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AUSLAND/1439: Nothilfe-Update Gaza (medico international)


medico-Newsletter 4/2009 - Donnerstag, 22. Januar 2009

Nothilfe-Update Gaza


Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,

Die gute Nachricht zuerst: Die zwei LKWs mit medizinischen Hilfsgütern unserer israelischen Partnerorganisation "Ärzte für Menschenrechte" (PHR-IL) für den Gazastreifen kamen durch. Die 300 Menschen, darunter auch Tsafrir Cohen und ich, die den Transport am letzten Freitag mit einem Protestkonvoi bis zum Kerem Shalom Checkpoint begleiten wollten leider nicht.

Mit einer Straßensperre in Ashkelon (10km von Gazastreifen entfernt) verhinderte die israelische Polizei die Solidaritätsaktion "mit den Bewohnern von Gaza und dem Süden Israels". Die Aktion von jüdischen und arabischen Ärzten, sowie Mitarbeitern des Gesundheitswesens direkt am Gazastreifen würde die öffentliche Ordnung stören. Daraufhin musste die Kundgebung "Für eine sofortige Waffenruhe und eine politische Lösung und das Ende der Besatzung" vor das Verteidigungsministerium nach Tel Aviv verlagert werden.

Mittlerweile haben sich die Ärzte von PHR-IL auch eine Zugangsgenehmigung für den Gazastreifen erstritten. Ab morgen früh wird dann ein Team von israelischen Ärzten ihren palästinensischen und internationalen Kollegen in Gaza zur Seite stehen.

Ein Update zur Lage im Gazastreifen und den Nothilfeaktivitäten unserer palästinensischen Partner mit aktuellen Bildern finden Sie in diesem Newsletter und auf www.medico.de

mit freundlichen Grüßen,
Bernd Eichner
medico international


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"Von Normalität kann keine Rede sein"

Update 22.1.09: Nothilfe im Gazastreifen

Seit dem Beginn des Waffenstillstands sind die 70 Mitarbeiter und das Freiwilligennetzwerk der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS) hauptsächlich mit der Versorgung von Verwundeten und der Verteilung von Erste-Hilfe-Paketen beschäftigt. Ärzte suchen die Patienten auch zuhause auf, um die Verbände zu wechseln.

Die PMRS-Ambulanzen versuchen Menschen, deren schwere Verletzungen im Gazastreifen nicht adäquat behandelt werden können, zu den Grenzübergängen zu bringen. Bisher gelang es 10 Kinder auszufliegen. Durch die 18-monatige Blockade des Gazastreifens wurde dem Gesundheitswesen so zugesetzt, dass es die aktuelle Situation kaum bewältigen kann. Darüber hinaus werden die Ambulanzen dazu genutzt, Patienten in das für ihre Verletzungsart passende Krankenhaus zu verlegen. Während der Kämpfe konnten die Verwundeten nur in die nächstgelegene Klinik gebracht werden - nicht aber in das für sie am besten geeignete.

Die mobilen Kliniken der PMRS kehren langsam in die besonders armen und vernachlässigten Gebiete (z.B. Zeitun, Samuni oder Beit Lahiya) zurück. Am 21.1.09 fuhren sie den Norden des Gazastreifens. Am 22.1.09 sind sie im Süden nahe Rafah an der Grenze zu Ägypten im Einsatz. Auch diese ländlichen Gebiete waren von dem israelischen Bombardement stark betroffen.

Unterstützt werden die Teams der mobilen Kliniken von Sozialarbeiterinnen. Sie suchen nach weiteren Verwundeten und benachrichtigen die Ärzte, falls dies notwendig ist. Darüber hinaus bereiten sie die Hilfsgüterverteilung vor und erheben den lokalen Bedarf (Wie viele Menschen sind verletzt? Werden Lebensmittelhilfen oder Kochgeräte benötigt? Schadensausmaß? Sonstige Bedürfnisse?).

Die mit medico-Spenden finanzierten Hilfslieferungen mit Medikamenten und anderen medizinischen Gütern sind mittlerweile in Gaza eingetroffen. Das Problem liegt nach wie vor in der Verteilung innerhalb des Gazastreifens. "Hier sieht es aus wie nach einem Erdbeben. Häuser und Straßen sind zerstört. Viele Menschen sind auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen", berichtet Dr. Aed Yaghi, Programmleiter der PMRS, aus dem Gazastreifen. Aufgrund der vielen Bombenkrater sind viele Wege nur sehr langsam oder gar nicht befahrbar.

