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UMWELT/645: Gene und Umwelt - Angeboren oder anerzogen? (welt der frau)


welt der frau 2/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Gene und Umwelt
Angeboren oder anerzogen?

Von Julia Langeneder


Unsere Eltern schenken uns nicht nur das Leben. Sie beeinflussen auch den Charakter, die Intelligenz und die Anfälligkeit für Krankheiten. Doch was ist vererbt und was ist erworben?


Die kantige Nase hat Eva vom Papa, die schlanke Figur von der Mama - aber von wem hat sie bloß das Mathematiktalent? Heiteres Vererbungsraten, wie es in Familien gern gespielt wird. Der Unterhaltungswert ist groß, wirklich aussagen tut es aber wenig - es sei denn über die subjektive Wahrnehmung jedes Einzelnen.

Was ist nun angeboren und was ist erlernt? Die Frage beschäftigt nicht nur Familien, auch WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen grübeln seit geraumer Zeit darüber.

Noch vor wenigen Jahren propagierten etliche GenforscherInnen die These, alle wichtigen Eigenschaften des Menschen seien in den Erbanlagen festgelegt. PsychologInnen, PhilosophInnen und PädagogInnen hielten dagegen, wesentlich sei die Prägung durch Familie, FreundInnen und Schule, schließlich sei der Homo sapiens ein sehr lernfähiges Wesen.

Inzwischen gehen WissenschaftlerInnen von einem Wechselspiel aus. Epigenetik heißt der neue Forschungszweig der Biologie, der sich damit beschäftigt. Auf der einen Seite die Gene, auf der anderen die Erfahrungen. Beide beeinflussen sich gegenseitig. Oder wie es der Biologe und Sachbuchautor Jörg Blech formuliert: "Die Umwelt und die Gene bedingen einander und wirken stets im Zusammenspiel. Äußere Einflüsse drücken dem Erbgut ihren Stempel auf."


Erblast Brustkrebs?

Die Lehrerin Evelyn Heeg war 30 Jahre alt, als sie sich beide Brüste entfernen ließ. Vorsorglich. Schließlich waren ihre Mutter und drei Tanten an Brustkrebs gestorben und sie trug ebenfalls eine auffällige Genmutation in sich. Ist Brustkrebs eine Erblast? Die genetische Vorbelastung wurde lange Zeit überschätzt.

Heute weiß man, dass Faktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel, falsche Ernährung, Hormone oder auch der Wohnort einen weitaus größeren Einfluss auf das Mammakarzinom haben als vermeintliche Risikogene. Aufschlussreich sind dazu Untersuchungen an Tausenden von Zwillingspaaren in Finnland, Schweden und Dänemark. ForscherInnen haben die Krebsraten von eineiigen und zweieiigen Zwillingen statistisch ausgewertet und analysiert, inwiefern die Erkrankungen vererbt werden. Im Falle einer unausweichlichen Erblast würde sich ein genetischer Anteil von 100 Prozent ergeben. Tatsächlich lag der Wert bei Brustkrebs bei 27 Prozent. Angesichts dieser Zahlen sehen ZwillingsforscherInnen im New England Journal of Medicine keinen Grund für biologischen Fatalismus. Im Gegenteil, sie schreiben: "Geerbte genetische Faktoren tragen nur geringfügig zur Anfälligkeit für die meisten Tumorarten bei. Die Ergebnisse zeigen, dass die Umwelt die Hauptrolle spielt."

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Melinde Irwin von der Yale School of Medicine. Sie hat die Krankengeschichten von 933 Frauen untersucht, die an Brustkrebs erkrankt waren. Wie war es den Frauen in einem Zeitraum von zehn Jahren ergangen? Bei der Auswertung der Daten entdeckte die Wissenschaftlerin einen bemerkenswerten Zusammenhang: Frauen, die nach der Diagnose mit körperlicher Aktivität begannen, lebten merklich länger als körperlich träge Patientinnen. Der Effekt stellte sich bereits ein, wenn die Frauen jede Woche einige Stunden flott spazieren gingen.


