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GESCHICHTE/594: Ärzte in der NS-Zeit - "Hier stehe ich, ... ich folge Adolf Hitler!" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2015

Ärzte in der NS-Zeit
"Hier stehe ich, [...] ich folge Adolf Hitler!"
Der "alte Kämpfer" Hanns Löhr an der Spitze der Medizinischen Fakultät Kiel 1935 bis 1941.

Von Karl-Werner Ratschko


War es in der ersten Zeit nationalsozialistischer Machtergreifung der Kieler Medizinischen Fakultät noch gelungen, durch Umorientierung und Neubesetzung der Position des Dekans mit Hermann Dold und Robert Schröder Nationalsozialisten zu finden, denen Hochschule und Wissenschaft wichtiger als nationalsozialistische Ideologie waren, so spitzten sich die Verhältnisse im Verlauf des Jahres 1934 zu Ungunsten der Fakultät deutlich zu. Die Hochschulkommission der NSDAP in München hatte in ihrer Sitzung am 14. Januar 1934 im Beisein des "Stellvertreters des Führers" Rudolf Heß die Entsendung eines "Vertrauensmannes der Reichsleitung der NSDAP" an jede Medizinische Fakultät beschlossen. Am 18. Januar wurde bereits vom "Reichsärzteführer" Gerhard Wagner der Kieler a.o. Professor "Pg. Prof. Dr. Specht" als "der derzeitige Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP bei der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel" benannt. In dem Schreiben hieß es weiter: "Ich ersuche Sie, den genannten Vertrauensmann der Partei zu allen Sitzungen der Medizinischen Fakultät, des Senats und allen zu Sonderzwecken eingesetzten Kommissionen der Fakultät und des Senats (Berufungsauschuß usw.) zuzuziehen und sich auch sonst persönlich bei allen wichtigen Angelegenheiten, vor allem solchen hochschulpolitischer Art, mit ihm in Verbindung zu setzen."(1) Mit der Schaffung der Position eines "Aufpassers" der Partei sollten die strukturellen Defizite, die die NSDAP im Bereich der Medizinprofessoren hatte und die die Übergriffe der Partei in den Medizinischen Fakultäten behinderten, unterbunden werden. Mit diesem Vorgehen war die Kieler Hochschule und mit ihr die Medizinische Fakultät jedoch nicht einverstanden. Direkter Widerstand schien nicht ratsam. Ein Formfehler des Schreibens versetzte Rektor Lothar Wolf in die Lage, dieses Ansinnen zunächst dem Berliner Erziehungsministerium zur Entscheidung vorzulegen.(2) Auch das Ministerium sah die Übergriffe der NS-Hochschulkommission mit Unbehagen und bearbeitete die Anfrage hinhaltend. Letztlich wurde aber beschlossen, Fritz Specht als Gast bei den Sitzungen zuzulassen. In der Sitzung der Fakultät im Mai 1934 wurde er als "Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP bei der Medizinischen Fakultät" begrüßt. Der 43-jährige Fritz Specht war ab 1920 in der Kieler Hals-Nasen-Ohren-Klinik als Assistenz- und Oberarzt tätig gewesen, hatte sich 1925 habilitiert und war 1930 nicht beamteter außerordentlicher Professor geworden. Im selben Jahr musste er sich 40-jährig in der Feldstraße in Kiel als praktizierender Hals-Nasen-Ohren-Arzt niederlassen, da es an der Kieler Universität keine Stelle mehr für ihn gab. 1932 war er aus Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in die NSDAP eingetreten und politisch aktiv geworden. Bei den Kieler Kommunalwahlen wurde er am 12. März 1933 auf der Liste der NSDAP zum Stadtvertreter gewählt. Dekan Robert Schröder war nicht bereit, gegen die Bestimmungen der Universitätssatzung einen Parteivertreter der NSDAP in den Fakultätssitzungen zuzulassen und zog daraus im Einvernehmen mit dem Rektor der Universität die Konsequenzen. Statt der üblicherweise etwa acht fanden 1934 nur zwei Fakultätsausschusssitzungen statt, die letzte im Mai. Mit der durch Alfred Schittenhelm ermöglichten Berufung von Hanns Löhr zum 1. August 1934 als Direktor der Klinik für Innere Medizin änderten sich jedoch die Verhältnisse zugunsten der NSDAP. Die NS-Hochschulkommission hatte jetzt nicht nur einen ideologisch sattelfesten Nationalsozialisten in der Fakultät, sondern auch einen in der NSDAP stark vernetzten willensstarken Entscheidungsträger.

