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RECHT/661: Gesundheit und Recht - reformierendes, retardierendes oder reaktionäres Moment? (spw)


spw - Ausgabe 3/2021 - Heft 244
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Gesundheit und Recht: reformierendes, retardierendes oder reaktionäres Moment?

von Felix Welti (*)


I. Einleitung

Wenn Reformen des Gesundheitswesens diskutiert werden, kommt irgendwann die Rede auf Recht, Verrechtlichung, auf ein rechtlich gegliedertes System. Es zeigen sich Widersprüche: Einerseits ist Recht Fluchtpunkt fast jeder Reformdebatte: Wer verändern will, will sein Anliegen in einem Gesetz verewigen: Recht als Instrument der Reform. Andererseits wird vielen Ideen entgegengehalten, sie seien "aus rechtlichen Gründen" nicht zu realisieren: Recht als retardierendes Moment, vielleicht sogar als reaktionäres, weil es etablierte Positionen zu schützen scheint. Aber ist das so? Ist gewachsene rechtliche Regulierung eine eigenständige Fessel produktiver Kräfte? Oder ist "Das geht aus rechtlichen Gründen nicht" eine zu sich selbst und anderen höfliche Umschreibung von "Das haben wir schon immer so gemacht und wollen es auch nicht ändern", also nur ein Schleier ökonomischer und bürokratischer Interessen? Sind der Armen Rechte und der Reichen Pflichten noch immer nur leere Worte oder haben sich die Sozialgesetze der letzten 140 Jahre zu jenen Schranken des freien Marktes entwickelt, als die sie dessen Verfechter sehen?


II. Immer mehr Gesetze, immer mehr Recht?

Die bloße Menge von Rechtsnormen scheint die Verrechtlichung eindrucksvoll zu bestätigen: Das eng bedruckte Taschenbuch des Sozialgesetzbuchs mit seinen dreizehn Büchern und dem Sozialgerichtsgesetz hat mehr als 2.000 Seiten. Für die Gesundheitsversorgung sind alle relevant, die drei speziellen SGB V (Krankenversicherung), SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) und SGB XI (Pflegeversicherung) füllen allein fast 1.000 Seiten. Dazu kommen viele Gesundheitsberufe-, Gesundheitsprodukt-, Krankenhaus- und Einrichtungsgesetze von Bund und Ländern. Über ihnen liegt eine wachsende Zahl von EU-Normen. Unter dem gesetzlichen Recht ist dichtes Wurzelwerk von Verordnungen, Kollektivverträgen und Richtlinien. Das SGB V wird sehr oft geändert, 2020 zu 18 Terminen und an vielen Stellen. Unreformierbar scheint es nicht zu sein, eher wird Rechtsunsicherheit beklagt, die durch laufende Änderungen entsteht.

Aber ist die Menge öffentlichen Rechts überhaupt ein Indikator für Verrechtlichung? Andere in sich differenzierte Sektoren von Dienstleistung und Produktion mögen weniger und sich weniger schnell ändernde Gesetze haben. Was aber im deutschen Gesundheitswesen durch Gesetze und unter gesetzliche Normen geregelt wird, ist dort durch nicht weniger umfangreiche Verträge privaten Rechts reguliert, die die Öffentlichkeit nicht kennt.

Der hohe Grad sichtbarer Verrechtlichung kann also zunächst als Preis allgemeinpolitischer und selbstverwaltungsförmiger Vergesellschaftung des Gesundheitswesens interpretiert werden. In der Binnensicht des Rechtssystems heißt das Gesetzesvorbehalt: Alles Wesentliche muss von Verfassungs wegen durch Gesetz geregelt werden. Da es im Gesundheitswesen meist um Leben und Tod geht, mindestens aber um wirtschaftliche Existenzen, viel Geld oder um sensible Daten, lassen sich mit dem Gesetzesvorbehalt oft neue Gesetze begründen. Immer neue Regelungen sind Folge des Ringens um Kompromisse und des Strebens nach Handlungssicherheit. Regelungsdichte und Regelungstempo scheinen allerdings beides mittlerweile zu untergraben. Ab einer gewissen Dichte und Geschwindigkeit führen Regulation und Konflikt der Akteure nicht mehr dialektisch zum Fortschritt, sondern zu faux frais, zu falschen Produktionskosten.


