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ARTIKEL/1244: Kongress Vernetzte Gesundheit am 18. und 19.01.2012 in Kiel (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2012

Kongress Vernetzte Gesundheit
Die Bundesländer sollen um die beste Versorgung konkurrieren

Von Dirk Schnack


Dritte Auflage des Gesundheitskongresses in der Kieler Halle 400. Daniel Bahr sieht nach Verabschiedung des Versorgungsstrukturgesetzes die Akteure am Zug.

"Nutzen Sie die Möglichkeiten", forderte der Bundesgesundheitsminister die Akteure auf dem Kongress "Vernetzte Gesundheit" in Kiel auf. Sein Aufruf: Die Bundesländer sollen im Bestreben um gute Versorgungslösungen voneinander lernen und sich nicht scheuen, geeignete Modelle aus anderen Regionen zu kopieren. Das heißt für Bahr nicht, dass die Versorgungslandschaft künftig bundesweit in Einheitsgrau getaucht wird. Die unterschiedlichen Bedingungen in den Regionen erfordern vielfältige Lösungen und bieten damit auch gute Voraussetzungen für Wettbewerb.

Die Grundlage für seine Vision hat Bahr mit dem Versorgungsstrukturgesetz gelegt. Gefordert sieht er nun neben den Akteuren in der Versorgung und in der Selbstverwaltung besonders die Landes- und Kommunalpolitik, die nach seiner Erwartung Anreize setzen müssen. Von den Krankenkassen erwartet Bahr, dass sie die derzeit gute Finanzausstattung in der GKV für die Versorgung nutzen: "Die Krankenkassen sind nicht nur Verwalter der Versichertenbeiträge, sondern auch Gestalter der Versorgung", betonte Bahr am zweiten Kongresstag in Kiel. Dabei machte er auch deutlich, dass es ein Nebeneinander von Kollektiv- und Selektivverträgen geben sollte: "Wenn wir nur auf den Kollektivvertrag setzen, ist er träge."

An die Leistungserbringer appellierte Bahr, sich besser zu vernetzen. Dies bezog er auf alle Gesundheitsberufe, die auch berufsübergreifend zu neuen Lösungen finden müssten - das starre Berufsdenken müsse überwunden werden, so Bahr. Landesgesundheitsminister und Gastgeber Dr. rer. pol. Heiner Garg hält die von Bahr ausgerufenen Ziele in seinem Bundesland für realisierbar. Er verwies auf die seit Jahren bestehende Vernetzung unter den Ärzten, mit der bereits die Weichen gestellt worden seien. Vom Bund erwartet der FDP-Politiker aber noch weitere Zuarbeit durch gesetzliche Rahmenbedingungen. Notwendig sei nun ein "Entbürokratisierungsgesetz". Damit ging Garg auf eines der auf dem Kongress am häufigsten genannten Hindernisse für die Versorgung ein (siehe Bericht "Bürokratie belastet Ärzte und Krankenhäuser im Norden" unten). "Der Arzt gehört ins Behandlungszimmer, nicht in die Schreibstube", sagte Garg.

Einig war sich eine Expertenrunde auf dem Kongress, dass das Versorgungsstrukturgesetz einen Fortschritt darstellt. Dies gilt für das Gesamtfazit - in Einzelpunkten zeigten sich Fachleute von ärztlichen Körperschaften, Krankenkassen und anderen Organisationen unterschiedlicher Meinung. Garg nannte drei wesentliche Gründe für die Zustimmung: Das Gesetz beendet eine in den vergangenen Jahren zunehmende zentralistische Tendenz im deutschen Gesundheitswesen, es erkennt erstmals die Probleme an, Landärzte zu finden, und es beschäftigt sich nicht - wie viele Vorgängergesetze - einseitig mit der Kostendämpfung.