Das PMRS-Physiotherapiezentrum hat zwischenzeitlich seine Arbeit wieder aufgenommen. Zwar war es nie geschlossen, aber die Menschen hatten es nicht mehr gewagt, aus ihren Häuser zu gehen und verzichteten lieber auf die Behandlung. Jetzt suchen die Patienten zögerlich wieder das Zentrum auf. Nach wie vor arbeiten die PMRS-Physiotherapeuten aber auch im Shifaa' Krankenhaus und bei Verletzten zuhause.

Die Anmietung größerer Räumlichkeiten um den steigenden Bedarf an Physiotherapie und psychologischer Betreuung der Kriegstraumatisierten zu bewältigen, gestaltet sich schwierig. Zu viele Häuser sind zerstört.

Die Strom- und Wasserversorgung in Gaza funktioniert wieder einigermaßen. Gas zum Kochen und Lebensmittel sind jedoch weiter knapp und sehr teuer. Zwar haben die Banken wieder geöffnet, doch viele Menschen haben lediglich den halben Lohn erhalten. Für die Nothilfe im Gazastreifen bittet medico international weiterhin dringend um Spenden.


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19.01.2009 Isreal/Palästina

Nothilfe für Gaza

Nach der Waffenruhe in Gaza ist eine Ausweitung der Hilfe dringend erforderlich

Die vorläufige Waffenruhe im Gaza-Streifen ist ein erster Schritt, um weitere humanitäre Hilfe für die Opfer der 22-tägigen Angriffe zu leisten. Seit Beginn der Angriffe sind unsere Kollegen vor Ort rund um die Uhr für die akute medizinische Nothilfe im Einsatz. Nun müssen die Hilfsmaßnahmen im Gaza-Streifen massiv verstärkt werden, wir sind daher dringend auf Spenden angewiesen.

Nötig ist ein ungehinderter Zugang zum Gaza-Streifen nicht nur für humanitäre Hilfe und Wiederaufbaubemühungen sondern auch zur Herstellung von Transparenz über die Zerstörungen und möglichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts.

Gemeinsam mit unseren palästinensischen und israelischen Partnern fordert medico deshalb, die Einsetzung einer unabhängigen Fact-Finding-Mission aus Juristen und Medizinern. Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung müssten auch Folgen für die Verantwortlichen haben. Eine weitere Eskalation der Gewalt ist nicht aufzuhalten, wenn es nicht gelingt, eine dauerhafte politische Lösung für den Nahen Osten zu entwickeln, dessen Perspektiven für die Palästinenser rasch sichtbar sein müssen. Eine umgehende Aufhebung der seit anderthalb Jahren andauernden Blockade des Gaza-Streifens wäre ein solches sichtbares Zeichen.


Gesundheitspersonal als Ziel

Das Gesundheitspersonal in Gaza blieb von den Kämpfen nicht verschont: 13 Ärzte und Sanitäter sind getötet worden, 15 Ambulanzen wurden beschädigt, sodass die Hilfe für Verletzte sich noch schwieriger gestaltet. Zur Erinnerung: "Der Gazastreifen wird von der israelischen Armee und Administration schon seit Beginn der 90er Jahren - lange bevor die Hamas eine nennenswerte Rolle spielte - isoliert. Dadurch konnten die zivile Infrastruktur kaum entwickelt werden. Die 18-monatige Blockade durch Israel - bei stillschweigender Unterstützung vieler westlicher Regierungen - hat die gesamte zivile Infrastruktur implodieren lassen", sagte Tsafrir Cohen, der örtliche medico-Repräsentant.


Medizinische Nothilfe: Palestinian Medical Relief Society (PMRS)

Angesichts der akuten Notlage versucht der medico-Partner Palestinian Medical Relief Society (PMRS), der Bevölkerung Notdienste zur Verfügung zu stellen. "Das Personal kommt ganz schlecht zur Arbeit, da die israelischen Streitkräfte tief in den Gazastreifen eingedrungen sind. Auch wir als Gesundheitspersonal sind erheblich gefährdet, niemand scheint auf uns Rücksicht zu nehmen", sagte Dr. Aed Yaghi, Programmleiter der PMRS. Mit Hilfe von medico und vier Schweizer Organisationen (Caritas, Kinderhilfe Bethlehem, medico Schweiz & Kampagne Olivenöl), die gemeinsam 150.000 Euro zur Verfügung stellen konnten, ist PMRS in der Lage, Erste-Hilfe-Kits zu verteilen. Dabei werden diese an die eigenen Mitarbeiter verteilt, an Journalisten, an kommunale Mitarbeiter, die sich daran machen, das stark beschädigte Stromnetz und die Wasserversorgung zu reparieren, sowie an die Hunderte von PMRS-Freiwilligen, die ihr Leben auf der Straße riskieren.