III. Ein durch Gesetze gegliedertes System?

Das führt zur Frage, ob die Rechtsform an sich das Problem ist oder eher die Vielzahl institutioneller Akteure, die sich ihrer bedienen. Beides hängt allerdings zusammen: Kann man sich die eigentlich produktiven Einheiten, eine Physiotherapiepraxis oder ein Krankenhaus, vielleicht noch vorstellen, wenn man sich das Recht wegdenkt, ist das für Akteure wie Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen oder private Berufsverbände anders: Sie sind Zweckschöpfungen durch Recht um bestimmter rechtlicher Funktionen willen.

Käme man mit weniger Institutionen aus und alles würde einfacher? Ja, vielleicht, aber: Dieses Anliegen ist viele Versuche wert. Die vielen, die es schon gegeben hat, zeigen: Weniger Institutionen machen nicht alles automatisch einfacher. Hundert bundesweite Krankenkassen im Wettbewerb können komplizierter sein als 1.000 regionale mit eingegrenztem Aufgabengebiet. Fusionen haben schon manche funktionierende Behörde introvertiert und lahmgelegt. Institutionen abzuschaffen, bei denen Menschen arbeiten und auf die sich Menschen verlassen, ist so schwierig, dass viele Reformen damit endeten, neue Institutionen zu schaffen, die zwischen den alten vermitteln sollen: Arbeitsgemeinschaften, Servicestellen, Landes- und Bundesverbände sind so entstanden. Muss dabei aber die Unordnung ständig zunehmen? Oder kann Bürokratie planvoll entwickelt werden, so dass sie ihre unverzichtbaren Planungs- und Koordinationsfunktionen wahrnehmen, ihre notwendigen Übel aber eng begrenzen kann? Der äußere Rahmen eines solchen Plans ist die verfassungsmäßige Staatsorganisation. Ausgefüllt wird er durch Akteure mit eigenen ökonomischen und politischen Interessen, die Handlungsoptionen nutzen, die sie vorfinden.


IV. EU, Bund und Länder

Das Gesundheitswesen steht nicht im Mittelpunkt der EU-Kompetenzen. Gleichwohl ist seit den 1990er Jahren deutlich, dass prinzipiell marktfähige Güter und Dienstleistungen wie Arzneimittel, Krankenhausbehandlungen oder Versicherungen zum gemeinsamen Markt gehören. Sobald und soweit die Mitgliedstaaten ganz oder teilweise marktförmig regulieren, müssen sie dies auf den EU- und nicht den nationalen Markt ausrichten. Trotz des Kassenwettbewerbs hat der EuGH 2004 die deutschen Krankenkassen zutreffend als Behörden erkannt, deren gesetzlicher Auftrag vor allem die gemeinsame Organisation der Gesundheitsversorgung ist. Hätte er der Rhetorik der Kassenvorstände geglaubt, wären diese nicht nur im konkreten Fall wehrlos gegen die Marktmacht der Pharma-Industrie gewesen. Das deutsche Gesundheitswesen sähe wohl insgesamt anders aus, wenn sich im nächsten Schritt Versicherungskonzerne in die gesetzliche Krankenversicherung hätten einklagen können.

So bleibt das deutsche Gesundheitswesen im Kern national reguliert, also: durch Bund und Länder. Da das Grundgesetz dem Bund zwar eine Kompetenz für Sozialversicherung, für öffentliche Fürsorge und für den Zugang zu Gesundheitsberufen, nicht jedoch für das Gesundheitswesen als Ganzes zuweist und Verwaltung ohnehin erst einmal Ländersache ist, kann der Bund nicht alles regeln. Über extensive Sozialversicherungsgesetze ist der Bund über die Jahrzehnte schon bis an die Grenzen des von ihm Regelbaren gegangen. Infrastruktur und Prävention aber bleiben im Kern Länderaufgabe. Mehr noch: Viele bundesgesetzliche Regelungen im Sozialgesetzbuch können nicht sinnvoll ausgeführt werden, ohne dass Landesgesetzgeber und -behörden, Körperschaften auf Landesebene und insbesondere die Kommunen tätig werden. Insofern sind die Länder nicht nur punktuell über den Bundesrat an den Bundesgesetzen beteiligt, sondern ohne sie funktionieren diese nicht. Das ist unter dem Grundgesetz so gewollt und kann demokratisch fruchtbar gemacht werden. Es setzt jedoch voraus, dass auf jeder Ebene Gesundheitspolitik mit Geld, Aufmerksamkeit und Kompetenz hinreichend ausgestattet ist. Die Länder setzen bei der Infrastruktur von Krankenhäusern und Gesundheitszentren, Rehabilitation und Pflege keinen materiell unterlegten Schwerpunkt. Wer sich für Gesundheitspolitik interessiert, blickt eher nach Berlin als in die Landeshauptstädte. Schlimmer für Politik, als von Lobbyisten bedrängt zu werden, ist, wenn sich niemand für sie zu interessieren scheint.