Hanns Löhr, Person und Werdegang

Löhr starb am 4. Oktober 1941.(3) Bei der Totenfeier einige Tage nach Löhrs Tod am 9. Oktober äußerte sich der mittlerweile in Berlin zum Ministerialdirigenten und stellvertretenden Amtschef im Reichserziehungsministerium aufgestiegene ehemalige Rektor der Universität, Löhrs Freund und Vertrauter Paul Ritterbusch, in seiner Totenrede erstaunlich offen auch über die menschlichen Schattenseiten seines Freundes Hanns Löhr. Ritterbusch beschreibt die Persönlichkeit von Hanns Löhr als die eines fröhlichen und derben wissenschaftlichen Landsknechts, von vollsaftigem Wesen und voller Verachtung für die geistreichen Intellektuellen, als Genossen manch froher Männerrunde, jähzornig und explosiv, ein reicher Verschwender seiner unerschöpflichen Energie, freilich eine Kämpfernatur in unzulänglicher Hülle(4) - "kein Bürger im Sinne des Spießers, kein Normaltypus, kein Dutzendmensch".(5) Anschließend würdigte Duzfreund Gauleiter Hinrich Lohse die "nationalsozialistischen und weltanschaulichen" Verdienste des Verstorbenen. Wörtlich führte er u.a. aus: "Du hast dich damals bekannt und erklärt: Hier stehe ich, der Chefarzt Hanns Löhr, ich bin Nationalsozialist, ich folge Adolf Hitler. Du erklärtest es nicht nur mit Worten, du hast es sofort durch die Tat bewiesen."(6)

Johannes (Hanns) Löhr wurde am 10. September 1891 als Sohn des Superintendenten Wilhelm Löhr in Hohensolms (Kreis Wetzlar) geboren. 1911 begann Löhr mit seinem Medizinstudium in Gießen und setzte es dann in Bonn und Kiel fort. Vom 2. August 1914 bis zu seiner Verwundung am 25. März 1918 hatte er als nicht approbierter Feldhilfsarzt und Bataillonsarzt bei verschiedenen Infanterie-Regimentern gedient, 1918 wurde er Mitglied eines Freikorps, der Brigade Löwenfeld.(7) Seit dem 28. September 1919 war er Volontärassistent, ab 1. Mai 1920 nach seiner Promotion(8) bei Schittenhelm planmäßiger Assistent an der Medizinischen Universitätsklinik Kiel. Die Habilitation erfolgte 1925.(9) Von 1925 bis 1934 war Hanns Löhr Chefarzt der Inneren Abteilung des Krankenhauses Gilead, eines Teils der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld. Dorthin hatte ihn sein Chef aus dem 1. Weltkrieg, Richard Wilmanns, geholt, der als Chirurg das Krankenhaus leitete.

Spätestens seit 1931, ziemlich wahrscheinlich schon früher, betätigte Löhr sich politisch. Sein verhältnismäßig früher Eintritt in die NSDAP am 1. März 1931 hatte zur Folge, dass er vom 1. Oktober 1931 bis zu seinem Wechsel nach Kiel NSDAP-Kreisleiter für den Landkreis Bielefeld, Stellvertreter des Landrats, Mitglied des Kreisausschusses, 1. Kreisdeputierter sowie Mitglied des Provinziallandtages Westfalen war.(10) Schon seit dem 15. Februar 1931 war er SA-Standartenarzt und seit dem 1. Juli 1932 bis zu seinem Wechsel nach Kiel als SA-Sanitäts-Gruppenführer Gruppenarzt der SA Westfalen,(11) kurz gesagt: Er hatte sich mit Haut und Haar der NSDAP verschrieben.(12) Dazu kam dann noch die Aufgabe des Bezirksobmanns des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB). So verwundert es nicht, dass Löhr sich massiv und mit Erfolg als nationalsozialistischer Amtsinhaber in die Besetzung von Arztstellen der Anstalt Bethel einmischte. Er nahm erfolgreich Einfluss auf die Beschäftigung von Ärzten. In einem Fall verhinderte er die Einstellung eines Arztes mit einem jüdischen Großvater, obwohl dieser Sachverhalt nicht einmal unter die Bestimmungen des "Arierparagraphen" der Nationalsozialisten fiel, in einem anderen Fall musste Bethel unter dem Druck Löhrs einen Arzt entlassen.(13) Im "Kirchenkampf" zwischen Angehörigen der Bekennenden Kirche und den nationalsozialistischen Deutschen Christen(14) stand Löhr in Bielefeld im Brennpunkt der kirchlichen Auseinandersetzung.(15) Trotz seiner Stellung in der Klinik Gilead setzte sich Löhr aktiv für die Deutschen Christen ein.(16) Dass Löhr als Chefarzt des Gilead-Krankenhauses mit dem Erreichten offensichtlich nicht zufrieden war, zeigen die Ereignisse, die zum tragischen Schicksal des Münsteraner Direktors der Medizinischen Universitätsklinik, Paul Krause, führten. Als Gegner der "Neuen Deutschen Heilkunde" griff dieser das Eintreten Gerhard Wagners für den Entwurf eines Heilpraktikergesetzes im Deutschen Ärzteblatt an und geriet in das Visier des späteren Reichsärzteführers. Wagner verlangte wegen Hetze in übelster Weise Krauses Absetzung.(17) Krause erschoss sich am 7. Mai 1934 in Bad Ems.(18) Die Verzweiflungstat Krauses hatte erhebliche Folgen für die Beteiligten: Der Gauleiter des Gaus Westfalen-Nord hielt eine Nachfolge Krauses durch Löhr wegen seiner indirekten Verwicklung in die Intrigen für untragbar und sprach sich für die Annahme des noch gar nicht erfolgten Rufs nach Kiel aus.(19)

