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INTERNATIONAL/046: Soziale Sicherung für Patienten und Ärzte - Anpassungen global erforderlich (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2019

Soziale Sicherung
Anpassungen global erforderlich

von Horst Kreussler


Die zehn größten Herausforderungen weltweit für die soziale Sicherung wurden beim jüngsten Sozialmedizinischen Kolloquium in Lübeck diskutiert.

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1 Mrd. Arbeitsmigranten gibt es weltweit. Im Land ihrer Tätigkeit sind sie häufig schlechter abgesichert als in ihrem Heimatland. Dies gilt auch für viele Ärzte.

400 Mio. Menschen, die über 80 Jahre alt sind, wird es laut Prognosen im Jahr 2050 weltweit geben.

40 % der Arbeitslosen sind 25 Jahre oder jünger. Weltweit ist Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit ein größeres Problem als derzeit in Mitteleuropa.
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Das System der sozialen Sicherung, für Patienten wie Ärzte lebenswichtig, ist in Bewegung geraten. Während hierzulande die durch Demografie und Digitalisierung verstärkte Diskussion Veränderungen anzutreiben scheint, werden international andere Herausforderungen thematisiert und angepackt.

Die zehn wichtigsten globalen Herausforderungen für die Zukunft hat die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit ISSA (deutsch IVSS) formuliert. Darüber referierte der derzeitige Präsident Prof. Joachim Breuer beim 136. Sozialmedizinischen Kolloquium in Lübeck. Er ist seit einigen Monaten Inhaber des noch im Aufbau befindlichen Stiftungslehrstuhls für Versicherungsmedizin an der Universität zu Lübeck, des ersten Lehrstuhls dieser Art (speziell nur für Versicherungsmedizin) in Deutschland. Hintergrund ist der Wunsch der Initiatoren, eine Brücke zwischen Sozialverwaltung national wie international und der Wissenschaft in Recht und Medizin zu schlagen.

• Die erste globale Herausforderung ist das Schließen der Deckungslücke - bei uns, so Breuer, eher ein Randproblem etwa für manche Selbstständige, die einen lückenhaften Versicherungsschutz haben. Gedacht ist hier wohl eher an die Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung als an die Rentenversicherung, die auch bei uns Millionen Menschen eher unter- als überversorgt.

• Zweitens nennt der ISSA-Bericht das Ziel einer Abmilderung der Ungleichheiten in der Gesellschaft, etwa bei der Einkommensverteilung, beim Zugang zu medizinischer Versorgung oder speziell bei Männern und Frauen. Auch hier sei global viel erreicht worden, allerdings eher nur auf den ersten statistischen Blick. Viele Ungleichheiten bestünden weiterhin, ja verschärften sich. Daher seien soziale Sicherungssysteme auszubauen, die eher steuer- als beitragsfinanziert und obligatorisch statt fakultativ seien, um mehr Rechtsansprüche zu gewähren. Die Botschaft des Berichts ist eindeutig: "Die soziale Sicherheit der Bevölkerung ist entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt."

• Drittens ist der demografische Wandel nach den Industrieländern auch weltweit angekommen. Die Zahl der über 80-Jährigen werde sich von 2000 bis 2050 auf über 400 Millionen verdreifachen, sagte Breuer. Um steigende Ausgaben und sinkende Einnahmen zu bewältigen und den Bedarf aller Menschen zu decken, müssten die Systeme der sozialen Sicherung ihre herkömmliche Schutzrolle "durch verstärkte Investitionen in Gesundheit, Beschäftigung und Eigenverantwortung ergänzen".

Offen blieb, wo bei uns solche Maßnahmen - denkbar wäre etwa die Einführung von Beitragsgutschriften für unbezahlte Pflegepersonen wie pflegende Familienangehörige - sichtbar sind.

• Die vierte Herausforderung ist weltweit die Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit junger Leute: 40 Prozent der Arbeitslosen sind unter 25 Jahre alt. In Mitteleuropa ist dies derzeit kein großes Problem.

• Hingegen werde (fünftens) die Umwandlung der Wirtschaft hin zu digitalen Arbeitsmärkten ("Industrie 4.0") mit Blick auf die Zukunft große Anpassungen erfordern. Aber: "Vielleicht die Hälfte der heutigen Schulkinder wird später in Berufen arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt - wie können wir sie dann darauf vorbereiten?", fragte Breuer. Allerdings schränkt der Bericht ein: "In der Medizin sind heute neue Technologien entscheidend für eine verbesserte Gesundheit, aber es gibt auch andere Aufgaben und Entscheidungen in diesem Sektor, die selbst auf lange Sicht kaum durch digitale Eingriffe ersetzt werden können."

• Sechstens sind Gesundheitsförderung und Prävention erheblich zu verstärken, um insbesondere die im höheren Alter gewonnenen Lebensjahre qualitativ befriedigend zu gestalten. Das gelte auch für die Behandlung chronischer Krankheiten und die Langzeitpflege, erläuterte Breuer. Und: "Wir müssen unsere Maßnahmen mehr auf die Hochrisikogruppen wie etwa stark Adipöse zuschneiden!"

• Eine leistungsfähige soziale Sicherung sei umso wichtiger, als (siebtens) weltweit mit neuen Risiken, Ungewissheiten und Extremereignissen gerechnet werden müsse: "Epidemien wie Ebola und Zika sowie aufkommende Trends wie etwa Antibiotika-Resistenzen verlangen neue Bekämpfungsstrategien." Das waren laut Bericht keineswegs immer teure Medikamente, sondern einfache Rehydrationsmaßnahmen, die am effektivsten über das gute alte Radio kommuniziert wurden.

• Achtens sei der Schutz der über eine Milliarde Binnen- und internationalen Arbeitsmigranten zu verbessern. Sie seien im Land ihrer Tätigkeit oft nicht so abgesichert wie in ihrem Herkunftsland - das betreffe alle Berufe, auch Ärzte.

• Neuntens sei der technologische Wandel hin zu mobilen Informations- und Kommunikationstechnologien, zu Big Data und E-Government zugleich Herausforderung und Motor für innovative Lösungen in der sozialen Sicherheit. Beispielsweise habe die Republik Korea ein Big-Data-Projekt eingeführt, das sämtliche Sozialdaten der 50 Millionen Einwohner anonymisiert umfasse.

• Hinzu kommen (zehntens) gestiegene öffentliche Erwartungen an die soziale Sicherung - oder umgekehrt wachsende (Bürokratie-)Kritik? So müsse die Sozialverwaltung zuverlässiger und schneller werden. Ob dabei ein eher unbekanntes kleines Land wie Aserbeidschan ein Muster liefern kann, wo die Rentengewährung "ohne Papierkram per SMS" erfolgt? Immerhin könnte das deutsche Sozialsystem (angeblich "Weltspitze") von anderen Ländern partiell lernen, bestätigte der Referent im Nachgespräch. Zum Beispiel im Pflegebereich von Japan, das für Demenzkranke spezielle Angebote entwickelt hat.

Nicht diskutiert wurde, ob die versicherungsmedizinische Forschung in Zukunft Sozialsysteme identifizieren kann mit besserer Transparenz der Leistungen, mit weniger Kompetenzüberschneidungen durch Trägervielfalt und vor allem mit stärker ausgeprägtem Solidarprinzip zugunsten unterversorgter Gruppen, so wie es der Altmeister der wissenschaftlichen Sozialpolitik, Prof. Heinz Lamparter, schon vor Jahrzehnten forderte.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201910/h19104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
dwww.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Oktober 2019, Seite 20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2019

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