Die Föderalismusreform von 2006 hatte die gewachsenen Beziehungen im Sinne einer klaren Zuordnung von Verantwortlichkeiten und Finanzen entflechten wollen. Das war theoretisch interessant (Fritz Scharpf: "Politikverflechtungsfalle"), aber unpraktisch. Für Bildung, Digitalisierung und die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist das im Grundgesetz schon wieder korrigiert (Art. 91a-91e GG). Für den Ausbau der Kinderbetreuung sind Bund-Länder-Staatsverträge das Mittel, um zu kooperieren (KiQuTG von 2018). Für einen bundesweiten Aus- und Umbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der gesundheitlichen Infrastruktur wäre das normative Instrument wohl noch zu schaffen.


V. Staat und Kommunen

Ebenfalls die Föderalismusreform 2006 hat verankert, dass der Bund Kommunen keine Aufgaben übertragen darf (Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG). Dies dürfen nur die Länder. Diese sind wiederum durch die in den Landesverfassungen enthaltenen Konnexitätsgebote gebunden: Jede neue Aufgabe für die Kommunen muss mit entsprechenden Mitteln unterlegt werden. Diese Normen, zum sinnvollen Schutz der Kommunen vor finanzieller Überforderung gedacht, führen zu sehr zurückhaltender Landesgesetzgebung bei allem, was Geld kostet, also auch beim Gesundheitswesen. Landesgesetze werden nur so allgemein formuliert, dass sich keine konkreten Handlungspflichten daraus ergeben. Dazu kommt, dass Kommunen in Haushaltsnotlagen auch freiwillig Geld nur noch für das ausgeben dürfen, was sie müssen, nicht mehr für das, was sie wollen. Die armen Gemeinden dürfen also keine kreative kommunale Sozial- und Gesundheitspolitik machen, die reicheren wollen es oft nicht. Wozu "freiwillige Aufgaben" für Kranke, Alte, Menschen mit Behinderungen? Dafür gibt es die Sozialversicherung, deren Ausbau immer auch, zuletzt bei der Pflegeversicherung, der finanziellen und inhaltlichen Entlastung der Kommunen diente. Anders als in den 1920er Jahren, der hohen Zeit präventiver kommunaler Gesundheitsverwaltung, oder in den 1970er und 1980er Jahren als kommunale Sozialstationen und Selbsthilfeförderung die Pflege- und Gesundheitsversorgung ergänzten, ist gesundheitspolitisches Engagement in die Arenen der Bundes- und der Berufspolitik abgewandert.


VI. Staat und Sozialversicherung

Am Anfang der Sozialversicherung war Verrechtlichung: Arbeiter wurden Versicherte, waren nicht mehr auf die Kapazität des gemeindlichen Armenarztes und des kirchlichen Hospitals und für den Verdienstausfall auf Familie und Fürsorge angewiesen, sondern bekamen einen klagbaren Anspruch. Sozialversicherungsträger konnten sich selbst Satzungen geben, mit Selbstverwaltung der Versicherten und Arbeitgeber. Sie wurden auch der erste Zugriff der Arbeiterbewegung auf kommunale Verwaltung und Gesundheitspolitik. Auch heute noch bieten Unfall-, Renten- und Krankenversicherung vor allem bei Prävention und Rehabilitation gewerkschaftliche Gestaltungsoptionen für arbeitsweltbezogene Gesundheitspolitik.

Doch woher bekommt die Sozialversicherung die benötigten Dienste und Einrichtungen? Die Tradition eigener Einrichtungen ist in Resten bei Unfall- und Rentenversicherung noch erhalten. Bei den Krankenkassen wurde sie von den Nationalsozialisten weitgehend beendet. Schon vor 1933 war der harte Kampf zwischen niedergelassener Ärzteschaft und Krankenkassen durch das System der Kassenärztlichen Vereinigungen als öffentlich-rechtlicher Pflichtkörperschaft befriedet worden, die Gesamtverträge mit den Krankenkassen schließen. Dieses System der "gemeinsamen Selbstverwaltung" behauptet seitdem für die niedergelassene Ärzteschaft eine doppelte Schutzrichtung: unmittelbar zum Schutz der Einkommensinteressen gegen die Kassen, mittelbar zum Schutz des Zuständigkeitsbereichs gegen Krankenhäuser, gegen größere Einheiten der ambulanten Versorgung und gegen nichtärztliche Berufsgruppen. Angesichts des Vorwärtsdrängens großer gewinnorientierter Krankenhauskonzerne in den Gesundheitsmarkt mag die antagonistische Kooperation von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen wie ein institutionalisiertes antimonopolistisches Bündnis wirken. Sie erscheint jedoch auch als Bremse produktiven Fortschritts durch größere und interdisziplinäre Einheiten, die auch kommunal- oder gemeinwirtschaftlich getragen sein könnten.

