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ALLERGIE/306: Forschung - Allergien durch Chemikalien (UFZ-Spezial)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Spezial Oktober 2012: Chemikalien in der Umwelt

Allergien durch Chemikalien

von Marlis Heinz



Allergien sind der Preis, den wir für unseren westlichen Lebensstil zahlen müssen. Schätzungen zufolge leiden weltweit über 300 Millionen Menschen an Allergien. Allein in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Zahl der registrierten Fälle in Westeuropa verdoppelt. Ein Zusammenhang mit Lebensstil und Umwelt ist naheliegend. Wurde früher das Immunsystem von Kindern zum Beispiel durch Infektionen trainiert, so fehlt ihm dieses Training heute vielfach - das Immunsystem ist quasi unterbeschäftigt. Deshalb kann es passieren, dass es auf eigentlich harmlose Stoffe wie Gräserpollen überreagiert. Kommen Chemikalien dazu, die in unserem Lebensumfeld aus Farben, Bodenbelägen, Möbeln, Reinigungsmitteln oder auch Zigarettenrauch freigesetzt werden, ist der Weg in Richtung Allergie vorprogrammiert. Dabei ist der Effekt umso stärker, je früher im Leben Chemikalien auf unser Immunsystem treffen.

Die ersten Kämpfe schon vor dem ersten Schrei

Nirgendwo scheint der Mensch so geschützt wie im Mutterleib. In der weichen, warmen, dämpfenden Hülle wachsen die Organe heran und beginnen ihre Funktion. Und doch drohen schon Gefahren, die die Mechanismen des Werdens blockieren und verändern. So hat das entstehende Immunsystem seine ersten Kämpfe zu absolvieren und muss mitunter seine ersten Niederlagen einstecken. Selbst bei völlig gesunden Neugeborenen können sich im Nabelschnurblut Zellen finden, deren Funktion bereits gestört ist. Und irgendwann später schießt dieses irritierte Immunsystem weit über das Ziel - den Schutz des Körpers vor Krankheitserregern und schädigenden Fremdstoffen - hinaus. Heuschnupfen, Asthma bronchiale oder Neurodermitis belasten das Leben, die Symptome müssen behandelt werden.

Die Immunologin Dr. Irina Lehmann und ihr Team schauen besonders auf den weit zurückliegenden Zeitpunkt in der Schwangerschaft, an dem das Immunsystem nach anderen Regeln zu funktionieren beginnt, und auf den Mechanismus dieser Regelveränderung. Sie wollen die Irritation des Immunsystems schon vor den ersten Allergiesymptomen erkennen und möglicherweise sogar gegensteuern, so dass eine Erkrankung gar nicht erst ausbricht. Denn hat das Immunsystem erst einmal angefangen, auf bestimmte Faktoren heftig zu reagieren, ist es nur mit langwierigen Therapien möglich, diese Reaktion wieder aus dessen Gedächtnis zu streichen. Um zu wissen, was sich da im Mutterleib genau abspielt, müssen die Forscher eine Reihe grundlegender Fragen beantworten: Welche Faktoren beeinflussen schon vor der Geburt das Immunsystem? Über welche Mechanismen ist das Immunsystem der Mutter mit dem des Embryos verbunden? Und in welchem Maße unterscheidet sich die Sensibilität des Immunsystems von Kindern und Erwachsenen?

Dass sie bei der Suche nach belastbaren Fakten ohne die Mitarbeit von Betroffenen, in diesem Fall also Schwangeren, nicht sehr weit kommen würden, war den Wissenschaftlern um Irina Lehmann schnell klar. Deshalb begannen sie gemeinsam mit einer Kinderklinik im Frühjahr 2006 mit einer groß angelegten Mutter-Kind-Studie - LiNA. Im Rahmen dieser Studie wurden mehrere hundert schwangere Frauen, deren Belastungen im Wohnumfeld sowie die Neugeborenen untersucht und die gewonnenen Daten zueinander in Beziehung gesetzt. Außerdem werden die Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit umweltmedizinisch begleitet.

