme bemerkt rechtzeitig das Tun der Standesvertreter; daraufhin werden sie, die kurz vor einem Totschlag, aber auch der Entdeckung der Wahrheit stehen, aus dem Fenster geworfen. Fénice wird bestattet und kann nach ihrem Erwachen und ihrer Heilung mit dem Geliebten noch eine Zeit lang in ihrem turmartigen Grabmal leben.

Während im höfischen Roman ehrgeizige Ärzte durch ihren Kampf gegen den Scheintod beinahe der Liebe in die Quere kommen, wird ihnen in den spätmittelalterlichen Totentänzen, in denen sie regelmäßig in Erscheinung treten, nicht viel zugetraut: Da »gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist« - contra vim mortis nulla herba in hortis -, sind auch Ärzte gegen ihn machtlos; nicht einmal seine Nähe erkennen sie, wie im »Todtentanz-Alphabet« Hans Holbeins des Jüngeren von 1524 deutlich wird: Auf einem dieser Holzschnitte lässt er den Tod das Harnglas halten. Während der Heilkundige vielleicht noch nach »Todeszeichen« im Urin mit Hilfe des schwachen Lichts der Kerze sucht, ist der drohende Tod bereits gegenwärtig.

Darüber hinaus wirft ein anonymer Dichter im »Oberdeutschen Totentanz« den Ärzten vor: »Ir hant gekurtzet manchem syn leben.« Ärzte, von dem mittelalterlichen Theologen Johannes von Salisbury als »Leute, die Menschen berufsmäßig töten« bezeichnet, waren häufig Ziel intellektueller Polemik. Ihre Hilflosigkeit und Unfähigkeit wurde angeprangert.

Arzt und Tod, das zeigt diese Zusammenschau, standen im Mittelalter in einem besonderen Spannungsfeld, das sich im zeitgenössischen Kontext gut verstehen lässt: der gefährdeten beruflichen Situation, der therapeutischen Hilflosigkeit und der religiösen Sinngebung von Diesseits und Jenseits, die den Geistlichen den Platz am Sterbebett zuwies. Nur ausnahmsweise, wenn es um Notfälle oder fraglichen Scheintod ging oder wenn besonderes Engagement oder Ehrgeiz sie dazu bewog, ließen sich Ärzte, die immer wieder als Totschläger verunglimpft wurden, auf eine Untersuchung und Behandlung von schwer Kranken und Sterbenden ein. Diese Haltung gilt im Grunde auch für ihre Konfrontation mit Leichen: Sie beginnt im Spätmittelalter anlässlich sporadisch durchgeführter anatomischer Sektionen, führt aber erst in der Renaissance die gesamte Medizin an eine neue, empirische Sichtweise des Menschen heran.

Auch wenn die Ärzte seit der Neuzeit näher ans Sterbebett ihrer Patienten rücken, bleibt bis heute eine professionelle Distanz zum Tod bestehen; sie lässt sich aus ihrem ständigen Kampf gegen ihn erklären und kann auch von der gegenwärtigen Palliativmedizin nur schwer überwunden werden.


Daniel Schäfer studierte Medizin und Germanistik und lehrt am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln.


WEBTIPP

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie unter: www.spektrum.de/artikel/1070978


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 39:
In den mittelalterlichen Totentänzen führt der musizierende und tanzende Tod Menschen aller Stände vor das Jüngste Gericht. Diese Illustration von Heinrich Knoblochtzer aus dem 15. Jahrhundert zeigt, wie der Tod auch vor einem Arzt nicht Halt macht.

Abb. S. 41:
In dem »Todtentanz-Alphabet« von Hans Holbein dem Jüngeren aus dem Jahr 1524 steht der Buchstabe M für den Medicus: Währen der Heilkundige im Harnglas vielleicht noch nach »Todeszeichen« eines Patienten sucht, steht der Tod bereits hinter ihm.

Abb. S. 43:
Um 1345 veröffentlichte der italienische Arzt Guido da Vigevano eine frühe Anleitung zur Sektion für angehende Mediziner.


© 2011 Daniel Schäfer, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 4/11, Seite 38 - 43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2011