In den 1990er Jahren schienen sich die gesundheitsrechtlichen Vorzeichen zu ändern. Wettbewerb sowohl der öffentlichen Krankenkassen wie auch der öffentlichen, gemeinnützigen, freiberuflichen und kapitalbasierten Leistungserbringer sollte die Strukturen moderner und effizienter machen und Integrierte Versorgung ermöglichen. Der Kassenwettbewerb startete übrigens im Zeichen der Gleichheit: Das Bundesverfassungsgericht hatte die hohen Beitragssatzunterschiede, die sich aus unterschiedlicher regionaler Wirtschaftskraft und Versichertenstruktur ergaben, für bedenklich erklärt. Die Öffnung der vormals regional (AOK), betrieblich (BKK) oder ständisch (Ersatzkassen, IKK) gebundenen Kassen sollte gleiche und niedrigere Beitragssätze erreichen. Gleicher sind sie heute, niedriger eher nicht. Was an Verwaltungskosten gespart wurde, kam an Kosten des Wettbewerbs hinzu. Für lebenswelt- und populationsbezogene Gesundheitsversorgung fallen die bundesweit durchmischten Kassen immer mehr aus. Auch die Selbstverwaltung änderte sich: Wie in Aufsichtsgremien privater Unternehmen führte der Wettbewerb zu einer Identifikation mit dem Wettbewerbsziel anstelle lebensweltlicher und gesellschaftlicher Interessenvertretung. Vor kurzem wurde unlauterer Wettbewerb zwischen den Krankenkassen - immer noch Behörden - explizit verboten (§ 4a SGB V), während die Kooperationspflicht nie aufgehoben worden war. Auf der Leistungserbringerseite schuf der Geist der 1990er Jahre Raum für privates Krankenhaus- und Pflegeheimkapital, das jedoch die begrenzten Wettbewerbsräume nicht nutzte, um Angebote für sozial integrative Versorgungskonzepte zu machen, sondern um profitträchtige Einzelleistungen und Standorte zu identifizieren. Inzwischen suchen immer mehr Reformen notgedrungen tastend den Weg heraus aus dieser wenig zielführenden Mischung von Korporatismus und Wettbewerb. "Hybrid" ist auch hier mäßige Fahrleistung mit schwerem Gepäck, das unter anderem in widersprüchlichen Rechtsnormen besteht.

Der Zuwachs an bundesweiten Krankenkassen und bundesrechtlicher Regulierung hat zudem die Probleme bei ihrer Kooperation mit Ländern und Kommunen verschärft. Das ist auch eine Frage des Verfassungsrechts: Kassen unter Bundesaufsicht (Art. 87 Abs. 2 GG) fehlt der rechtliche Antrieb, sich in effektive Kooperation mit den Ländern zur Bedarfsplanung und den Kommunen zur Prävention zu begeben.


VII. Systeme und Lebenswelten - ist Kooperation möglich?

Niklas Luhmann, Jurist und Soziologe, scheint Behörden gut beobachtet zu haben. Er interpretierte Institutionen als durch einen einzigen Code geprägte Teile von Systemen, die sich selbstreproduzieren und mit ihrer Umwelt kaum kommunizieren können. Das scheinen Sozialleistungsträger bisweilen eindrucksvoll zu bestätigen: Sie geben vor, allein nach "ihrem" Gesetz zu handeln, das um einen Schlüsselbegriff wie "Krankheit", "Behinderung", "Arbeitsunfall", "Erziehung" oder "Arbeitslosigkeit" aufgebaut ist. Was nicht zu diesem Code gehört, ist störendes Rauschen. Daran verzweifeln diejenigen Sozial- und Gesundheitsberufe, die mit "Ganzheitlichkeit", "Sozialraum" oder "Lebenslauf" eine integrative Perspektive einnehmen wollen, aber konkret auch diejenigen (vielen) Personen, die in mehr als einer der genannten Dimensionen Unterstützung brauchen.