Nach Ansicht von Dr. Frank Ulrich Montgomery wird das Gesetz deutlich mehr Auswirkungen zeigen, als viele bislang annehmen: "Es wird unterschätzt." Der Präsident der Bundesärztekammer sieht mit der Umsetzung der geschaffenen Möglichkeiten eine "Riesenaufgabe" auf die Selbstverwaltung und Akteure im Gesundheitswesen zukommen, etwa bei der Ausgestaltung der Delegation ärztlicher Leistungen. Die von vielen begrüßte Dezentralisierung beobachtet Montgomery mit gemischten Gefühlen. Er bezeichnete die Forderung der Länder zwar als verständlich, glaubt aber nicht an die dafür erforderliche Kompetenz in allen Bundesländern: "Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns damit einen Gefallen getan haben."

Auch Dr. Stefan Etgeton (Bertelsmann Stiftung), Prof. Norbert Klusen (Techniker Krankenkasse) und Dr. Rudolf Kösters (früher Deutsche Krankenhausgesellschaft) zogen unter dem Strich ein positives Fazit zum Versorgungsstrukturgesetz.

Auf dem schwierigen Weg zur Vernetzung haben Ärzte in Schleswig-Holstein zahlreiche Erfahrungen gesammelt. Dies wurde u.a. in Beiträgen von Netzärzten während des von der Ärztegenossenschaft Nord ausgerichteten Pre-Workshops am ersten Kongresstag deutlich. "Wir leben Vernetzung - aber es ist ein äußerst mühsames Geschäft", berichtete der Genossenschaftsvorsitzende Dr. Klaus Bittmann. Mühsam war auch die Arbeit des Medizinischen Qualitätsnetzes Westküste (MQW) an einer elektronischen Patientenakte, wie Dr. Stefan Krüger aus dem Dithmarscher Netzvorstand in Kiel berichtete.

Nachdem die Ärzte an der Westküste schon 2005 mit der Lösungssuche begonnen hatten, starteten sie 2007 ein erstes Projekt und führten eine Chipkarte ein. Nach verschiedenen Problemen und Rückschlägen konnte Krüger zum Kongress den Neustart für das Gesundheitsportal verkünden - in diesem Monat erfolgt ein Testlauf, an dem zunächst vier Praxen und das Westküstenklinikum beteiligt sind. Klar ist für die Beteiligten in Dithmarschen: "Wer regional kooperiert, braucht eine gemeinsame Dokumentationsebene." Voraussetzungen für eine Umsetzung sind nach ihren Erfahrungen eine kompetente EDV-technische Betreuung vor Ort, Datensicherheit und komfortable Zugangsmöglichkeiten.

Dass Vernetzung und Kommunikation der Akteure vor Ort viel Zeit und Mühe kosten, haben auch die niedergelassenen Ärzte in Kiel erfahren müssen. Wie Heinke Keil von der Netzleitstelle auf dem Kongress in Kiel berichtete, gab es im Bemühen um eine bessere Kommunikation einige Rückschläge. Dafür nannte sie vier Gründe: Kosten, hoher Zeitaufwand, Datenschutz und das fehlende Interesse der Ärzte.

Das Praxisnetz bemühte sich dennoch weiter, suchte den kleinsten gemeinsamen Nenner bei der Informationsvermittlung unter den Kollegen und einigte sich auf eine neue Netz-Homepage. Die richtet sich an Ärzte, Praxismitarbeiter und Patienten, wobei die drei Bereiche klar voneinander abgegrenzt sind. Herzstück im Bereich der Ärzte ist der Kieler Fortbildungskalender, bei den Patienten steht ein Leistungsverzeichnis der Praxen im Mittelpunkt. Dieses wird aber auch von den Ärzten inzwischen stark genutzt und hat dazu geführt, dass Ärzte heute besser über das Leistungsspektrum ihrer Kollegen Bescheid wissen und dies bei Überweisungen auch berücksichtigen. Die Weitergabe von Informationen über die Webseite hat nach Ansicht der Leitstelle zu einer besseren Vernetzung beigetragen. Zugleich dient sie als Grundlage für ergänzende Projekte.