Gespannt waren die beteiligten Wissenschaftler und Mediziner vor allem auf die Ergebnisse der Blutuntersuchungen. Analysiert wurden sowohl das Blut der Schwangeren als auch später das Nabelschnurblut der Neugeborenen. Unter anderem ging es darum herauszufinden, was im Zuge einer Chemikalienbelastung mit den T-Lymphozyten passiert, jenen Zellen im Blut, die die Funktion aller Immunzellen steuern. Reagieren sie zu stark beim Kontakt mit Allergenen, werden chemische Signale ausgesendet, die die Produktion von Immunglobulin E auslösen. Das sind Antikörper, die zu allergischen Reaktionen führen. Das allein wäre nicht dramatisch, denn es gibt ja immer noch die regulatorischen T-Zellen, die eine solche Überreaktion bremsen können - im Normalfall. Gibt es zu wenig dieser Zellen oder arbeiten diese nicht richtig, steigt das Risiko für Allergien. "Und genau das konnten wir bereits im Nabelschnurblut beobachten", sagt Irina Lehmann. Die UFZ-Forscher fanden bei Neugeborenen, deren Mütter während der Schwangerschaft rauchten oder einer Chemikalienbelastung ausgesetzt waren, geringere Zahlen dieser so wichtigen regulatorischen T-Zellen im Nabelschnurblut. Kinder mit diesen Veränderungen entwickelten später viel häufiger eine Allergie.

Ziel des Leipziger Forscherteams ist es, derartige kritische Veränderungen frühzeitig zu diagnostizieren und damit Risikokinder zu identifizieren. Dies könnte dann zum Beispiel spezielle Therapien begründen. "Und wir helfen den Eltern, die Umwelt ihres Kindes zu beeinflussen, also beispielsweise während Schwangerschaft und im Säuglingsalter kritische Belastungen zu vermeiden", so Wissenschaftlerin Lehmann. Gleichzeitig geht es ihr darum, den Gesetzgeber dafür zu sensibilisieren, dass sich das Immunsystem eines Menschen bereits im Mutterleib entwickelt und auch dort schon geschädigt werden kann. Denn möglicherweise sind in Räumen, in denen sich Schwangere und Säuglinge aufhalten, andere Belastungsgrenzwerte relevant. Sicherlich müssen auch Hersteller von Baumaterialien und Inneneinrichtungen ganz neue Kriterien ins Auge fassen.

Entzündungen der Atemwege

Doch die Chemikalien, mit denen die meisten von uns beinahe tagtäglich in Berührung kommen, schädigen nicht nur das Immunsystem unserer Kinder vor der Geburt. Flüchtige organische Verbindungen (volatile organic compounds - VOC), die uns oft aus Klebstoffen, Möbeln und Farben in die Nase steigen, sind auch tückisch für unsere Atemwege. Denn sie verursachen dort Entzündungen.

Die Forschungen des UFZ haben das Ausmaß dieser Auswirkungen ermittelt: So steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind nach Renovierungsarbeiten im Haushalt in den ersten Lebensjahren an Atembeschwerden leidet, auf das Vierfache.

Wie VOC im Inneren der Lunge genau wirken, konnten die Forscher mithilfe von speziellen in vitro-Modellen im Labor nachvollziehen. Solche Modelle bestehen aus menschlichen Lungenepithelzellen, die problemlos in Brutschränken vermehrt werden können, einer dünnen Membran, auf die die Lungenepithelzellen aufgebracht werden, und einem Nährmedium. Setzt man das Ganze nun VOC-haltiger Luft aus, ist das Modell fertig, mit dem sich die Bedingungen in der Lunge, wo die Epithelzellen mit den VOC in der Atemluft in Kontakt kommen, wunderbar simulieren lassen. "Jetzt messen wir, wie die Lungenzellen reagieren, ob und in welcher Richtung die normalen Prozesse gestört werden", erläutert Irina Lehmann das Experiment. "Was wir beobachtet haben, ist eine Aktivierung der Lungenzellen unter dem Einfluss von VOC, die zur Freisetzung von Entzündungssignalen führt. In der Lunge werden durch diese Signale andere Immunzellen angelockt und ebenfalls aktiviert, so dass die Entzündungsreaktion sich weiter ausbreitet."