Über die wenig überzeugenden wissenschaftlichen Leistungen Löhrs vor seiner Berufung nach Kiel gibt die Stellungnahme der Kieler Fakultät zu Löhr im Rahmen des Berufungsverfahrens zur Nachfolge Schittenhelms deutliche Hinweise. Dabei muss diese Quelle im Lichte der Umstände gelesen werden: Die Fakultät wollte Löhr als Nachfolger Schittenhelms nicht, konnte diese Tatsache aber nur behutsam zum Ausdruck bringen, da Löhr Favorit des "Braunen Hauses" in München war und Dekan Robert Schröder als nationalsozialistischer Dekan im Prinzip verpflichtet gewesen wäre, den Parteigenossen zu unterstützen. Zu seiner Person heißt es dort: "Herr Löhr war bei den Kollegen, die ihn hier noch kennen gelernt haben, wegen seiner persönlichen Eigenschaften sehr beliebt. Seine Persönlichkeit hat entschieden etwas stark Imponierendes. [...] Er ist auch ein geschickter Redner. Über sein Lehrtalent hat die Fakultät aus eigener Anschauung kein Urteil, weil er sofort nach seiner Habilitation Kiel verlassen hat. Von verschiedenen Seiten wurde berichtet, dass die ärztlichen Demonstrationsabende in Bethel geschätzt seien und gut besucht würden und dass Herr Löhr ebenso die Kurse für Hilfspersonal mit großem Erfolg zu leiten verstand. Bei wissenschaftlichen Sitzungen spricht er gut und eindrucksvoll. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass Herr Löhr zweifellos ein ausgezeichneter Krankenhausdirektor, ein guter Organisator und guter Arzt ist."(20) Die Fakultät machte vorsichtig deutlich, dass Löhr wohl bei "Hilfspersonal", nicht aber als Dozent an der Universität Lehrerfahrung vorzuweisen hat, die Beschreibung seiner Persönlichkeit als einer, die "etwas stark Imponierendes" aufzuweisen hat, erscheint im Kontext mit anderen Quellen und Informationen ein Hinweis auf seine cholerische Persönlichkeit.

