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SOZIALES/014: Verzweifelte Patienten - Eine große Herausforderung für den Arzt (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2015

Verzweifelte Patienten
Eine große Herausforderung für den Arzt

Von Horst Kreussler


Ärztliches Verständnis für Verzweiflung und Hoffnung kann zu einer menschlichen Medizin beitragen.


Auch in der modernen Medizinwelt gibt es wohl neben all den "coolen" oder indifferenten Patienten nicht wenige, die nach infauster Prognose, nach terminaler Chemotherapie oder nicht mehr ausreichender Schmerztherapie physisch und psychisch am Ende ihrer Kräfte sind und geradezu verzweifeln. Wenn Ärzte in einer solchen auch für sie schwierigen Situation unsicher sind, könnte ein Blick in die Geschichte nützlich sein, wie Prof. Dietrich von Engelhardt (ehemals Lübeck, jetzt München/Greifswald) kürzlich im UKE aufzeigte. Die Botschaft seines Referats im Arbeitskreis Interdisziplinäres Ethik-Seminar lautete etwa so: Verzweiflung und Hoffnung verbinden Patient und Arzt. Das Thema Verzweiflung gehört zur menschlichen Existenz und ist seit der Antike in Medizin, Philosophie und Kunst immer wieder in sehr vielfältiger Weise behandelt worden. Verzweiflung kann nicht nur negativ gesehen werden - und es gibt Möglichkeiten der Bewältigung.

Einige Beispiele seien herausgegriffen, welche die Vielschichtigkeit und damit verschiedene Ansatzmöglichkeiten für den Umgang mit verzweifelten Menschen andeuten. In der mittelalterlichen Philosophie wurde der Hoffnung (spes) zum einen die Hoffnungslosigkeit (desperatio), zum anderen die Vermessenheit (praesumtio) gegenübergestellt. Eine andere Unterscheidung, die ebenfalls von eindimensionaler Ausweglosigkeit wegführen könnte, betrifft die bildliche Darstellung des körperlichen und des seelischen Schmerzes (dolor und tristitia) etwa bei Matthias Grünewald. Für gläubige Menschen mag die oberste Regel des Benediktinerordens hilfreich sein, an Gottes Barmherzigkeit niemals zu verzweifeln. In Dantes "Göttlicher Komödie" aus dem 14. Jahrhundert hören wir, so von Engelhardt, immer wieder Schreie der Verzweiflung, finden aber auch Vorstufen wie die Mönchskrankheit Melancholie oder die Todsünde der geistigen Trägheit (acedia). Hier werde sichtbar, dass häufig auftauchende Zweifel nicht ohne weiteres in Verzweiflung münden müssten. In der Reformationszeit sprach Martin Luther von "heilsamer Verzweiflung" (salutaris desperatio) und von möglicher Zerstörung der Vermessenheit - das könnte Hoffnung bedeuten selbst in einer sehr düsteren Lage. Andererseits könne das wohl auch heißen, dem Patienten keine falschen Hoffnungen zu machen, so ein Seminarteilnehmer.

In der Neuzeit mehren sich die Gedanken, wie der Mensch Verzweiflung vermeiden und überwinden könne. Immanuel Kant verstand Philosophie auch als eine Art praktische "Universalmedizin" für manche Leiden. So meinte er 1794 in einem später veröffentlichten Brief an Christoph Wilhelm Hufeland (Leibarzt des preußischen Königs), der Mensch könne im Sinne der antiken Diätetik und Lebenskunst "mit der Macht des Gemüts durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister sein". Verzweiflung, die entweder kleinmütig oder waghalsig sei, könne (so sei es wohl gemeint) in leichterer Form mutig selbst überwunden werden, in schwererer Form mit medizinischer Hilfe. Kants Zeitgenosse, der Arzt Johann Georg Zimmermann, der selbst an Depressionen litt, schlug als Rezept das Lesen aufbauender Werke (Bibliotherapie) oder das Schreiben (Graphotherapie) vor. In der romantischen Medizin kam erstmals der Begriff einer Musiktherapie auf im Sinne einer "Katzenorgel" (Johann Christian Reil), die die Starrheit von Verzweifelten lösen sollte. Der einflussreiche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ebenfalls zeitweise depressiv, setzte auf philosophische Psychotherapie, meinte aber auch, in bestimmten Fällen (wie bei seinem Freund Hölderlin) könne Verzweiflung eine sinnvolle Stufe einer edlen inneren Existenz bedeuten, also fast positiv gedeutet werden. Auch Goethe, dem depressive Stimmungen nicht fremd waren, schrieb in den "Wahlverwandtschaften": Verzweiflung kann auch geboten, Tröstung unangebracht sein. Und später im "Westöstlichen Diwan": Schutz vor Verzweiflung könne Nichtwissen sein - ein zugleich moderner Gedanke angesichts der Problematik maximaler ärztlicher Aufklärung.

Fast noch in die Gegenwart gehört der Arzt und Philosoph Karl Jaspers (1883-1969), der die Unsicherheit der modernen Existenz treffend etwa so beschrieb: Der Wandel der Zeit lässt uns in immer neue Zweifel geraten. Unsere Grundhaltung der Sorge kann aber nicht zwingend widerlegt werden. Doch ist Gelassenheit möglich, die die Angst nicht aufhebt, sie aber beherrscht.

In der Diskussion überwogen die kritischen Anmerkungen aus der ärztlichen Praxis. So die Beobachtung eines pensionierten Kinderarztes aus dem UKE, heutzutage sähen die jüngeren Kollegen die Patienten zu wenig an und sie sähen ihnen zu wenig in die Augen und könnten so eine Verzweiflung weniger wahrnehmen.

Aus heutiger Sicht wäre anzumerken, dass ärztliches Verständnis für Verzweiflung und Hoffnung zu einer menschlicheren Medizin beitragen könnte - so etwa Prof. Rolf Verres (früher UKE) beim letzten Tag der Lehre in Lübeck. Ganz existenziell dürfte das Moment der Verzweiflung bei manchen äußerst sterbenswilligen Patienten sein, die sich zwischen den Polen Lebenserhaltungsmaxime (ärztliches Standesrecht, Patientenvertrauen) sowie Schmerztherapie/Palliativmedizin einerseits und dem fundamentalen Autonomieprinzip andererseits verloren fühlen: eine große Herausforderung für den Arzt.


Info

Verzweiflung gehört zur menschlichen Existenz und ist seit der Antike in Medizin, Philosophie und Kunst vielfältig behandelt worden.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201502/h15024a.htm

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www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Nr. 2/2015, Februar 2015, Seite 38
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2015

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