Nicht die Gene machen dick

Der Sohn kann so viel essen, wie er will, und es legt sich nichts an, die Tochter braucht ein Stück Torte nur anzusehen und schon nimmt sie zu. Alles eine Sache der Veranlagung? Nicht nur. WissenschaftlerInnen gehen davon aus, dass mindestens 50 Prozent unseres Gewichts durch die Erbanlagen beeinflusst werden, alles andere ist eine Sache des Lebensstils. Das zeigt die Geschichte eines Leipziger Mädchens, das nicht satt zu kriegen war. Schon als Baby schluckte es gewaltige Mengen an Milch, im Kindergarten fiel es als Mundräuber auf - dabei war es nicht dick. Als das Kind vier Jahre alt war, ließen es die Eltern an der Poliklinik für Kinder und Jugendliche der Universität Leipzig untersuchen. Die ÄrztInnen, die dem Heißhunger auf den Grund gehen wollten, baten die Eltern, ein detailliertes Esstagebuch zu führen. Dabei stellten sie fest, dass der kleine Vielfraß ein Übermaß von 32 Prozent mehr Energie aufnahm. Bei der Suche nach der Ursache stießen die MedizinerInnen auf eine seltene Mutation eines Gens, die im Hypothalamus des Gehirns verhindert, dass ein Sättigungsgefühl eintritt. Warum das Mädchen dennoch nicht dick war, dafür hatte die Umwelt gesorgt: Die Eltern hatten das Kind angehalten, nur begrenzte Mahlzeiten zu sich zu nehmen und sich viel zu bewegen. Das hatte schon die Mutter vorgelebt. Wie sich herausstellte, war auch sie Trägerin der Genmutation, durch ihren Lebensstil aber immer rank und schlank. Die WissenschaftlerInnen kamen daher zu dem Schluss: Nicht die Gene machen uns dick, sondern die Art und Weise, wie wir unser Leben organisieren. Ob wir mit dem Auto zur Arbeit fahren oder in die Pedale treten, ob wir die Stiege benützen oder mit dem Lift fahren und ob wir im Supermarkt das Süßigkeitenregal plündern oder die Obst- und Gemüseabteilung.


Intelligenz: eine Frage der Gene?

Johann Wolfgang von Goethe soll einen IQ von 210 gehabt haben, Albert Einsteins Intelligenzquotient wird auf 160 bis 180 geschätzt. Aber wovon hängt es nun ab, ob ein Kind so gescheit wird wie Einstein? Um den Einfluss der Gene und der Umwelt auf die Geisteskraft herauszufinden, haben die PsychologInnen Christiane Capron und Michel Duyme Kinder untersucht, die in Adoptivfamilien aufgewachsen sind. Was passiert, wenn ein Kind aus einer sozial schwachen Familie in eine reiche Adoptivfamilie kommt und die Geschwisterkinder bei den armen leiblichen Eltern bleiben? Bei Intelligenztests erreichten die adoptierten Kinder Werte von 107 bis 111. Ihre Geschwister, die bei den leiblichen Eltern geblieben waren, kamen jeweils auf 95. Das bedeutet: Die Umwelt hat einen erheblichen Einfluss auf die Intelligenz - ForscherInnen sprechen von 30 bis 50 Prozent. "Je stärker das Gehirn des Kindes stimuliert wird, desto besser kann es sein biologisches Potenzial ausschöpfen", hält der Biologe Jörg Blech fest.

Intelligenz und Schulerfolg müssen jedoch nicht zusammenhängen. Der IQ trägt nur zu 55 Prozent zum Schulerfolg bei. Ohne Motivation, Fleiß und Förderung wird auch ein kleiner Einstein in der Schule kaum brillieren.


Bekommt man Begabungen in die Wiege gelegt?

Ob wir gut Klavier spielen oder schnell laufen können, ist gewiss eine Frage der Förderung: Je früher Eltern die Gaben ihrer Kinder bestärken, desto leichter fällt es ihnen, ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu entwickeln. Viel bedeutender für herausragende Leistungen ist jedoch das Talent. Top-SprinterInnen etwa besitzen genetisch bedingt besonders viele sogenannte Fast-Twitch-Muskelfasern, die extrem schnell kontrahieren können, und gute PianistInnen verfügen nicht nur über die Gabe, die Finger gezielt über die Tasten sausen zu lassen, sondern auch über ein ausgeprägtes Talent, Rhythmen zu erkennen.


Ganz die Mama, ganz der Papa

Von den blauen Augen bis zu den langen Beinen: Äußere Merkmale sind zu 90 Prozent angeboren. Evas Eltern haben also, wie eingangs erwähnt, nicht unrecht, wenn sie die Nase dem Papa zuschreiben und die Modelmaße der Mama. Dennoch ist ein Kind nicht das Abbild seiner Eltern. Erbinformationen können eine Generation überspringen und es können auch ganz neue Merkmale auftreten. Der Baukasten, aus dem sich die Natur bedient, besteht nämlich aus stärkeren und schwächeren Erbmerkmalen, im Biologendeutsch: dominant oder rezessiv vererbten Eigenschaften. So weiß man etwa, dass ein Kind nur dann blaue Augen bekommt, wenn beide Eltern sie ihm vererben. Sonst setzen sich eher die stärkeren Grün- oder Brauntöne durch.


Was den Charakter prägt

Können Eltern ihre Sprösslinge zu lebenstüchtigen Menschen erziehen? Die Macht der Erziehung ist groß, wenn auch nicht so groß, wie PsychologInnen und PädagogInnen ursprünglich angenommen haben. Zwillingsstudien kommen zu dem Ergebnis, dass Unterschiede in der Persönlichkeit zu etwa 50 Prozent angeboren sind. Die andere Hälfte wird durch Umwelt und Erziehung beeinflusst.

