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STELLUNGNAHME/004: Zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie)


Deutsche Gesellschaft für Gesundheitskökonomie - Donnerstag, 28. Oktober 2010

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz


Die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie sieht das in der parlamentarischen Beratung stehende Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz kritisch. Der Zwangsrabatt zugunsten der GKV ist eine rein dirigistische Kostendämpfungsmaßnahme. Er ist bestenfalls als Notbremse anzusehen, falls andere Maßnahmen kurzfristig nicht greifen. Um die Effizienz im deutschen Gesundheitssystem zu verbessern, hätte der Spielraum der Krankenkassen für selektive Verträge mit den Herstellern und Ärzten über die Versorgung ihrer Versicherten mit Arzneimitteln erweitert werden müssen.

Zweitens bemängelt die dggö die fast vollständige Aufgabe der Kosten-Nutzenbewertung, die eine wesentliche Innovation des letzten Reformgesetzes darstellte. Statt die KNB konsequent weiterzuführen, schafft der Gesetzgeber sie ab und öffnet so Tür und Tor für intransparente Entscheidungen über die Kostenerstattung von Arzneimitteln.


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Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz

Der Gesetzgeber hat die Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den vergangenen Jahren vielfach und mit wechselndem Fokus reformiert. Das gegenwärtige Regulierungssystem umfasst 27 Instrumente, die auf den Preis, die Menge oder die Qualität der Medikamente abzielen. Im Unterschied zu anderen Ländern wie Frankreich und Großbritannien, in denen das Schwergewicht der staatlichen Arzneimittelregulierung auf der Herstellerebene liegt, überantwortet das deutsche System den Ärzten zu einem großen Teil die Aufgabe, den Umfang und das Wachstum der Arzneimittelausgaben der GKV zu steuern. Das dauernd wechselnde Regulierungsumfeld führt bei Herstellern und Krankenkassen zu zusätzlichen Kosten. Die Koordination von Angebot und Nachfrage zur Bildung effizienter Preise auf dem GKV-Arzneimittelmarkt funktioniert nicht angemessen.

Das von der Bundesregierung jüngst beschlossene Maßnahmenbündel beinhaltet sowohl kurzfristige Instrumente (Anhebung des Zwangsrabatts der Hersteller von 6 auf 16% und ein Preismoratorium bis Ende 2013) als auch langfristige, strukturelle Änderungen, die im Gesetzentwurf zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) zusammengefasst sind.

Der Zwangsrabatt zugunsten der GKV ist eine rein dirigistische Kostendämpfungsmaßnahme. Er ist bestenfalls als Notbremse anzusehen, falls andere Maßnahmen kurzfristig nicht greifen. Um die Effizienz im deutschen Gesundheitssystem zu verbessern, hätte der Spielraum der Krankenkassen für selektive Verträge mit den Herstellern und Ärzten über die Versorgung ihrer Versicherten mit Arzneimitteln erweitert werden sollen. Die kurzfristig wirksamen Sparbeiträge sollten zeitlich begrenzt werden.

Das letzte Reformgesetz hat eine für die Effizienzsteigerung wesentliche Innovation eingeführt: die Kosten-Nutzenbewertung. Ohne dass der Gesetzesauftrag erfüllt wurde, soll sie nun fast vollständig wieder aufgegeben werden. Bei einer Einigung zwischen Spitzenverband und Hersteller über die Höhe von zusätzlichen Rabatten entfällt damit auch die Bewertung der Wirkung auf die Versorgungslandschaft. Mit dem AMNOG werden die pharmazeutischen Unternehmen künftig dazu verpflichtet, den Nutzen ihrer Arzneimittel bei Markteinführung nachzuweisen und, falls ein Zusatznutzen vorliegt, mit dem GKV-Spitzenverband innerhalb eines Jahres einen Rabatt auf den von ihnen gesetzten Abgabepreis mit Wirkung für alle Krankenkassen zu vereinbaren. Können sich die beiden Parteien nicht einigen, wird ein Schiedsspruch erforderlich, um einen Erstattungsbetrag unter Berücksichtigung der Abgabepreise in anderen europäischen Ländern festzulegen.

Arzneimittel ohne nachgewiesenen Zusatznutzen werden dagegen entweder einer bestehenden Festbetragsgruppe zugeführt oder die Erstattungshöhe auf den Preis vergleichbarer Arzneimittelbegrenzt. Kosten-Nutzen-Bewertungen werden durch den Gesetzentwurf an das Ende des neu aufgesetzten Verfahrens verlagert; sie haben den Charakter einer nachgelagerten, optionalen "Kann-Vorschrift".

