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ARTIKEL/1267: Kinder- und Jugendmedizin - Pädiatrische Versorgung braucht neue Rahmenbedingungen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2012

Kinder- und Jugendmedizin
Pädiatrische Versorgung braucht neue Rahmenbedingungen

Von Dirk Schnack


Steigende Anforderungen, weniger Anreize: Der Berufsverband der Kinder- und Jugendmediziner warnt vor den Folgen unattraktiver Rahmenbedingungen.


Zahlreiche Kinder sind erkältet, warten auf ihre Vorsorgeuntersuchung oder sollen geimpft werden. Das Wartezimmer ist überfüllt, an der Anmeldung drängen besorgte Eltern auf schnelle Termine, die aber nicht immer möglich sind - Alltag in den Praxen der Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein. Zwar nimmt die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Schleswig-Holstein ab, zugleich verzeichnen die Pädiater aber einen zunehmenden Bedarf an qualifizierter Versorgung.

Längst nicht in allen Landesteilen Schleswig-Holsteins ist die ambulante Versorgung durch Kinderund Jugendärzte selbstverständlich. Im Land gibt es nach Angaben des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte 190 pädiatrische Arztsitze an 150 Praxisstandorten, davon sind neun in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ). Die anderen Sitze teilen sich je zur Hälfte auf Einzelpraxen und Berufsausübungsgemeinschaften auf. Die Verteilung der pädiatrischen Arztsitze auf dem Land ist inhomogen. Im nördlichen und nordwestlichen Schleswig-Holstein kommen bis zu 24.000 Einwohner auf einen Arztsitz, im mittleren und südlichen Landesteil sind es 13.000 bis 16.000 Einwohner und in kreisfreien Städten lediglich 9.000 bis 12.000. Diese Zahlen verdeutlichen, dass schon heute die schnelle Erreichbarkeit von Pädiatern nicht selbstverständlich ist - und sie zeigen nach Ansicht des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte, weshalb viele Eltern für die medizinische Betreuung ihres Nachwuchses in allgemeinmedizinische Praxen fahren müssen.

Landesweit werden laut Arztreport von BARMER GEK neun Prozent der Kinder bis zu fünf Jahren nicht vom Pädiater, sondern vom Hausarzt betreut. In Nordfriesland etwa wird jedes vierte Kind dieser Altersgruppe von Allgemeinmedizinern betreut (siehe Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2012). Dies könnte erst der Beginn einer Entwicklung sein, die bei Fortschreibung der Tendenz zu vergleichbaren Verhältnissen wie im Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern führt. Dort gibt es, wie berichtet, Landkreise, in denen schon bis zur Hälfte der Kinder nicht mehr vom Pädiater, sondern von einem Allgemeinmediziner betreut werden.

Kassenvertreter wie Ulrike Wortmann, verantwortlich für die BARMER GEK in Schleswig-Holstein, sehen deshalb keine Versorgungsdefizite, der Verband der Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein schon. Und der Landesvorsitzende Dehtleff Banthien aus Bad Oldesloe erwartet, dass der Bedarf nicht abnehmen, das bestehende Angebot in der ambulanten Versorgung aber weiter ausgedünnt wird. Nach seinen Angaben werden im Verlauf der nächsten zehn Jahre rund 40 Prozent der pädiatrischen Arztsitze im Land neu besetzt werden müssen. "Die Bereitschaft, sich in ländlicher Umgebung als Kinder- und Jugendarzt niederzulassen ist - ähnlich wie bei den Allgemeinärzten - gering", sagt Banthien.

