Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz
Alzheimer Info Nr. 2/2025
Therapeutisches Gammeln? Das ist doch Anarchie!
von Stephan Kostrzewa
Seit zwei Jahren gibt es nun Deutschlands erste Gammel-Oase in Marl (NRW), die zweite hat im Februar 2025 eröffnet. Hier leben Bewohnerinnen und Bewohner nach dem Konzept des Therapeutischen Gammelns. Ihren Tagesablauf und ihre Tagesgestaltung können die Bewohner selber bestimmen. Schon nach kurzer Zeit zeigt sich, dass die zuvor angesetzten Psychopharmaka nicht notwendig sind und reduziert oder sogar ganz abgesetzt werden können.
Aufgrund der aktuellen Forschungslage wissen wir: Menschen mit fortgeschrittener Demenz leben in einem Gefühlsmix aus Angst, Unsicherheit, Trauer und Hilflosigkeit. Selbstzeugnisse der Betroffenen mit Demenz bestätigen dieses immer wieder. Im Gesundheitssystem findet sich hierfür aber kein entsprechendes Angebot. Der "Demenz-Markt" bietet hingegen ein unübersichtliches Angebot der "Demenz-Industrie" (von Nesteldecken oder Betreuungsrobotern bis zur Tover-Tafel). Zu den meisten dieser Angebote gibt es keine seriöse Studienlage, so dass eine Wirksamkeit nicht bestätigt werden kann. Trotzdem werden diese Ansätze fleißig durchgeführt und umgesetzt.
Das Konzept des Therapeutischen Gammelns begreift sich hierbei als Gegenentwurf.
Erst einmal soll hier geklärt werden, was der Begriff "Gammeln" bedeutet. Im etymologischen Wörterbuch (Bertelsmann 1998) finden sich hierzu verschiedene Erläuterungen. Dort steht, dass Gammeln vom althochdeutschen gamaną abstammt und so viel wie "Lust" bedeutet. Gehen wir in der Geschichte der Sprache noch weiter zurück, dann findet sich im Urgermanischen das Wort gamaną. Es bedeutet: Spaß, Fröhlichkeit, Wohlbefinden, Freude oder Genuss.
Grundlage für das Therapeutische Gammeln ist grundsätzlich eine gewährende Haltung. Das bedeutet, dass Menschen mit Demenz ihre Eigenaktivitäten in dem Maße ausleben können, in dem diese nicht eigen- oder fremdgefährdend sind. Ästhetische Aspekte spielen hierbei nur eine sekundäre Rolle, außer dem Betroffenen sind diese besonders wichtig.
Das Therapeutische Gammeln sieht den Betroffenen als Experten seiner Demenz und somit ist dieser ein Lehrer für uns - seine orientierten Begleiter. Daher steht im Fokus die Autonomie des Betroffenen - trotz Demenz.
In einer Gammel-Oase gibt es keine festen Abläufe, so dass die Bewohnerinnen und Bewohner nicht geweckt werden, denn es gibt keine festen Termine oder Zeitabläufe. Der Arbeitsbeginn der Pflegemitarbeitenden wird somit entsprechend verschoben, denn um 7:00 Uhr gibt es für die Pflegekollegen nichts zu tun, da keiner der Bewohner so früh morgens gewaschen werden möchte.
Es kann auch gut sein, dass Bewohnerinnen und Bewohner die Grundversorgung, die über den ganzen Tag immer wieder einmal angeboten wird, komplett ablehnen und "ungewaschen" zum Frühstück gehen, das wiederum über den ganzen Vormittag angeboten wird. Mitunter geht es dann fließend ins Mittagessen über, für das es ebenfalls keine festen Zeiten gibt. Wann und wo die jeweiligen Bewohner das Essen einnehmen möchten, entscheiden diese jeden Tag aufs Neue selber.
Ein Rückzug der Bewohner mit Demenz wird hier nicht als "pathologisches Verhalten" gesehen, sondern als nachvollziehbare Reaktion in einer fragilen Welt, in der sich die meisten Menschen mit Demenz befinden. Der Leitsatz: "Die in Gesellschaft verbrachte Zeit ist therapeutische sinnvolle Zeit", ist meiner Ansicht nach völliger Quatsch und wird in der Gammel-Oase nicht beherzigt. Niemand wird hier zu Gruppenangeboten oder gemeinschaftlichem Tun gedrängt. Da die Bewohner aber viele Utensilien mit Aufforderungscharakter finden, können sie sich selber beschäftigen, was einige auch nach Herzenslust tun.