Ein erhaltener Brief von Löhr an seinen in Frankreich als Soldat dienenden Assistenten Hilmar Wilmanns, den Sohn seines ehemaligen Chefs Richard Wilmanns, aus dem September 1940 gibt tiefe Einblicke in seine Persönlichkeit. Hinter der Maske der Jovialität, Kameraderie und Verbundenheit mit der eigenen Familie und Freunden zeigt sich die unvorstellbare Härte und Herzlosigkeit des Nationalsozialisten. Löhr schreibt: "Ich habe gestern gelegentlich des 60. Geburtstages Deines Vaters mit diesem telefoniert und nur gute Nachrichten bekommen. Für Bethel ist die Fliegerbombardierung eine Riesenreklame. [...] [N]un aber hat Gott der Herr zwölf epileptische Kinder getötet, deren Tod an und für sich keinen Verlust bedeutet. Leider ist dabei auch eine Schwester zugrunde gegangen. [...] Gott sei Dank ist nicht der allgemeine Friedhof Bethels getroffen worden, also auch nicht die Gräber meiner Schwiegereltern, sondern der sog. Brüderfriedhof. Die Leichensteine sind hunderte Meter bis über Nebo hinausgeflogen."(21) Jeglicher vielleicht noch vorhandene Zweifel an der Engstirnigkeit dieses der nationalsozialistischen Ideologie verfallenen Medizinprofessors wird durch die zynische Kommentierung des Unglücks der Kinder beseitigt. Und mehr noch: Die ganze Anomalität der nationalsozialistischen Ideologie mit den schon zum Zeitpunkt des Briefes vollbrachten zehntausendfachen Morden an kranken Kindern wird durch diese Zeilen deutlich, in denen Gräber von Angehörigen wichtiger sind als unschuldige Kinder, die zu Opfern eines unbarmherzigen Krieges geworden sind. Hier wird noch einmal offensichtlich: Löhr verschrieb sich dem Regime mit ganzem Herzen und unterstützte nicht nur seine programmatische "Blut und Boden"-Ideologie, sondern weitergehend auch Krankenmord und "Ausmerze". Von dieser Auffassung bis hin zum Massengenozid der Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes der SS (SD) in den besetzten Gebieten der Sowjetunion sowie den Tötungsfabriken der SS im Osten war es dann nur noch ein kurzer Weg, den Löhr aufgrund seines Alters, seiner Krankheit und seines frühen Todes physisch jedoch nicht gehen musste.

Seine Kieler Tätigkeit in der Anfangszeit

Gleich nach seiner Berufung hatte Löhr erheblichen Einfluss in der Fakultät beansprucht, war jedoch in den ersten Monaten seiner Kieler Zeit nicht durch ein offizielles Amt legitimiert und musste sich auch zunächst auf die für ihn neuen Verhältnisse einstellen. Trotzdem gab es wohl kaum noch Vorgänge und Entscheidungen von Bedeutung ohne seine Beteiligung. Im Herbst 1934 wurde Hanns Löhr dann als Nachfolger des nach Erlangen berufenen Specht Vertrauensmann der Reichsleitung und im Frühjahr 1935 Dekan der Medizinischen Fakultät, 1936/37 sogar für ein Semester Prorektor. Die erste Sitzung des Fakultätsausschusses mit Löhr, aber noch unter Leitung von Schröder am 4. Februar 1935 zeigte, dass er seine Macht in der Fakultät mittlerweile gefestigt und ausgebaut hatte.(22) Das Primat nationalsozialistischer Auffassungen in der Kieler Medizinischen Fakultät hatte Folgen. Einige Ordinarien, denen Löhrs Vorgaben und Arbeitsstil nicht gefielen, gingen wie Anschütz freiwillig in den Ruhestand oder verließen wie Külz, Schröder, Benninghoff Kiel, sobald die Möglichkeit dazu bestand. Auch in Kiel übernahm Löhr schnell verschiedene Parteiämter, so z.B. den Posten des Bezirksobmanns des Nationalsozialistischen Ärztebundes. Noch 1934 wurde er Gauamtsleiter für Bevölkerungspolitik und 1935 Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP im Gau Schleswig-Holstein. Außerdem wurde er für die NSDAP Senatsmitglied und Ratsherr der Stadt Kiel.(23) Die politischen Ämter standen jedoch jetzt nicht mehr im Vordergrund seines Interesses. Vielmehr ging es ihm darum, seinen wissenschaftsskeptischen nationalsozialistischen Parteigenossen zu beweisen, dass die Hochschulen unter richtiger Führung und Schwerpunktsetzung in den nationalsozialistischen Staat passten und ihm dienen konnten. Dazu waren Aktivitäten Löhrs in der Universität, in der Dozentenschaft und in der Medizinischen Fakultät erforderlich. Ein Anfang hierzu war seine hochpolitische Antrittsvorlesung am 23. November 1934 zum Thema: "Die Stellung und Bedeutung der Heilkunde im nationalsozialistischen Staate?(24) Es folgte der Umbau der Medizinischen Klinik zu einer nationalsozialistischen Bastion innerhalb der Fakultät. Auch sein 1940 publiziertes Buch "Aberglauben und Medizin" sowie Nachdrucke 1941, 1942 und 1943 mit einer für Kriegszeiten ungewöhnlichen Gesamtauflage von 30.000 Exemplaren folgten diesem Ziel.(25)