Warum immer weniger Pädiater eine kinderärztliche Praxis auf dem Land führen wollen, ist für Banthien nachvollziehbar: "Arbeitsaufwand und Ertrag stehen insbesondere auf dem Land in keinem adäquaten Verhältnis. Da viele qualifizierte Leistungen kaum oder gar nicht bezahlt werden, wäre ein adäquater Umsatz bei den vorherrschenden niedrigen Regelleistungsvolumen nur durch "Masse" erreichbar", sagt Banthien. Diese "Masse" aber lässt sich für Kinderärzte auf dem Land kaum erzielen. Und wenn doch, lässt sie zu wenig Zeit für komplexere qualifizierte Leistungen - oder sie wird abgestaffelt. "Damit droht eine kinder- und jugendärztliche Niederlassung in der Fläche zunehmend unwirtschaftlich zu werden", so Banthien.

Gut also, dass es die Allgemeinmediziner gibt, von denen viele die kinderärztliche Versorgung übernehmen? Diese Einstellung vieler Kassenvertreter hält Banthien für kontraproduktiv. "Die Erfordernisse der modernen hausärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen müssen ernst genommen werden. Es darf nicht so getan werden, als wenn diese ohne jegliche spezielle Qualifikation geleistet werden könnte", sagt Banthien. Im Interview mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt (unten) macht er deutlich, wie sich die Anforderungen an die moderne Pädiatrie gewandelt haben und dass dafür aus seiner Sicht eine spezifische Qualifikation erforderlich ist.

Kinderärztliche Versorgung findet in vielen Fällen nicht beim Pädiater statt.

Während Kinder- und Jugendärzte und Eltern die angespannte Situation täglich in den Praxen erleben, werden potenzielle Nachfolger der Pädiater nach Beobachtung Banthiens abgeschreckt. Denn die Risiken einer unternehmerischen Tätigkeit und die aktuelle Ertragslage verunsichern nach seinen Erfahrungen viele junge Kollegen. Dazu beigetragen haben aus seiner Sicht die von Politik und Krankenkassen geschaffenen Strukturen mit Bedingungen wie Leistungspauschalierung, Budgetierung und Regressandrohungen. "Die aktuellen Erfahrungen zeigen, dass sogar im Bereich der Impfungen die Krankenkassen nicht davor zurückschrecken, auf Basis willkürlich gewählter Kriterien Prüfungen durchzuführen und Regressforderungen zu stellen, deren Höhe teilweise den Jahresumsatz einer Praxis erreichen können", berichtet der Vorsitzende des Landesverbandes.

Beim Hausärzteverband Schleswig-Holstein sieht man derzeit keine Alternative zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch die Hausärzte. Nach Auskunft von Dr. Thomas Maurer, Vorsitzender des Hausärzteverbandes, gibt es zum Beispiel in Nordfriesland zu wenige Kinderarztpraxen, um die Nachfrage zu decken. Kein Verständnis hat der in Leck niedergelassene Hausarzt für Forderungen, dass zwar Hausbesuche für Kinder durch Hausärzte geleistet werden können, diese aber dann nicht in den hausärztlichen Praxen weiter betreut werden sollen. Er verweist darauf, dass Hausärzte in aller Regel den kompletten familiären Hintergrund des zu versorgenden Kindes kennen, was für Pädiater oft nicht zutrifft. "Ich sehe mich als Arzt für die ganze Familie und nehme ungern eine Gruppe wie alte oder junge Menschen davon aus", beschreibt Maurer sein Selbstverständnis. Wo es eine zu geringe Kinderarztdichte gibt, wird sich nach seiner Ansicht immer mehr eine Versorgung durch pädiatrisch interessierte und fortgebildete Hausärzte in Zusammenarbeit mit kinderfachärztlichen Kollegen herausbilden.

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"Defizite nicht verharmlosen"

Der Arztreport der BARMER GEK zeigt, dass in manchen Landkreisen bis zu einem Viertel der Kinder unter fünf Jahren von Hausärzten betreut wird. Die Krankenkasse sieht damit keine Versorgungsdefizite verbunden.

