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UMWELT/675: Folgen von Fukushima - Die WHO will beruhigen (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 610-611 / 26. Jahrgang, 7. Juni 2012

Folgen von Fukushima
Die WHO will beruhigen

Von Thomas Dersee



Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UN-Komitee UNSCEAR legen erstaunliche Berichte vor

Der radioaktive Fallout von Fukushima werde kaum jemanden krank machen, meint die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem unter internationaler Beteiligung erstellten und mit "Vorläufige Dosisschätzung" überschriebenen jetzt veröffentlichten ersten Report [1]. Ihr Bericht biete "rechtzeitige und maßgebliche" Informationen über zu erwartende Strahlenschäden aus den Dosisbelastungen im ersten Jahr nach der Reaktorenkatastrophe, meint die WHO. Im Jahr 2013 will sie der Generalversammlung der Vereinten Nationen einen weiteren Bericht vorlegen.

Die Autoren der WHO legten ihrem vorläufigen Bericht die offiziellen Angaben der japanischen Behörden zugrunde und schließen daraus, daß die große Mehrheit der Menschen nach dem GAU nur geringen Strahlendosen ausgesetzt gewesen sei. Außerhalb Japans liege sie deutlich unter dem, was die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) als "sehr gering" einstufe. Und in der Präfektur Fukushima und den angrenzenden Präfekturen hätten die Menschen im ersten Jahr im allgemeinen auch nur weniger als 10 Millisievert abbekommen - von den Orten Namie und Iitate einmal abgesehen. Hier könnten es auch bis zu 50 Millisievert gewesen sein. Aber erst ab einer Dosis von 100 Millisievert meint man bei der WHO, gesundheitliche Auswirkungen nachweisen zu können.

Eine Zunahme der Krebsfälle werde nicht meßbar sein, meint man bei der WHO. Das liege vor allem daran, daß kaum radioaktives Jod von den Menschen eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen worden sei. Die Strahlenbelastung der Menschen sei weit geringer gewesen als die von Tschernobyl. Die Flutwelle des Tsunamis hingegen habe 19.000 Menschen getötet.

Computersimulationen zeigten zwar, daß Kleinkinder in der Stadt Namie Radiojod in einem Ausmaß von 100 bis 200 Millisievert Schilddrüsendosis eingeatmet haben könnten, wird erklärt. Die WHO beruft sich jedoch auf ein Schilddrüsen-Monitoring von 1.080 Kindern vom 24. bis 30. März 2011 in den Orten Iitate, Kawamata und Iwaki in der Präfektur Fukushima. In 60 Prozent der Fälle habe man kein radioaktives Jod nachweisen können. Man könne davon ausgehen, daß 93 Prozent der Kinder mit weniger als 10 Millisievert Schilddrüsendosis belastet worden seien und das mögliche Maximum bei 50 Millisievert im ersten Jahr liege. Das sei noch immer lediglich ein Hundertstel der Schilddrüsenbelastung, der die Kinder 1986 in Tschernobyl ausgesetzt gewesen seien.

Auch Dr. Wolfgang Weiss vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) rechnet nicht mit einer Zunahme von Krebsfällen infolge von Fukushima. Weiss ist derzeit Vorsitzender des Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen für die Wirkungen der Atomstrahlung (UNSCEAR) und hat den WHO-Bericht begleitet. Seine Organisation arbeitet ebenfalls an einem Bericht über die Gesundheitsrisiken nach Fukushima, dessen vorläufige Fassung dem Magazin Nature vorliegt und das im nächsten Jahr veröffentlicht werden soll [2]. Darin sollen die Daten von 20.115 Arbeitern ausgewertet worden sein, die der AKW-Betreiber Tepco beschäftigt hat, um die Reaktorruinen von Fukushima zu stabilisieren. 167 von ihnen seien Strahlendosen von 100 Millisievert ausgesetzt gewesen, sechs erhielten mehr als 250 Millisievert und zwei mehr als 600 Millisievert, heißt es. Bislang sei keiner von ihnen unmittelbar dadurch erkrankt.


Zu schön, um wahr zu sein

Alle diese Angaben beruhen auf unvollständigen Daten. Nur öffentlich zugängliche Informationen wurden verwendet, die bis September 2011 vorlagen. Auf der Jahrestagung der deutschen Strahlenschutzkommission (SSK) Mitte März 2012 in Hamburg hatte Weiss gerügt, daß unter anderem die am Anfang der Katastrophe von Fukushima von Flugzeugen des US-amerikanischen Militärs aus erhobenen Daten bis heute nicht öffentlich gemacht worden und ein Großteil der japanischen Daten nicht qualitätsgesichert seien. Und im Gegensatz zu Umweltdaten gebe es auch kaum personenbezogene Daten. Auch der ehemalige SSK-Vorsitzende Professor Dr. Rolf Michel hatte kritisiert, daß es zur Abschätzung der Strahlenfolgen bei der Bevölkerung keine vernünftigen Messungen der Jod-131-Schilddrüsendosen gegeben habe und Jod-Messungen im Fallout erst im Juni und Juli durchgeführt worden seien, was bei einer Halbwertszeit von 8 Tagen keine vernünftigen Aussagen mehr erlaube. An den Schilddrüsen seien keine richtigen Radiojod-Messungen durchgeführt, sondern lediglich Ortsdosisleistungen vor der Schilddrüse bestimmt worden. Strahlentelex hatte ausführlich berichtet. [3]

Aussagen auf solcher Grundlage sind nicht nur äußerst gewagt, sondern schlicht unmöglich. Die von der WHO zitierten Schilddrüsenmessungen in der Präfektur Fukushima Ende März 2011 waren gar keine echten Messungen.