Klinikchef und SD-Mann

In seiner Klinik war zu Beginn seiner Kieler Tätigkeit eine beispiellose Fluktuation von Oberärzten und Assistenten zu beobachten. Von den zehn Assistenten aus der Zeit Schittenhelms waren im Sommersemester 1935 noch zwei in der Medizinischen Klinik verblieben. So musste Löhr erst einmal dafür sorgen, wieder eine arbeitsfähige Klinik zu bekommen. Dabei legte er bei Neubesetzungen größten Wert darauf, überzeugte Anhänger der NSDAP in seiner Klinik zu beschäftigen. Hierzu einige Beispiele: Den Assistenten Walter Marquort brachte er aus seiner bisherigen Klinik Gilead mit. Dieser hatte für Löhr nicht nur als Assistent im Krankenhaus gearbeitet, sondern war auch seine rechte Hand bei der Wahrnehmung seiner politischen Ämter in NSDAP, SA und später im SD der SS. Walter Marquort war 25-jährig. Anfang 1931 der NSDAP beigetreten und im August des Jahres als Sanitätstruppführer SA-Mitglied geworden. Im November 1932 wurde er SS-Sturmführer, später dann in Kiel SS-Obersturmbannführer, Mitglied des Sicherheitsdienstes der SS, im Fakultätsausschuss Vertreter des NSDDB und "beim Dozentenbundführer [Löhr, d. Verf.] Helfer in bürotechnischen Angelegenheiten".(26) Seit November 1934 war der bereits erwähnte Hilmar Wilmanns erst als Medizinalpraktikant und dann als Assistent in der Klinik tätig.(27) Im Sommer 1936 wurde Erich Finke eingestellt, der im Zusammenhang mit den Kälteversuchen an KZ-Häftlingen aus Dachau 1941 zusammen mit Holzlöhner noch eine unglückliche Rolle spielen sollte. Jochen Rietz war bereits seit 1937 als Medizinalpraktikant und Volontärassistent in der Klinik tätig, erhielt zum Sommersemester 1939 eine Assistentenstelle, übernahm dann jedoch während des Krieges zunächst mit dem Dienstgrad eines SS-Untersturmführers Tätigkeiten im Sicherheitsdienst der SS in den besetzten Gebieten Polens, Russlands und Norwegens.

Formal wurde Hanns Löhr am 13. September 1936 SS-Angehöriger, nachdem er seit dem Februar 1931 eine steile Karriere in der SA vom Sturmbannarzt bis zum Sanitätsgruppenführer durchlaufen hatte. Seine Übernahme in die SS wurde durch Heinrich Himmler persönlich ermöglicht. Ursache mag eine mit taktischen Überlegungen verbundene Sympathie des Reichsführers SS zu Hanns Löhr gewesen sein, eine Sympathie, die sich bis zum Tode Löhrs immer wieder feststellen ließ. Löhr beschreibt diesen Sachverhalt in seinem Lebenslauf aus dem August 1936 mit den Worten: "Am 6. Juli 1936 wurde ich gelegentlich einer Gaudozentenbundführertagung in Alt Rehse durch den Reichsführer SS zum Oberführer der SS ernannt zum Stabe des Sicherheitsdienstes des Rf. SS."(28) Damit stand er in der Dienstaltersliste der SS im Reich Ende 1938 immerhin an 181. Stelle.(29) Schon die SS-Angehörigkeit, dann aber erst recht die Zugehörigkeit zum SD erforderte einen Kirchenaustritt,(30) den Hanns Löhr, wie erwähnt Sohn eines evangelischen Superintendenten, spätestens bis Anfang August 1937, wahrscheinlich aber früher vollzog.(31) Den hohen SS-Dienstrang verdankte er zum einen sicher der Sympathie Himmlers, zum anderen auch der Tatsache, dass Himmler ihn zum Zeitpunkt seiner Übernahme 1936 im SD brauchte. Es gab im ganzen Deutschen Reich keinen mit der NSDAP und ihrer Ideologie verbundenen Medizinprofessor, dem es gelungen war, sich derart in der Universität und ihrer politischen Umgebung zu vernetzen, wie das bei Hanns Löhr der Fall war. Der SD benötigte ihn dringend für seine Neuausrichtung als "Lebensgebietsnachrichtendienst", damit die Hochschulmedizin nicht ein "weißer Fleck" in der Landkarte der SD-Berichterstattung blieb.(32) Von den Medizinern Hanns Löhr, Walter Marquort, Enno Freerksen und Hans-Joachim Rietz wissen wir sicher, dass sie Angehörige des SD waren. Löhr dürfte unterhalb der Ebene des SD-Abschnittes Kiel die Leitung des für den Lebensgebietsnachrichtendienst und die Erstellung der "Meldungen aus dem Reich" wichtigen SD-Netzes der Kieler Universität übernommen haben. Wegen seiner kaum zu bewältigenden Belastungen u.a. als Dekan, Klinikchef, Gaudozentenleiter und nationalsozialistischer Regionalpolitiker musste ihm sein Assistenzarzt Walter Marquort ehrenamtlich als SS-Obersturmbannführer im SD zur Seite stehen.(33) Marquort hielt auch die Verbindung zum SD-Abschnitt Kiel.(34) Die Anwesenheit Heinrich Himmlers bei der Gründung der Wissenschaftlichen Akademie des NSDDB Anfang 1938 war ungewöhnlich und hat sicher den Verdiensten und der regionalen Bedeutung Löhrs gegolten. In diesem Zusammenhang waren SS-Ehrungen wie mit dem "Totenkopfring", dem "Ehrendegen" und dem "Julleuchter"(35) oder zum 49. Geburtstag 1940 mit dem "SS-Fahnenträger in Porzellan",(36) sowie zum 50. Geburtstag 1941, nur wenige Wochen vor seinem Tod, die Beförderung zum SS-Brigadeführer(37) nicht überraschend.