Deutlich jünger ist das Lübecker Ärztenetz, über dessen Arbeit Dr. Peter Melloh aus dem Netzvorstand berichtete. Das aus 130 Ärzten aus 85 Praxen bestehende Netz hat sich durch die unbefriedigende Situation bei der Behandlung von Kreuzschmerzen zu einem Behandlungspfad inspirieren lassen, der inzwischen in einen IV-Vertrag mit der BKK vor Ort mündete. Patienten hatten zuvor von langen Wartezeiten und Schmerzen berichtet, ohne dass eine Vorstellung beim Facharzt erfolgen konnte. Damit wurden Diagnosen und Therapie verzögert, Folge waren steigende Arbeitsunfähigkeitszeiten und zum Teil Chronifizierung. Dem Netz gelang es schließlich, einen Behandlungspfad zu erstellen. Dazu wurden verbindliche Behandlungsrichtlinien erstellt, die Kommunikation verbessert und Ressourcen außerhalb des RLV geschaffen. Der Behandlungspfad konnte innerhalb von acht Wochen durch Allgemeinmediziner, Orthopäden und Neurochirurgen erarbeitet werden. Heute soll für einen Patienten mit Kreuzschmerzen innerhalb von drei Wochen abgeklärt sein, ob bei ihm eine psychosoziale Belastungsstörung vorliegt. Erreicht wird dies durch eine zeitnahe Weiterleitung des Patienten. Melloh erwartet nun eine höhere Patientenzufriedenheit, weniger Schmerzen und geringere Kosten. Auch Dr. Monika Schliffke aus dem Netzvorstand im Herzogtum Lauenburg stellte trotz des hohen Aufwands für Ärzte die Vorteile einer Vernetzung in den Vordergrund. "Netzärzte sind kooperativer und kommunikativer", lobte sie ihre vernetzten Kollegen. Eine Vernetzung habe eine positive Ausstrahlung auf das Arbeitsklima und sei zugleich eine gute Werbung für junge Ärzte. Allerdings müssten Ärzte für eine erfolgreiche Vernetzung auch bereit sein zu lernen - u.a, dass sie nicht alles selbst machen sollten.

Einen wichtigen Part für die Versorgung spielt auch die Aus-, Fort- und Weiterbildung in den Gesundheitsberufen, wie Dr. Henrik Herrmann betonte. Der Leiter der Akademie für Medizinische Fort- und Weiterbildung der Ärztekammer Schleswig-Holstein erwartet, dass ein breiter Zugang zur Ausbildung in den Berufen des Gesundheitswesens erfolgen muss, dass die Fort- und die Weiterbildung zunehmend als lebenslange Prozesse begriffen werden und zugleich eine weitere Spezialisierung erfolgt, woraus die Notwendigkeit von Teambildungen in der Fläche erwächst. Auch zum Abbau des Fachkräftemangels wird Bildung beitragen: "Bildung ist unverzichtbar, mit Bildung werden wir attraktiv für junge Menschen", betonte Herrmann in Kiel.

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Bürokratie belastet Ärzte und Krankenhäuser im Norden

Bürokratie ist schlecht für das Image - und damit für die Attraktivität des Arztberufs. Über Ursachen und Folgen dieser Entwicklung diskutierte eine Expertenrunde auf dem Kongress "Vernetzte Gesundheit". Eine Überfrachtung des ärztlichen Alltags von Klinikärzten stellte Dr. Hannelore Machnik, Vizepräsidentin der Landesärztekammer Schleswig-Holstein und Landesvorsitzende im Marburger Bund, in dieser Runde fest. Verantwortlich dafür sei u.a auch das Management in den Krankenhäusern. Als Folge der Überfrachtung hat Machnik eine Desillusionierung junger Kollegen und Pflegekräfte beobachtet.