Während die eine PMRS-Klinik in Izbet Beit Hanun noch immer geschlossen bleiben muss, da sie dort von der israelischen Armee behindert wird, hat die Klinik in Um Al-Nasser wieder geöffnet. Die Klinik in Jabalia im Norden des Gazastreifens hat 24 Stunden am Tag geöffnet. Dort gibt es 400% mehr Patienten als sonst.

Seit dem Beginn der Bombardements leistet die medico-Partnerorganisation PMRS medizinische Nothilfe im Gazastreifen. Ihre Mitarbeiter und zahlreiche Freiwillige arbeiten rund um die Uhr in drei Schichten. Sie versorgen Verwundete und bringen sie in die Krankenhäuser. Manchmal kommen sie zu spät. Dann bleibt ihnen nur noch das Aufsammeln von Körperteilen und die Bergung von Leichen. Sozialarbeiterinnen betreuen die Angehörigen der vielen Toten und Verletzten.

Viele Gebiete im Gazastreifen sind durch die Bodenoffensive von den Gesundheitseinrichtungen abgeschnitten. Zwei sechsköpfige Teams behandeln Verwundete mit mobilen Kliniken, dort wo es keinen Zugang zu medizinischer Versorgung gibt. Viele Menschen, vor allem Mütter mit Kindern oder alte, chronisch kranke Menschen haben Angst, ihre Wohnungen zu verlassen und müssen zu Hause versorgt werden. Mitarbeiter der PMRS bieten außerdem Erste-Hilfe-Kurse an und bilden derzeit 330 Freiwillige aus.

Da die regulären Krankenhäuser aufgrund der vielen Verwundeten vollkommen überfordert sind und derzeit chronisch Kranke, Herzpatienten oder Schwangere abweisen müssen, sind auch alle Gesundheitseinrichtungen der PMRS überlastet, da sie zusätzlich versuchen, deren Versorgung mit zu übernehmen. Dennoch wurden drei PMRS-Ärzte an das Shifaa' Krankenhaus in Gaza ausgeliehen, da dort die am schwersten Verletzten eingeliefert werden.


Politischer Druck: Physicians for Human Rights (PHR-IL)

Aber auch die israelische medico-Partnerorganisation Ärzte für Menschenrechte (PHR-IL) ist aktiv. Sie übt politischen und juristischen Druck auf die israelische Regierung aus.

Am Freitag, den 9. Januar verhandelte der Oberste Gerichtshof in Jerusalem eine Petition der PHR-IL und fünf weiterer israelischer Menschenrechtsorganisationen. Sie fordern, dass die Verwundeten aus dem Gazastreifen unverzüglich in Israel behandelt werden dürfen. Es kam jedoch noch zu keiner Entscheidung, da das Gericht der israelischen Regierung vier Tage Zeit für eine Stellungnahme einräumt. Hadas Ziv, die Geschäftsführerin der PHR-IL reagierte empört: "Vier weitere Tage kosten Menschenleben. Wenn es so weiter geht, wird jede halbe Stunde ein Palästinenser umgebracht und alle sechs Minuten einer verwundet." Notwendig sei ein sofortiger Waffenstillstand um die Verletzten zu bergen und behandeln zu können.

Die aktuelle Stimmung in der israelischen Gesellschaft macht Hadas Ziv zu schaffen. Sie berichtet von einer neue Qualität des Hasses gegen die Palästinenser: "Ältere Menschen kannten wenigstens noch Palästinenser. Dies hat sich durch die israelische Trennungspolitik und den Aufbau eines Enklavensystems verändert. Die jungen Menschen in Israel kennen Palästinenser nur noch durch die Medien und durch Zielfernrohre. Sie nehmen sie nicht mehr als Menschen wahr. Folglich können wir sie beschießen, als ob sie keine Menschen wären."

PHR-IL dokumentiert und recherchiert auch die Verstöße des israelischen Militärs gegen internationales humanitäres Recht. So machten sie schon mehrere Vorfälle öffentlich, bei denen Sanitätern der Zugang zu Verwundeten verwehrt wurde.