Dekan, Prorektor und Rektor

Als Dekan hatte Löhr zu Fakultätssitzungen einzuberufen, die Gelder der Fakultät zu verwalten und Habilitationen und Promotionen zu vollziehen.(38) Löhr nahm sein Amt engagiert und, wenn es um Fragen seiner persönlichen Macht oder der nationalsozialistischen Ideologie ging, mit aller Härte kompromisslos wahr. Er hatte keine Erfahrung in Fakultätsangelegenheiten, da er gleich nach seiner Habilitation Chefarzt eines nichtuniversitären Krankenhauses geworden war. Deswegen wird er den von ihm für politisch unzulässig gehaltenen, aber in Fakultätsangelegenheiten erfahrenen Anatomen Alfred Benninghoff als seinen Prodekan von seinem Vorgänger Schröder übernommen haben. Unabhängig davon wurde 1935 Benninghoff von Löhr beim Sicherheitsdienst des SS als "liberalistisch, judenfreundlich und konfessionell gebunden" denunziert.(39) Im Verlauf des Jahres 1936 bis zu Löhrs Tod hatte sich die Arbeit der Fakultät dem "Führerprinzip" angepasst. Mit Ausnahme der Vorschläge für Berufungen und der Beurteilungen von Habilitationen fielen die meisten organisatorischen Entscheidungen durch Löhr außerhalb der Fakultätssitzungen.

Einzelheiten der Aktivitäten Löhrs als Dekan, insbesondere auch bei den zahlreichen Berufungen, können hier nicht dargestellt werden. Sein Umgang mit dem vom ihm wegen seiner "Weichheit" verachteten Georg Stertz soll beispielhaft etwas ausführlicher beschrieben werden. Stertz' Frau war wegen ihrer jüdischen Mutter nach der Terminologie des Regimes ein Mischling 1. Grades. Ein sogenannter "Flaggenerlass" des Reichserziehungsministeriums, nachdem auch die mit einem jüdischen Ehepartner verheirateten Beamten aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden sollten, traf also auf Stertz nicht zu.(40) Dazu hätte Stertz' Frau Jüdin sein müssen. Obwohl Löhr diesen Sachverhalt kannte,(41) wollte er sich des Psychiaters entledigen, da man "wirklich eindeutige Gutachten, beispielweise ob ein Mensch geisteskrank und somit zu sterilisieren ist, [...] kaum von Stertz bekommen könne" und Stertz früher "mit allen Juden und Judengenossen der Fakultät und darüber hinaus freundlich gestanden" habe. Löhr drückte sich in seinem Schreiben sehr direkt aus: "Wenn man auch keine negative Betätigung nachweisen kann, [...] so wäre die Gelegenheit jetzt günstig, wenn Stertz gehen könnte [...]." Wissenschaftlich sei er keine "Kanone, menschlich viel zu weich" und er habe keine Führereigenschaften im Sinne des nationalsozialistischen Staates.(42) Der Dozentenführer hatte gegen Stertz zwar keine politischen Bedenken, wollte sich für ihn aber auch nicht einsetzen.(43) Rektor Ritterbusch folgte seinem Freund Löhr und wollte Stertz entlassen, das Reichserziehungsministerium regte an, Stertz zum freiwilligen Verzicht zu bewegen.(44) Diesem von Löhr aufgebauten Druck beugte sich Stertz letztlich und stellte noch im Mai erfolgreich den Antrag, ihn zum Ende des Sommersemesters 1937 zu entpflichten.(45)