Das reale Beispiel einer neuen Bewohnerin - Frau Tuchmacher[1] soll die Wirkung des Therapeutischen Gammelns verdeutlichen helfen. Es stammt aus Deutschlands zweiter Gammel-Oase im Wally-Windhausen-Seniorenzentrum in Herten in NRW, die im Februar 2025 eröffnet wurde.
Frau Tuchmacher zog 2019 mit einer stark ausgeprägten Tendenz zum Laufen sowie verbalen und körperlichen Aggressionen nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in die Einrichtung. Konsequent lehnte sie pflegerische und betreuerische Maßnahmen in jeglicher Form ab. Wenn es ihr möglich war, verließ sie bei Tag und Nacht die Einrichtung, konnte dann aber den Weg zurück nicht selbstständig finden. Als Konsequenz wurde Frau Tuchmacher mehrmals in der Woche durch die Polizei in das Seniorenzentrum zurückgebracht.
Die Bewohnerin hatte ein ausgeprägtes Suchtverhalten in Bezug auf Nikotin und Alkohol (jahrelanger Nikotin- und Alkoholmissbrauch) und zusätzlich wahnhafte Gedanken in Bezug auf ihrer Tochter. Durch den stark ausgeprägten Bewegungsdrang kam es zu einem vermehrten Nährstoffverbrauch und einer Gewichtsreduktion - trotz Zusatzkost und Wunschkost. Diese Symptome konnten, trotz medikamentöser Therapie der psychiatrischen Klinik, nicht gelindert werden.
Im Februar 2025 zog Frau Tuchmacher in die Gammel-Oase des Wally-Windhausen-Seniorenzentrums nach Rücksprache mit der bevollmächtigten Tochter. Kurz nach dem Umzug stürzte sie leider im Wohnbereich und brach sich das Handgelenk. Nach Abheilung des Bruches und mithilfe des Konzeptes des Therapeutischen Gammelns sowie einer gut angepassten Schmerztherapie konnten die zuvor eingesetzten Psychopharmaka stark reduziert werden. Schon nach kurzer Zeit zeigte Frau Tuchmacher kaum noch Verhaltensauffälligkeiten. Zudem nimmt sie selbstständig Nahrung und Flüssigkeiten zu sich. Ihr Gewicht lag schon nach wenigen Monaten im Normbereich und sie hält ihr Gewicht konstant, trotz weiterhin vorhandenen Bewegungsdrangs.
Auf das Team wirkt Frau Tuchmacher zufrieden, da sie beim Laufen durch die Wohnbereiche Volkslieder summt. Sie lächelt bei Ansprache, ist im Umgang mit dem Team deutlich freundlicher. Trotz Demenz nimmt sie an Mitarbeiterversammlungen teil und wirkt dabei sehr entspannt. Ebenfalls kann das Suchtverhalten in Bezug auf Nikotin und Alkohol kaum noch beobachtet werden und sie lässt pflegerische und betreuerische Maßnahmen im Rahmen ihrer selbstbestimmten Struktur zu.
Das Therapeutische Gammeln ist im häuslichen Bereich ebenfalls gut umzusetzen, sofern die Angehörigen dem Demenzbetroffenen eingestehen, seinen eigenen Rhythmus leben zu dürfen.
[1] Der Name wurde geändert.
Dr. rer. medic. Stephan Kostrzewa (Mülheim an der Ruhr); Dipl. Sozialwissenschaftler; Altenpfleger; Inhaber des Instituts für palliative und gerontopsychiatrische Interventionen (Mülheim an der Ruhr); Fachbuchautor, Projektbegleiter im Therapeutischen Gammeln
Weitere Informationen
www.stephankostrzewa.com
Praxishandbuch Therapeutisches Gammeln
Vincentz Verlag, Hannover (2024)
ISBN 978-3-7486-0755-7
Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz
GRIN Verlag, München (2023), ISBN 978-3-3468-6951-7
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Quelle:
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz
Alzheimer Info Nr. 2/2025, Seite 5-6
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 29. August 2025
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