Machnik forderte eine Entlastung von berufsfremden Aufgaben. "Es gibt zu wenig Hilfskräfte. Der MDK überrollt uns mit Aufgaben, die zum Teil einfach an die Ärzte durchgereicht werden", sagte Machnik, die eine ähnliche Überlastung auch für niedergelassene Kollegen anprangerte. Sie sieht das Management in den Kliniken, aber auch die Politik gefordert, dieser Entwicklung entgegen zu wirken. Auch Alfred von Dollen, Verwaltungschef im Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster, hat das Problem erkannt: "Die Attraktivität des Berufes hat nicht zugenommen, weil die Bürokratie gestiegen ist", sagte von Dollen in Kiel. Allerdings verwiesen Klinikchefs auch auf die in vielen Häusern schon erfolgte Einstellung von Hilfskräften, die Ärzte entlasten sollen. Laut von Dollen haben Krankenhäuser im Norden "unglaubliche Ressourcen investiert, um Ärzte zu entlasten". Neueinstellungen von Kodierern und die Modernisierung der Klinik-IT seien erfolgt, ohne dass im Gegenzug ärztliche Stellen abgebaut worden seien, so von Dollen.

Deutlich wurde, dass es sich viele Arbeitgeber nicht mehr erlauben können, ihren Beschäftigten einen mit Bürokratie überlasteten Alltag zuzumuten. Christoph Andreas Leicht, Präsident der Industrie- und Handelskammer Schleswig-Holstein, brachte den in vielen Branchen sich bereits abzeichnenden Fachkräftemangel auf die Formel: "Jobs werden den Menschen folgen." Im Gesundheitswesen hält die Suche nach qualifizierten Fachkräften schon seit Jahren an. Von Dollen bestätigte, dass viele Kliniken inzwischen Ärzte und Pflegekräfte suchen. Entstanden sei der Engpass durch das neue Arbeitszeitgesetz, das die wöchentliche Arbeitszeit von Ärzten begrenzt hat. "Wir mussten danach mehr Stellen schaffen, es entstand enormer Bedarf", so von Dollen. Einig war sich die Expertenrunde, dass sich Kliniken als Arbeitgeber auf einen sich weiter wandelnden Arbeitsmarkt einstellen müssen, wenn sie Engpässe vermeiden wollen. Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheitspolitik bei der Gewerkschaft verdi, nannte den Fachkräftemangel "die Achillesferse der Gesundheitswirtschaft". Er forderte die Arbeitgeber auf, für eine bessere Balance zwischen Arbeit und Erholung zu sorgen. Nachholbedarf sieht er insbesondere bei Angeboten, die beim Abbau der hohen psychischen Belastungen der Beschäftigten im Gesundheitssektor helfen. Machnik forderte die Krankenhäuser auf, künftig stärker zu berücksichtigen, dass der Frauenanteil unter den Ärzten steigt. Ihre Forderungen an die Kliniken sind familienfreundlichere Arbeitsstellen, Abbau von Bürokratie, besser planbare Arbeitszeiten und die Überprüfung von Hierarchien in den Krankenhäusern. Die Experten sehen auch den Pflegebereich vom Fachkräftemangel betroffen. Weisbrod-Frey pochte in diesem Zusammenhang auf eine solide Ausbildung von Pflegekräften: "Da geht nichts mit schnell angelernt", sagte Weisbrod-Frey. Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg setzte sich für eine bessere Bezahlung von Pflegekräften und für eine Entlastung bei den hohen Ausbildungskosten ein, um der Bedeutung des Berufs besser gerecht werden zu können.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201202/h12024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Dr. rer. pol. Heiner Garg
Dr. Henrik Herrmann
Heinke Keil
Daniel Bahr
Dr. Frank Ulrich Montgomery
Dr. Peter Melloh
Dr. Hannelore Machnik

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Februar 2012
65. Jahrgang, Seite 12 - 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2012

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