Die letzte Fakultätssitzung vor dem Krieg fand am 17. Juli 1939 statt. Die kriegsbedingt für das Wintersemester 1939/40 erfolgte Schließung der Kieler Universität hatte offenbar nicht zur Folge, dass sich die Fakultät in einer Sitzung damit beschäftigen musste. So gab es mit Ausnahme von zwei Terminen 1940 lediglich Sitzungen der Gesamtfakultät, die sich mit Lehrproben von Habilitationsanwärtern befassten. Politisches war in den Protokollen der Fakultätssitzungen, soweit es ausnahmsweise nicht durch Notwendigkeiten des Alltags erzwungen war, ohnehin nicht zu finden.(46) Offenbar wurden in Kiel unvermeidbar zu regelnde politische Angelegenheiten, wie z.B. die erwähnte Entfernung des Psychiaters Georg Stertz aus dem Dienst, autoritär geregelt. Löhr war unangefochtener Führer der Medizinischen Fakultät, nicht einmal Rektor Paul Ritterbusch hätte, wenn er, der Freund Hanns Löhrs, es gewollt hätte, gegen den Willen Löhrs handeln können. Löhr war der Motor zahlreicher Aktivitäten der Universität. Löhr und Ritterbusch ergänzten sich in ihren Fähigkeiten hervorragend. Löhr war der aggressive, oft unbedachte Draufgänger mit Organisationstalent, Ritterbusch das "Hirn", das die geisteswissenschaftlichen Konzepte entwickelte und eines Löhr zu ihrer Durchsetzung bedurfte. Die beiden Hochschulführer verband die Sorge um die Haltung weiter Kreise der NSDAP zur Bedeutung der Hochschulwissenschaften für ein nationalsozialistisches Deutschland.

Die Durchführung der Universitätswoche im Juni 1937 kurz nach der Amtsübernahme Paul Ritterbuschs, der zum 1. April 1937 Rektor geworden war, bildete die Grundlage für die Aktivitäten der nächsten vier Jahre. Die Gründung der Wissenschaftlichen Akademie des NSDDB Anfang 1938 war ein großer Erfolg ganz besonders für Löhr. Ihm gelang es, den Reichsdozentenführer Prof. Dr. Walter Schultze für ein Referat zu gewinnen und sowohl Heinrich Himmler wie auch Hinrich Lohse zur Teilnahme zu bewegen. Die Neubegründung der Kieler Blätter 1938, die "Kriegsvorlesungen für das deutsche Volk" 1939/40 und zum Abschluss des abrupten Endes seiner Karriere die 275-Jahr-Feier der Universität mit einer Festrede des Reichserziehungsministers Rust waren weitere Höhepunkte nationalsozialistischer Universitätspräsenz, die auf Bemühungen Löhrs zurückzuführen sind.

Ritterbusch wechselte im Frühjahr 1941 nach Berlin, sein Nachfolger wurde Hanns Löhr, der seit April 1939 als Prorektor im Amt war. Dekan der Medizinischen Fakultät wurde Albert Wilhelm Fischer. Damit hatte Löhr sein Ziel, das höchste Amt der Universität Kiel, erreicht. Die zunehmenden Luftangriffe der Engländer mit anfangs noch eher kleineren Zerstörungen der Universitätsgebäude stellten ein zunächst ungewohntes Problem dar, gewichtiger waren jedoch für Löhr ganz unerwartete Schwierigkeiten aus einem anderen Bereich. Die Universität Kiel musste sich nach Kriegsbeginn wiederholt gegen Bestrebungen einer vollständigen Schließung zur Wehr setzen. Das begann schon im Spätherbst 1939, als die Kriegsmarine Anspruch besonders auf dicht am Wasser liegende Universitätsgebäude erhob, die jedoch für den Universitätsbetrieb unentbehrlich waren.(47) Im Juli 1941 wurde in Kiel dann die Absicht des Preußischen Finanzministeriums bekannt, die Universität Kiel aus Kostengründen ganz zu schließen. Grund war die geringe Studentenzahl und die Evakuierung stationärer Teile einiger Kliniken.(48) In dieser Situation war es ein glücklicher Umstand für die Kieler Universität, den in den Strukturen des "Dritten Reiches" tief verwurzelten Löhr in ihren Reihen zu haben. Die Darstellung der Einzelheiten ist hier nicht möglich. In zahlreichen Schreiben u.a. an den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Abschnitt Kiel, und den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, den SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich,(49) wobei er in den Schreiben an diese beiden Stellen den üblichen Briefkopf des Rektors noch um seine SS-Dienststellung "SS Oberführer Löhr im SD-Hauptamt" ergänzte,(50) konnte Löhr die Schließung der Universität verhindern.(51)