Israelische Künstler gegen den Krieg produzieren Sondermagazin unter erschwerten Bedingungen

24 Stunden nach Beginn des Bombardements zirkulierte im israelischen Internet ein Aufruf an israelische Dichter, Schriftsteller, Künstler, Material gegen den Krieg zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Der Aufruf stammte von mehreren kritischen Medienpublikationen, darunter auch vom Magazin Sedek der Gruppe Zochrot, ein medico-Partner (dazu siehe Blog: Nakba, oder die Lücke)

Zwei Tage, nachdem der Aufruf die Runde machte, hatten die Initiatoren etwa 300 Texte beisammen. Am Neujahrsabend saßen die sechs Zeitschriftenredakteure zusammen, um die Texte zu begutachten. 36 Stunden ohne Pause wählten sie Arbeiten von 67 schreibenden und bildenden Künstlern aus. Danach wurden die Texte zu einer Druckerei gebracht. Keine israelische Druckerei war bereit, die Publikation zu drucken, also wurde der Band in einer arabisch-israelischen Dorfdruckerei produziert. Nach dieser Blitzaktion und nur 4 Tagen war das Buch fertig und konnte - gegen Spenden - verteilt werden. (Siehe Bildergalerie oben)

"Ein Gedicht kann die Meinung eines Menschen nicht ändern. Eine Person, die für den Krieg ist, wird nach dem Lesen eines traurigen oder fröhlichen, hoffnungsvollen oder bitteren Gedichts nicht gegen den Krieg opponieren. Die Gedichte zu schreiben, sie zu sammeln, zu redigieren und in so kurzer Zeit zu drucken war ein spontaner Protestakt gegen die israelische Attacken auf Gaza und Israels Vernachlässigung der eigenen Bürger im Süden des Lands - um Gaza. Während ich dies sage, gilt jede Opposition gegen den Krieg als Verrat. Wir werden die Meinung von Menschen nicht ändern, aber die Tatsache, dass wir so schnell und so zahlreich agiert haben, zeigt, dass es so eine Position gibt, nicht in irgendeinem Wohnzimmer, sondern im öffentlichen Raum. Dies kann ein alternativer Standpunkt sein, eine alternative Option, für die, die eine solche suchen". Das schreibt Tomer Gardi, der Redakteur von Sedek in seinem Vorwort. "Gewalt ist sehr effektiv. Viele der Druckereien wollten das Buch drucken, hatten aber Angst vor eingeworfenen Fensterscheiben danach. Dennoch: Das Band ist raus und ist eine starke Stimme gegen den Krieg, die nur stärker werden kann."

Tsafrir Cohen, Repräsentant von medico in Israel & Palästina betont die Bedeutung solcher künstlerisch-kritischen Projekte im öffentlichen Raum in Israel: "Zochrots Strategie ist eine langsame Annäherung, ein langsamer Verständigungsprozess, in dessen Verlauf jüdische Israelis den Ort, in dem sie leben, besser verstehen sollen. Die spontane Reaktion auf den Krieg in Gaza soll eine Ausnahme bleiben, die den Machern notwendig erschien angesichts des Kriegs, den sie als 'Krieg Israels gegen das palästinensische Volk' wahrnehmen."


Kollaps: Lage im Gazastreifen

Die Angriffe der israelischen Armee haben im Gazastreifen eine Situation geschaffen, welche das durch die anderthalb-jährige Blockade geschwächte Gesundheitssystem kaum noch bewältigen kann. Israels Schließung sämtlicher Zugänge von und nach Gaza verschärft die humanitäre Tragödie, die das Leben im Gazastreifen bestimmt.

Durch die Zerstörungen der Militärangriffe sind viele Menschen von der Trinkwasser- und Stromversorgung abgeschnitten. Die Abwasserentsorgung ist beeinträchtigt. Nahrungsmittel sind extrem knapp.

medico international fordert deshalb gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen, den israelischen Ärzten für Menschenrechte und der Palestinian Medical Relief Society einen sofortigen und wirksamen Waffenstillstand, die Einreise einer internationalen Beobachter-Delegation, die Respektierung der Hilfsmaßnahmen durch die Konfliktparteien und den uneingeschränkten Zugang für humanitäre Güter, Waren und Personen in den Gazastreifen herein und hinaus. Für die Nothilfe im Gazastreifen bittet medico international weiterhin dringend um Spenden.


Für die Nothilfe im Gazastreifen bittet medico international weiterhin dringend um Spenden.

Spendenkonto: medico international
Frankfurter Sparkasse
Kontonummer 1800
BLZ 500 502 01
Stichwort: "Palästina"


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Quelle:
medico-Newsletter 4/2009 - Donnerstag, 22. Januar 2009
Herausgeber: medico international
Burgstraße 106, 60389 Frankfurt am Main
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2009