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AUSLAND/1968: Brasilien - Glücklich, eine Prostituierte zu sein, Kontroverse um Anti-Aidskampagne (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Juni 2013

Brasilien: Glücklich, eine Prostituierte zu sein - Kontroverse um Anti-Aidskampagne

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Beijo da Rua

'Ich bin glücklich eine Prostituierte zu sein' lautet der Slogan einer Aids-Präventionskampagne, die zurückgezogen wurde
Bild: © Beijo da Rua

Rio de Janeiro, 14. Juni (IPS) - An dem Begriff Glück, Gegenstand endloser philosophischer Abhandlungen, hat sich in Brasilien im Zusammenhang mit einer Anti-Aids-Kampagne für Prostituierte eine heftige Kontroverse entzündet. Die Vehemenz der Gegner hat nicht nur den Verantwortlichen der Kampagne den Job gekostet, sondern die Frage nach dem Ausmaß bürgerlicher Partizipation bei der Mitgestaltung staatlicher Aufklärungsprojekte aufgeworfen.

Noch bevor die Kampagne des Gesundheitsministeriums überhaupt richtig angelaufen war, gingen konservative Kreise auf die Barrikaden und verurteilten den Vorstoß als Rechtfertigung der Prostitution. Die Kritik richtete sich vornehmlich gegen den Slogan der Kampagne 'Ich bin glücklich eine Prostituierte zu sein', der sich aus landesweiten Debatten und Workshops herauskristallisiert hatte, an denen die Betroffenen selbst teilgenommen hatten.

"Der Slogan drückt die Würde unseres Berufsstands aus. Den Satz zu streichen, käme einen Verstoß gegen unsere Rechte gleich, und zwar besonders wegen des sozialen Stigmas, dem wir ausgesetzt sind", sagte Leila Barreto von der Gruppe der Sexarbeiterinnen des nordbrasilianischen Bundesstaates Pará.

Die Kampagne, die von der Abteilung für sexuell übertragbare Krankheiten, Aids und Hepatitis im Gesundheitsministerium entwickelt worden war, hat zur Entlassung des ehemaligen Abteilungsleiters Dirceu Greco und zwei Stellvertretern geführt.


Zielgruppe enttäuscht

"Das war schon ein herber Schlag", sagte Barreto gegenüber IPS. "Je stärker wir werden, umso stärker sind wir gegen Krankheiten gefeit. Es sei denn, die Gesellschaft sagt: 'Wir wollen diese Frauen nicht.' Doch es gibt uns Frauen, die wir mit unserer Arbeit der Gesellschaft sehr wohl dienlich sind."

Die Anti-Aids-Kampagne, die vom Beratungsbüro des Ministeriums nicht genehmigt worden war, machte auch mit Sätzen wie 'Als Bürgerinnen anerkannt zu werden ist unser größter Traum' von sich reden. Kaum war sie am 2. Juni, dem Internationalen Hurentag, im Internet gestartet worden, erfolgte der Rückruf.

Ersetzt wurden die forschen Slogans durch die üblichen und lahmen Empfehlungen an die Adresse der Sexarbeiterinnen, Kondome zu benutzten und sich präventiv auf sexuell übertragbare Krankheiten untersuchen zu lassen. 'Prostituierte, die für sich Verantwortung tragen, greifen immer zu Kondomen', lautet der Leitspruch der neuen Kampagne, die den Verantwortlichen zufolge zu mehr Toleranz führen und Vorurteile ausräumen soll.

In Brasilien ist Aids vor allem ein Problem der großen Städte, in denen auch die Hauptrisikogruppen anzutreffen sind. Die Prävalenzrate bewegt sich bei Drogenkonsumenten, homosexuellen Männern und professionellen Sexarbeiterinnen bei 5,9 Prozent, 10,5 und 4,9 Prozent.

Jedes Jahr kommt es in dem 198 Millionen Menschen zählenden Land zu durchschnittlich 37.000 HIV-Neuinfektionen. Schätzungen zufolge sind dort 530.000 Menschen HIV-positiv. 150.000 von ihnen wissen vermutlich nicht, dass sie den Erreger in sich tragen.

"Die Präventionsmaßnahmen, die wir befürworten, funktionieren bei allen Menschen, ob sie nun glücklich oder traurig sind", heißt es in einer Mitteilung des Ministeriums nach dem Rückzug der ursprünglichen Kampagne. "Es ist nicht die Sache des Gesundheitsministeriums, die individuellen Lebensumstände einzelner Personen zu bewerten."