Die UFZ-Forscher fanden heraus, dass oxidativer Stress die Ursache dieser Entzündungsreaktionen in der Lunge ist. Darunter ist zu verstehen, dass reaktive Sauerstoffmoleküle, bekannt auch als Sauerstoffradikale, entstehen. Das sind den Organismus schädigende Formen des Sauerstoffs, die bei verschiedensten Erkrankungen sowie beim Altern eine entscheidende Rolle spielen.

Nachdem einmal klar war, was die Lungenzellen schädigt, versuchten die Forscher, dagegen anzukämpfen. Sie setzten Antioxidanzien ein, Chemikalien, die die in der Zelle gebildeten reaktiven Sauerstoffmoleküle neutralisieren können. Mit diesen Antioxidanzien, die als Medikament bereits zur Verfügung stehen, konnten die Lungenzellen im Modell vor den schädigenden VOC-Effekten geschützt werden.

Vor rund zehn Jahren begann das Team um Irina Lehmann mit diesen Testreihen. "Wir konnten mit den Ergebnissen belegen, dass VOC tatsächlich Allergien und entzündliche Reaktionen in der Lunge hervorrufen können, und wir konnten die auf zellulärer Ebene ablaufenden Prozesse ergründen. Dadurch haben wir nun auch eine Möglichkeit gefunden, wie man die durch Chemikalien in der Lunge hervorgerufenen Reaktionen behandeln oder ihnen sogar vorbeugen könnte." Antioxidanzien scheinen hier eine Lösung zu liefern. Diese kann man auch mit der Nahrung aufnehmen, zum Beispiel mit Fruchtsäften und Gemüse. Inwiefern eine Ernährung, die reich an Antioxidanzien ist, vielleicht sogar vor den schädigenden Einflüssen von Umweltbelastungen schützen kann, ist eine der spannenden Fragen, die die UFZ-Forscher zukünftig beantworten wollen.

UFZ-Ansprechpartnerin:
Dr. Irina Lehmann
Leiterin Dept. Umweltimmunologie

e-mail: irina.lehmann[at]ufz.de


LiNA - Lebensstil und Umweltfaktoren und deren Einfluss auf das Neugeborenen-Allergierisiko
Partner des UFZ: Städtisches Klinikum "St. Georg" Leipzig, Universität Leipzig (Klinische Immunologie und Dermatologie)
Anzahl Studienteilnehmer: 622 werdende Mütter und ihre 629 geborenen Kinder
Rekrutierungsphase der Schwangeren: 2006 bis 2008
Ende der Untersuchungen: voraussichtlich 2024 bis 2026
Untersuchte Belastungen: Rauchen, Chemikalien in der Wohnung (VOC), Schimmelpilze, Verkehr, Lärm, Stress
Methoden:
- Durchführung von Blutanalysen, um den Einfluss von Umweltbelastungen auf das Immunsystem der Schwangeren und deren Neugeborene zu erfassen und deren Allergiestatus zu untersuchen - beginnend in der 34. Schwangerschaftswoche und im Nabelschnurblut der Neugeborenen.
- Jährliches Erfassen des Gesundheitsstatus der Kinder bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Dazu werden sie einmal pro Jahr in der Kinderklinik des Klinikums "St. Georg" untersucht, und die Eltern beantworten jährlich einen Fragebogen zu Erkrankungen der Kinder.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Nirgendwo scheint der Mensch so geschützt wie im Mutterleib. Doch schon hier muss das Immunsystem seine ersten Kämpfe absolvieren, etwa mit Chemikalien, die über die werdende Mutter aufgenommen werden.

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Quelle:
UFZ-Spezial Oktober 2012: Chemikalien in der Umwelt, Seite 18-19
Herausgeber: Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2013