Weil die einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches greifbare Symbole institutioneller Abschottung sind, hält mancher sie für deren Ursache. Es wird dann nach "SGB-übergreifenden" Lösungen gesucht. Aber: Schon am Anfang des Sozialgesetzbuchs stand genau dieser Impuls. Denn es ist nur ein Sozialgesetzbuch mit verschiedenen Büchern, das seinen Ausgangspunkt in der Regierungserklärung Willy Brandts von 1969 hatte. Am Anfang standen die allgemeinen Teile, das SGB I (1975), SGB IV (1977) und das SGB X (1981), die genau das seit dem Bericht der Sozial-Enquête von 1966 - sie forderte unter anderem einen gemeinsamen Rehabilitationsträger - drängender gewordene Anliegen aufnahmen: gemeinsame Prinzipien, verbindende Rechte der Bevölkerung auf trägerübergreifende Aufklärung. Auskunft, Beratung, Antragsaufnahme und Sorge für die soziale Infrastruktur (§§ 13-17 SGB I) und die Pflicht der Sozialleistungsträger zur strukturierten Zusammenarbeit (§§ 86-96 SGB X). Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann hat das als Sozialpolitik zweiter Ordnung bezeichnet, mit der die Eigeninteressen der Institutionen sinnvoll begrenzt werden sollen.

Gibt es eine der Schwerkraft vergleichbare Selbstläufigkeit der Systeme? Das macht die Systemtheorie unbefriedigend für Menschen, die gut materialistisch fragen, ob gesellschaftlichen Verhältnissen Interessen zu Grunde liegen. Die mag man noch dechriffriert sehen bei der Abgrenzung zwischen beitrags- und steuerfinanzierten Behörden. Aber was steckt hinter einem Zuständigkeitsstreit zwischen Krankenkasse und Rentenversicherung, die doch ähnlichen Zielen verpflichtet sind, von den Abzügen vom Lohn der gleichen Menschen finanziert und von den gleichen Gewerkschaften mitkontrolliert werden? Es gibt ein Interesse von Institutionen an sich selbst, hinter dem Menschen stehen, denen die Institution zu Einkommen, Sinn und Relevanz verhilft. Das gibt es auch bei schlichten Behörden. Institutionelle Designs, wie ein Kassenwettbewerb, in dem Führungspersonal der Verlust gut bezahlter Positionen droht, können diesen Faktor nicht unerheblich verstärken.

Kooperation der Sozialleistungsträger bei der Gesundheitsversorgung ist keine neue Idee. Die gemeinsamen Servicestellen der Rehabilitationsträger (2001) wurden 2016 wieder abgeschafft, weil die Träger sie nie dem gesetzlichen Auftrag entsprechend ins Werk gesetzt hatten. Die Pflegestützpunkte (2008) (§§ 7-7c SGB XI) zur Kooperation zwischen Pflegekassen und Kommunen bestehen zum Teil in regionaler Kooperation von Kommunen und Kassen, wenn sie auch keine Macht zur Koordination und Planung haben. Besonders anspruchsvoll wirkt die durch das Präventionsgesetz (2015) in §§ 20-20h SGB V festgeschriebene Struktur der Kooperation der Krankenkassen miteinander, mit anderen Sozialleistungsträgern und den Kommunen in einer nationalen Präventionskonferenz, Landesarbeitsgemeinschaften und übergreifender Prävention in Betrieben und Lebenswelten. Letzterer gemeinsamer Bezugspunkt wirkt wie ein trotziges Bestehen auf der von Habermas philosophierten Kraft der Kommunikation gegen die systemtheoretisch beschriebene Kommunikationsunfähigkeit. Die seitenlangen gesetzlichen Vorgaben haben sich aber eher nicht hinreichend in gemeinsames regionales und betriebliches Handeln zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit der Gesundheitschancen (§ 20 Abs. 1 SGB V) übersetzt. Die Krankenkassen haben immerhin gemeinsam vor Gericht durchgesetzt, dass sie auf Bundesebene nicht die Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finanzieren müssen (BSG, Urt. v. 18.5.2021, Az. B 1 A 2/20 R). Der Bund, so das Bundessozialgericht, ist für allgemeine Prävention nicht zuständig, aus Beitragsmitteln muss sie nicht finanziert werden. Zur effektiven Zusammenarbeit bei bevölkerungsbezogener Prävention miteinander, mit den Ländern und Kommunen kann die Kassen, wie es scheint, in der gegenwärtigen Lage ebenfalls niemand wirksam verpflichten.