Wie jemand mit Stress umgeht, hängt laut WissenschaftlerInnen sehr davon ab, wie viel elterliche Zuneigung und Fürsorge man als Kind erfahren hat. Gerade in den ersten Lebenswochen seien die taktilen Reize, also das Streicheln, sehr wichtig, so der Gynäkologe Professor Johannes Huber. Kinder, die in der ersten Zeit viel Zuneigung erfahren haben, würden im späteren Leben besser mit schwierigen Situationen fertig werden. Auch das zukünftige Kommunikationsverhalten entwickle sich dadurch: So kann der Knirps ein Draufgänger werden oder eher einen ängstlichen Umgang mit anderen Menschen pflegen.


Typisch Mann, typisch Frau

Lange Zeit musste die Evolutionsbiologie herhalten, um die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu begründen. "Das erklärt gar nichts", sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. "Auf dem Y-Chromosom steht keine einzige Bauanleitung dafür, wie ein männliches Gehirn zu strukturieren ist, und die anderen 45 Chromosomen unterscheiden sich zwischen Männern und Frauen überhaupt nicht." Das genetische Erbe könne also nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass Männer häufiger in Vorstandsetagen und in Gefängnissen sitzen, dass ihr Sprachverständnis schlechter und ihr räumliches Vorstellungsvermögen im Durchschnitt besser ausgeprägt sei als bei Frauen. Auch nicht dafür, dass Männer nur halb so oft unter Panikattacken und Depressionen leiden und Essstörungen bei ihnen viel seltener auftreten als bei Frauen, sie aber doppelt so häufig eine Drogen- oder Alkoholsucht entwickeln.

Dennoch: Obwohl Männer über keine für die Hirnentwicklung verantwortlichen anderen Gene verfügen als Frauen, haben sie ein anderes Gehirn. Hüther: "Das Gehirn von Männern ist im Durchschnitt etwas größer, dafür ist die Großhirnrinde bei Frauen stärker gefurcht. Bei Frauen sind auch die Verbindungen zwischen den beiden Großhirnhälften stärker ausgebaut." Das erklärt aber noch nicht die Herausbildung männlicher Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster. Was macht nun den Mann zum Mann? Das Geschlechtshormon Testosteron spielt nicht nur beim männlichen Körperbau eine Rolle, sondern auch bei der Ausbildung des Gehirns. Das heißt: Jungen kommen mit einem etwas anders organisierten und strukturierten Gehirn zur Welt.

Wie es sich dann aber entwickelt, hängt davon ab, wie man es benutzt, so die wichtigste Erkenntnis der HirnforscherInnen. Denn: Das Gehirn ist weitaus formbarer als bisher angenommen. Vor allem das, was man mit Begeisterung macht, erlebt, denkt oder lernt, hat einen nachhaltigen Effekt.


Kein Mathematikgen

Fragt sich noch: Was hat es denn nun mit Evas Mathematiktalent auf sich? Ein Mathematikgen existiert (leider) nicht. Betrachtet man die mathematischen Leistungen von Schulkindern im internationalen Vergleich, könnte man zwar meinen, in Asien gäbe es einen genetischen Vorteil, da Kinder aus China, Südkorea, Singapur, Hongkong und Japan in internationalen Vergleichsstudien eine Spitzenposition einnehmen. Tatsächlich erklärt sich die Dominanz der asiatischen Kinder und Jugendlichen aber so: Sie arbeiten härter. Das belegen auch jene Studien, wonach japanische SchülerInnen an schwierigen Aufgaben wesentlich länger tüftelten, um eine Lösung zu finden, als amerikanische.


Der Hypothalamus ist ein Gehirnbereich im Zwischenhirn und eine wichtige Schaltzentrale unseres Körpers. Der Hypothalamus sorgt dafür, dass unsere Körpertemperatur konstant bleibt, und regelt die Nahrungsaufnahme. Er beeinflusst unser Gefühls- und Sexualverhalten und ist ein wichtiges Steuerorgan innerhalb des Hormonsystems.
Epigenetik ist ein Spezialgebiet der Biologie und beschäftigt sich mit der Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt. Einschneidende und traumatische Erfahrungen hinterlassen Spuren im Erbgut, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden - genauso wie der Lebensstil, ob man raucht, sich gesund ernährt und viel bewegt. Dazu gibt es eine Reihe umfangreicher Studien.


ZUM WEITERLESEN

- Prof. DDr. Johannes Huber: "Liebe lässt sich vererben", Zabert Sandmann Verlag, 176 Seiten, 17,50 Euro

- Jörg Blech: "Gene sind kein Schicksal", Wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können, S. Fischer Verlag, 288 Seiten, 19,50 Euro

- Prof. DDr. Gerald Hüther: "Männer", Das schwache Geschlecht und sein Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 142 Seiten, 17,40 Euro


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Februar 2011, Seite 22-27
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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Die "welt der frau" erscheint monatlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2011