Doch gibt es durchaus Stimmen, die von einem "Rückschritt" der brasilianischen Anti-Aids-Strategie sprechen, die zu den kühnsten und effektivsten der Welt zählt. "Brasilien hat der Welt mit Hilfe seines Aids-Präventionskonzepts gezeigt, dass Risikogruppen und historisch ausgegrenzte Bevölkerungsteile wie Homosexuelle, Prostituierte und Drogensüchtige Bürger sind, die Rechte haben, auf die man aufbauen sollte, wenn man von Prävention redet", erläuterte Agustín Rojo, ein argentinischer Kommunikations- und Aids-Experte.

"Doch in einem Land wie Brasilien, wo konservative evangelische Kirchen über einen erheblichen politischen Einfluss verfügen, besteht die Gefahr, dass das Programm untergeht", warnte George Gouveia von der HIV-Aids-Selbsthilfe-Gruppe für das Leben.

Diese Gefahr hält auch Greco für durchaus gegeben. Der geschasste Kampagnenleiter führt seine Entlassung auf einen Konflikt zwischen einer Politik für die Menschenrechte und den Schutz der Risikogruppen einerseits und konservativen Politik der derzeitigen Regierung der Mitte-Links-Präsidentin Dilma Rousseff andererseits zurück. Dass man die Ausstrahlung eines Videos an den Schulen des Landes verboten habe, nur weil es zwei homosexuelle Männer gezeigt habe, sei ebenfalls Ausdruck dieses Konflikts.


"Man kann nicht so tun, als gäbe es uns nicht"

"Man kann nicht so tun, als gäbe es uns nicht. Wenn sie uns jede öffentliche Präsenz streitig machen, werden wir uns weiterhin um unsere Rechte betrogen fühlen", sagte Julio Moreira, Vorsitzender der Schwulenrechtsgruppe 'Regenbogen' im IPS-Gespräch.

Rojos zufolge sollte der Staat den diskriminierten Gruppen im Lande eine Stimme verleihen und dafür sorgen, dass sie von der Gesellschaft respektiert werden. Es sei sicher nicht Aufgabe des Staates, auf jede Gefühlsregung zu reagieren.

"Wenn eine Frau, die für Sex bezahlt wird, sich in aller Öffentlichkeit als glücklich preist, drückt sie dadurch mehr aus als nur ein persönliches Gefühl. Vielmehr nimmt sie damit eine politische Position ein", so Rojo, der in Argentinien Strategien gegen HIV/Aids und andere sexuell übertragbare Krankheiten koordiniert hat.

"Wenn aber andererseits Bürger, ob sie nun Prostituierte, Transvestiten oder Drogenabhängige sind, keinen Zugang zu Kondomen haben, um sich gesundheitlich zu schützen, oder nicht wissen, an wen man sich um Hilfe wenden kann, haben wir es hier mit einem Problem zu tun, für das der Staat zuständig ist", sagte er.

Inzwischen geht es in der Kontroverse auch um die Frage über das Ausmaß sozialer Partizipation in der Realpolitik. "Eine Kampagne für Schwule, Prostituierte und Gefängnisinsassen ist an sich schon eine Form der Anerkennung, die den Betroffenen Würde verleiht", versicherte Rojo. "Sie stellt die Menschen auf eine Stufe mit den übrigen Bürgern und ist somit schon eine starke politische Entscheidung."


Vorwurf der Arroganz

"Doch mit der Entscheidung, nur eine Botschaft von vielen zuzulassen, hat die Regierung gegen das Konzept der Gleichheit verstoßen, indem sie Prostituierten das Recht versagt, ihre Träume und Visionen zu äußern", unterstrich Gabriela Leite von 'Davida', einem Zusammenschluss von Sexarbeiterinnen. "Es ist arrogant anzunehmen, dass eine Prostituierte nicht glücklich sein kann."

Das relative Glück von Prostituierten wird durch ein Profil erhärtet, das das brasilianische Gesundheitsministerium erstellt hat. Demnach sind die meisten weiblichen Sexarbeiterinnen zwischen 20 und 29 Jahre alt, haben die Grundschule abgeschlossen und sind stolz darauf, ihre Kinder versorgen zu können. Sie fühlen sich nicht von den öffentlichen Gesundheitsdiensten diskriminiert, sie mögen die Freiheiten, die ihnen ihr Job bietet und sind der Meinung, dass sie finanziell besser dran sind als in einem anderen Beruf.

Doch klagen sie auch über Demütigungen und Diskriminierung, die sie veranlassen, ihre Arbeit vor allem gegenüber ihren Kindern geheim zu halten. Ebenso stört sie, dass sie mit Männern schlafen müssen, die ihnen unangenehm sind oder aber die sich weigern, Kondome zu benutzen. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.pelavidda.org.br/site/
http://www.davida.org.br/
http://www.ipsnews.net/2013/06/happy-prostitutes-aids-campaign-sparks-debate/
http://www.ipsnoticias.net/2013/06/la-relativa-felicidad-de-prostitutas-en-campana-brasilena-antisida/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 14. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2013