Um den Zusatznutzen des Arzneimittels zu ermitteln, muss der Hersteller innerhalb eines vorab bestimmten Zeitraums eine Versorgungsforschungsstudie durchführen, die zu validen gesundheitsökonomischen Daten führen soll. Wichtig ist es, dass hierzu ein transparentes Verfahren entwickelt wird, das verbindliche Qualitätskriterien vorab festlegt und den Zeitrahmen je nach Art der Fragestellung variiert. Die Krankenkassen sollten zur Unterstützung der Versorgungsforschung die erforderlichen Daten einfach und schnell zur Verfügung stellen. Die gewählten Methoden müssen internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin und der Gesundheitsökonomie genügen, Um normativ nicht gewollte indikationsspezifische Ungerechtigkeiten zu vermeiden, muss auch eine evidenz-basierte Möglichkeit zum indikationsübergreifenden Vergleich gewährleistet sein. Dafür eignet sich das Konzept der QALYs, für das eine Referenzmethode für das deutsche Gesundheitssystem zu entwickeln ist.

Ziel eines kontrollierten Wettbewerbs auf dem GKV-Arzneimittelmarkts sollte es sein, eine preisgünstige Arzneimittelversorgung mit Standardmedikation anzubieten, um dort, wo es notwendig ist, auch einen Spielraum für Innovationen zur Verfügung zu haben. In diesem Zusammenhang sind Kosten-Nutzen-Analysen grundsätzlich unverzichtbar, damit die Beteiligten alle Informationen über die vorliegenden Kosten und Nutzen besitzen. Die Resultate der Kosten-Nutzen-Bewertung werden zu den Preisverhandlungen benötigt, nicht danach, daher sollten die Anforderungen an das Firmendossier entsprechend angepasst werden.

Ohne vorangehende Kosten-Nutzen-Bewertung können bei der Festsetzung des GKV-Erstattungsbetrags gemäß AMNOG nur die Arzneimittelpreise, nicht aber die gesamten Therapiekosten berücksichtigt werden. Wo Einsparungen an anderer Stelle wegen des Einsatzes eines neuen Arzneimittels die GKV-Ausgaben senken, muss dies bei der sachgerechten Festsetzung der GKV-Erstattungshöhe berücksichtigt werden. Eine reine Nutzenbewertung springt an dieser Stelle viel zu kurz.

In vielen Fällen wird der GKV-Erstattungspreis von der neu geschaffenen Schiedsstelle festgesetzt werden - diese wird in erster Linie ausländische Referenzpreise und die absolute Höhe der GKV-Ausgaben für das jeweilige Arzneimittel für die GKV berücksichtigen und kann ebenfalls nicht das Verhältnis von Zusatznutzen und Zusatzkosten im deutschen Gesundheitssystem - und damit die Effizienzaspekte - sachgerecht bewerten.

Weiterhin sieht das AMNOG vor, dass am Ende des Regulierungsmechanismus ein GKV-Erstattungspreis steht, der durch einen Rabatt auf den Herstellerabgabepreis realisiert werden soll. Die Ablösung des Konzeptes des Erstattungshöchstbetrages zugunsten eines GKV-Abgabepreises ignoriert Effizienzgewinne, die sich aus einer Differenzierung von Erstattungsbeträgen ergeben. Der Erstattungsbetrag muss sich nicht auf den durchschnittlichen Zusatznutzen beziehen, sondern kann getrennt für Patientengruppen oder Indikationen berechnet werden, für die der Zusatznutzen unterschiedlich hoch ist. Auf dieser Grundlage könnten die Kassen über individuelle Verträge mit den Herstellern Preisnachlässe verhandeln und damit auch jene Patienten versorgen, die einen geringeren Nutzen aus der Anwendung des Arzneimittels ziehen. Die Zukunftsfähigkeit des GKV-Arzneimittelmarkts kann letztlich nur durch eine Reform erreicht werden, das transparente und stärker wettbewerbliche Lösungen beinhaltet, bei denen der Staat eindeutige und zeitlich konsistente Regeln setzt und möglichst viel der freien Vertragsgestaltung zwischen Krankenkassen, Versicherten und Leistungserbringern überlässt.


Die DGGÖ wurde vor zwei Jahren in Berlin gegründet und hat 400 Mitglieder. Sie hat in Ihren Reihen alle führenden wissenschaftlichen Gesundheitsökonomen Deutschlands.

Als Ansprechpartner stehen die Mitglieder des Engeren Vorstandes zur Verfügung:

Prof. Dr. Stefan Willich, Humboldt-Universität Berlin (Vorsitzender)
Charité - Universitätsmedizin Berlin,
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie
E-Mail: stefan.willich@charite.de

Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth (designierter Vorsitzender)
Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
E-Mail: volker.ulrich@uni-bayreuth.de

Prof. Dr. Friedrich Breyer, Universität Konstanz (stellv. Vorsitzender)
Universität Konstanz, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialpolitik
E-Mail: friedrich.breyer@uni-konstanz.de

Prof. Dr. Stefan Felder, Universität Duisburg-Essen (Generalsekretär)
Universität Duisburg-Essen, Wirtschaftswissenschaften Gesundheitsökonomik
E-Mail: stefan.felder@uni-due.de

Die Adressen inkl. Telefonnummer können Sie unserer Homepage unter
www.dggoe.de
entnehmen.


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Quelle:
dggö - Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie e.V.
Presseerklärung vom 28.10.2010
Universität Duisburg-Essen
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E-Mail: geschaeftsstelle@dggoe.de
Internet: www.dggoe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010