Die Zeit nach Löhr

Unter dem Nachfolger Löhrs als Dekan, Albert Wilhelm Fischer, normalisierte sich die Arbeit des Fakultätsausschusses wieder, soweit es im Rahmen eines immer unbarmherziger werdenden Krieges überhaupt möglich war. Sie wurde wieder kollegialer. Wie vor der Ära Löhr wurden Themen angesprochen, die den Alltag der Fakultät prägten: Verbesserung der Leistungen in den Examina, Assistentenmangel an theoretischen Instituten, Umbenennung des Faches "Irrenheilkunde", Zulassung von Kassenpatienten an Polikliniken u.a.m. Überwiegend handelte es sich nun wieder um Fakultätsroutine. Ereignisse wie die Bombardierungen des Klinikums, die Evakuierung von Patienten ins südöstliche Holstein und die 1943 erneut nur mühsam abgewendete Schließung der Universität waren zumindest nach dem Protokoll kein Thema und sind wahrscheinlich zeitnah außerhalb offizieller Fakultätssitzungen abgearbeitet worden. 1942 brach der Fakultätsausschuss der Medizinischen Fakultät mit neun Sitzungen trotz der hohen Arbeitsbelastung seiner durch die Auswirkungen des Krieges beanspruchten Mitglieder unter Leitung Fischers alle bisherigen Rekorde.(52) 1943 leitete Fischer immerhin bis zum Ende des Sommersemesters noch fünf Fakultätssitzungen. Im Juni 1943 bat Fischer den Rektor, ihn wegen allzu großer Arbeitsbelastung nach fünf Semestern in der Position des Dekans zum Ende des Sommersemesters von diesem Amt zu entpflichten. Sein Nachfolger wurde bis zum Kriegsende der Direktor der Frauenklinik, Ernst Philipp.

Es ist schon an anderer Stelle ausgeführt worden und kann hier nur wiederholt werden: Hanns Löhr hatte die Verantwortung für die Inbesitznahme zunächst einer ganzen Fakultät, dann auch der Universität durch die Nationalsozialisten. Er war der Prototyp des absolut überzeugten und herrschenden Parteimannes, der das gesamte Repertoire der alltäglichen Repressionsmaßnahmen nutzte. Seine Verantwortung für die Auslieferung der Medizinischen Fakultät an seine Partei und an den Sicherheitsdienst der SS ist offenkundig. Nur sein plötzlicher Tod im Herbst 1941 an einer Knochenmarksschädigung, bedingt durch hoch dosierte aggressive Schmerzmittel, die Löhr gegen seiner durch Gicht bedingten Schmerzen eingenommen hatte, verhinderte eine rechtliche Aufarbeitung seiner Schuld nach dem Krieg.


Literatur beim Verfasser:
Dr. med. Dr. phil. Karl-Werner Ratschko,
Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg


Infos

1931
- Spätestens seit 1931 betätigte sich Löhr politisch und trat in diesem Jahr in die NSDAP ein.

- Schon vor seinem Parteieintritt war er SA-Standartenarzt, später kamen zahlreiche weitere Funktionen hinzu.

- Mit seiner Berufung gab es in Kiel kaum noch bedeutende Entscheidungen ohne Löhrs Beteiligung.

- Wer mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden war, ging in Ruhestand, verließ Kiel oder war Repressalien ausgesetzt.

- Löhr war der Prototyp des überzeugten Parteimannes, der das ganze Repressionsrepertoire nutzte.

- Er trägt Verantwortung für die Auslieferung der Medizinfakultät an die NSDAP und den Sicherheitsdienst der SS.

- Löhrs tiefe Verwurzelung in den nationalsozialistischen Gremien half beim Kampf gegen die Schließung der Universität.

- Erst nach Löhrs Tod 1941 kehrte wieder Fakultätsroutine in Kiel ein - soweit dies in Kriegszeiten unter dem NS-Regime möglich war.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201504/h15044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, April 2015, Seite 22 - 25
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2015

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