Banthien: Es ist belegt, dass eine spezialisierte hausärztliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowohl in Bezug auf das Ergebnis wie auch in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit einer Versorgung ohne spezielle Qualifikation überlegen ist. Insofern kann ich die Schlussfolgerung der Krankenkasse nicht nachvollziehen, sie ist falsch. Die Kinder und Jugendlichen sind die letzte Patientengruppe im deutschen Gesundheitswesen, für deren hausärztliche Versorgung keine speziellen Qualifikationsvoraussetzungen verpflichtend gefordert werden. Dies wird weder der Wichtigkeit noch den wissenschaftlich nachgewiesenen speziellen Bedürfnissen dieser Patientengruppe gerecht.

Aber auch die Krankenkassen können Pädiater nicht zur Niederlassung auf dem Land zwingen. Es wird immer schwieriger, die frei werdenden pädiatrischen Arztsitze auf dem Land zu besetzen.

Banthien: Das ist richtig. Genau wie der allgemeinärztliche Bereich ist die kinder- und jugendärztliche Versorgung durch akuten Nachwuchsmangel bedroht. Weil Hausärzte das gleiche Problem haben wie Pädiater, werden sie vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung kaum noch die Zeit für eine adäquate pädiatrische Fortbildung und Versorgung auch nur der organischen Morbidität bei Kindern und Jugendlichen haben. Genau das ist der Grund, weshalb Krankenkassen das Problem endlich zur Kenntnis nehmen müssen und die bestehenden Defizite nicht länger unter Verweis auf die Mitversorgung durch Allgemeinärzte verharmlosen dürfen.

Aber die Zahl der Kinder nimmt ab - damit sind doch auch weniger Versorgungsangebote erforderlich. Brauchen wir in Zukunft überhaupt noch so viele Pädiater in der ambulanten Versorgung wie heute?

Banthien: Es gibt zwar weniger Kinder und Jugendliche, aber der Versorgungsbedarf steigt - das ist in anderen Altersgruppen auch zu beobachten. Der heutige Versorgungsbedarf unserer Patientengruppe ist nicht mehr mit dem von vor 20 Jahren zu vergleichen. Früher waren es eher organmedizinische Fragestellungen, mit denen wir zu tun hatten. Heute sind wir darüber hinaus mit dysfunktionalen Familienverhältnissen, Fragen der Bindung, der seelischen Gesundheit, sozialer Integration und Sicherstellung der Teilhabe konfrontiert. Um ein optimales Entwicklungsergebnis für einen maximalen Benefit der Gesellschaft zu erreichen, ist heute eine sorgfältige und vorausschauende medizinische Begleitung der Kinder und Jugendlichen dringend erforderlich.

Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um die von der Gesellschaft erwartete Versorgung zu gewährleisten?

Banthien: Zunächst müssen Politik, Krankenkassen und auch die ärztliche Selbstverwaltung anerkennen, dass ein spezifisch hausärztlich-pädiatrischer Versorgungsauftrag aus medizinischer und aus ökonomischer Sicht notwendig ist. Um die niedergelassene pädiatrische Tätigkeit in der Fläche wirtschaftlich gestalten zu können, muss die Honorierung von spezifisch qualifizierten pädiatrischen Leistungen verbessert werden. Die Qualifikationsvoraussetzungen für die Teilnahme an der qualifizierten pädiatrisch-hausärztlichen Versorgung müssen definiert werden. Und die Voraussetzungen für die Weiterentwicklung pädiatrischer Praxisstrukturen müssen endlich geschaffen werden - zur Beschäftigung von angestellten Ärzten, von Weiterbildungsassistenten, zur Delegation von Leistungen. Die Weiterbildungsordnung muss durch die Aufnahme von ambulanten Weiterbildungsinhalten ergänzt werden, außerdem sollte die Ausbildung in der ambulanten Pädiatrie entsprechend der schon bestehenden Förderung für Allgemeinmediziner finanziell gefördert werden.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201205/h12054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Dehtleff Banthien

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2012
65. Jahrgang, Seite 12 - 14
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2012

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