Und nimmt man die von der WHO angegebenen Werte für die effektive Dosis als gegeben an, so lassen sich die zu erwartenden zusätzlichen Krebsfälle in der Präfektur Fukushima mit ihren etwa 2 Millionen Einwohnern dem Nürnberger Physiker Dr. Alfred Körblein zufolge zurückhaltend auf 4.000 allein aufgrund der Strahlenbelastung im ersten Jahr abschätzen. Die Lebenszeitdosis wäre dann vermutlich ungefähr dreimal so hoch, was allein für Fukushima zusätzliche 12.000 Krebserkrankungen erwarten ließe. Und für ganz Japan wäre die Zahl womöglich doppelt so hoch. [4]

Die wissenschaftliche Diskussion insgesamt bewegt sich zwischen den Risikoschätzungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) und dem 10-fachen davon [5]. Entsprechend bedeuten die Dosisschätzungen der WHO 1.000 bis 10.000 zusätzliche Krebstodesfälle unter den 2 Millionen Einwohnern der Präfektur Fukushima allein durch die Strahlenbelastung im ersten Jahr. Für eine dreimal so hohe Lebenszeitdosis wären das insgesamt 3.000 bis 30.000 zusätzliche tödlich verlaufende Krebserkrankungen in der Präfektur Fukushima und womöglich doppelt so viele in ganz Japan. Mindestens noch einmal so viele nicht tödlich verlaufende Krebserkrankungen und eine noch höhere Zahl anderer Erkrankungen kommen hinzu.

Th.D.


Anmerkungen

1. World Health Organisation: Preliminary dose estimation from the nuclear accident after the 2011 Great East Japan Earthquake and Tsunami, Geneva/Switzerland 2012, ISBN 978 924150366 2, www.who.int/ionizing_radiation/pub_meet/fukushima_dose_assessment/en/index.html#

2. Geoff Brumfiel: Fukushima's doses tallied, Nature, Vol. 485, 24 May 2012, p. 423-424.

3. Thomas Dersee: "Was für ein Glück", Jahrestagung 2012 der deutschen Strahlenschutzkommission (SSK) in Hamburg, Strahlentelex 606-607, 05.04.2012, www.strahlentelex.de/Stx_12_606_S01-03.pdf

4. Dr. Alfred Körblein, Mitteilung vom 25.05.2012. Die effektive Dosis im ersten Jahr wird mit 10 bis 50 Millisievert im 20- bis 30-Kilometer-Bereich angesetzt, im restlichen Gebiet mit 1 bis 10 Millisievert. Nimmt man einen Mittelwert von 10 Millisievert an, so ist die Kollektivdosis im ersten Jahr bei einer Bevölkerung von circa 2 Millionen Einwohnern 20.000 PersonenSievert. Mit einem Risikofaktor des European Committee on Radiation Risk (ECRR) für die Krebssterblichkeit von EAR/Sv = 0,1/Sv (oder 10%/Sv) und für die Krebsinzidenz von EAR/Sv = 0,2/Sv (20%/Sv) errechnet sich daraus 20.000 Pers.Sv x 0,2/Sv = 4.000 Krebsfälle allein aufgrund der Strahlenbelastung im ersten Jahr. Die Lebenszeitdosis wäre dann vermutlich ungefähr dreimal so hoch, was allein für Fukushima zusätzliche 12.000 Krebserkrankungen erwarten ließe. Und für ganz Japan wäre die Zahl womöglich doppelt so hoch. Etliche epidemiologische Studien, zum Beispiel an Nukleararbeitern oder in Kasachstan, wo die Bevölkerung durch sowjetische Atomwaffenversuche einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt war, ergaben jedoch höhere relative Risiken mit einem RR/Sv von circa 1/Sv. Bei einer spontanen Krebssterblichkeit von 25 Prozent bedeutet das ein EAR/Sv von 0,25/Sv und nicht 0,1/Sv für die Krebssterblichkeit. Deshalb ist die obige Abschätzung noch relativ zurückhaltend (konservativ).

5. ERR/Sv = 0,05/Sv (5%/Sv) für die zusätzliche Krebssterblichkeit laut ICRP.

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Juni 2012,
Nr. 610-611, Seite 1-2
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2012