VIII. Basis und Überbau
Eine materialistische Analyse des Gesundheitsrechts kann sich nicht damit begnügen, die Interessen gewinnorientierter Akteure zu identifizieren und zu kritisieren. Auch Non-Profit-Akteure wie Krankenkassen, Kommunen und die freie Wohlfahrtspflege können institutionelle Eigeninteressen haben, die einer bevölkerungsbezogenen und auf soziale Gleichheit von Gesundheitschancen gerichteten Politik entgegenwirken. Ohne eine kritische Bürokratietheorie ist die politische Ökonomie des Gesundheitsrechts unvollständig. Eine zentrale Steuerung des Gesundheitswesens allein mit dem Medium des Gesetzes stößt immer wieder an Grenzen, wie sich an bisherigen Reformen studieren lässt. Soziale, berufliche und kommunale Selbstverwaltung und die Selbstorganisation der Betroffenen können probate Mittel sein, Gegengewichte zu ökonomischen und bürokratischen Interessen zu setzen. Dafür bedarf es jedoch eines institutionellen Rahmens, in dem sie sich bewegen können, der nicht nur die zentralstaatliche Ebene erfasst.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine Markt-, Wettbewerbs- und Gewinnorientierung nicht geeignet ist, die inhaltlichen Zukunftsfragen der Gesundheitsversorgung zu lösen. Auch kann ein tragfähiger Kompromiss politischer Strömungen und Interessen nicht allein durch die Addition öffentlicher und privater, staatlicher und wettbewerblicher Strukturen hergestellt werden. Zuletzt die Corona-Krise und zuvor die Herausforderungen der chronischen Volkskrankheiten und der sozialen Ungleichheit von Gesundheitschancen haben gezeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem zu wenig über sich und seine Kapazitäten, aber auch über die Gesundheit der Menschen und ihre Bestimmungsgründe weiß. Der Markt scheidet hier als effizientes Informationssignal selbst dort meist aus, wo die Menschen formale Wahlfreiheiten haben. Aber auch die verwaltungsförmige Planung ist unterinformiert und hat zu wenig Kompetenzen für die regionalen Strukturen. Das hat technische, rechtliche und institutionelle Gründe. Um das deutsche Gesundheitswesen auf die Höhe seiner möglichen Produktivität für die bestmögliche Gesundheit aller zu bringen, müssen diese im Kontext reformiert werden. Das ist wohl nur dann aussichtsreich, wenn sich eine die politischen Strömungen, Interessen und staatliche Ebenen übergreifende Koalition herausbildet, wie sie auch für eine Verfassungsänderung gebraucht wird. Unter dem Eindruck von Corona könnte das wahrscheinlicher sein als vorher.


Literatur:
  • Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Neustart! für das Gesundheitsrecht. Ein Handlungskatalog für Politik und Selbstverwaltung, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-9395-7465-1:
  • https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2021-06/Neustart_f%C3%BCr_das_Gesundheitsrecht.pdf
  • Welti, Felix: Der Einfluss des Europäischen Wettbewerbsrechts auf die Organisation des deutschen Gesundheitswesens, in: Joachim Rock (Hrsg.), Die Zukunft des Sozialen - in Europa? Soziale Dienste und die europäische Herausforderung, Baden-Baden 2019, ISBN 978-8329-5689-9
  • Welti, Felix: Gesundheitsförderung und Prävention im System des Sozialversicherungsrechts seit Inkrafttreten des Präventionsgesetzes, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Arbeitsrecht (VSSAR) 2019, S. 313-327
  • Welti, Felix: Gibt es ein Recht auf bestmögliche Gesundheit? in: Bettina Schmidt (Hrsg.), Akzeptierende Gesundheitsförderung Unterstützung zwischen Einmischung und Vernachlässigung, Grundlagentexte Gesundheitswissenschaften, Weinheim/Basel 2014, S. 35-50
  • Welti, Felix: Die gesetzliche Krankenversicherung im Kräftefeld der Gesundheitspolitik, in: Soziales Recht 3.2012, S. 124-133

(*) Prof. Dr. iur. Felix Welti arbeitet am FB Humanwissenschaften der Universität Kassel und ist Mitherausgeber der spw.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2021, Heft 244, Seite 57 - 62
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 14. September 2021

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