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EPIDEMIE/191: Infektiologie - "Uns war die Demut abhandengekommen"... Interview mit Dr. Henrik Herrmann (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2020

Interview
"Uns war die Demut abhandengekommen"

Gespräch von Dirk Schnack mit Dr. Henrik Herrmann


Die aktuelle Pandemie zeigt, wie gefährlich Infektionskrankheiten sind. Dr. Henrik Herrmann will darauf mit einer Aufwertung der Infektiologie reagieren. Der Präsident der Ärztekammer im Interview mit Dirk Schnack.


Herr Dr. Herrmann, das neuartige Coronavirus hat zu einer Ausnahmesituation auch in Schleswig-Holstein geführt. Was kann eine Landesärztekammer in solch einer Situation tun, um zu helfen?

Dr. Henrik Herrmann: Die Ärztekammer kann zwar nicht selbst Leben retten, aber sie kann dazu beitragen. Unsere Aufgabe in dieser Situation liegt vor allem in der Kommunikation und in der Koordination. Damit unterstützen wir die Ärzte in der Versorgung.

Was heißt das konkret?

Herrmann: Für die Kommunikation ist es wichtig, dass wir als Ansprechpartner fungieren und dass wir den Ärzten Auskünfte geben können. An uns wurden viele Erfahrungen aus der Versorgung weitergegeben. Als sich zum Beispiel früh abzeichnete, wie schnell die Ressourcen bei der Schutzausrüstung erschöpft sein würden, konnten wir natürlich auch keine nachliefern. Aber wir konnten dieses Problem sehr früh in unserem regelmäßigen Austausch mit dem Ministerium ansprechen, damit dies politisch an der richtigen Stelle ankam. Wir konnten aber auch Anfragen fachlicher Art von Mitgliedern beantworten und in manchen Fällen ging es einfach darum, sich die Sorgen der Kollegen anzuhören. Mit anderen Worten: Als Kammer können wir längst nicht jedes Problem lösen, aber wir können zumindest die Erfahrungen unserer Mitglieder sammeln, weitergeben und Ansprechpartner vermitteln.

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Info
Die Ärztekammer Schleswig-Holstein hat aus gutem Grund auf eine eigene Informationsherausgabe zu Corona verzichtet. Grund: Es ergibt keinen Sinn, wenn die vielfältigen Informationen von zahlreichen Institutionen erneut aufbereitet werden - mit dem Risiko von Fehlern oder versäumter Aktualität. Auf der Homepage www.aeksh.de sind alle verlässlichen Quellen verlinkt, die u. a. von den Experten erarbeitet werden.
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Welche koordinierenden Aufgaben hat die Ärztekammer übernommen?

Herrmann: Die wichtigste war sicherlich, dass wir Kollegen, die nicht mehr ärztlich tätig waren, in die Versorgung vermittelt haben. In dieser Situation hat sich gezeigt, wie wichtig die Registrierung aller Ärzte im Land in der Selbstverwaltung ist. Wir haben mit den Kontaktdaten Zugang zu jeder Ärztin und zu jedem Arzt in Schleswig-Holstein. Mitte März haben wir 2.500 Mitglieder herausgefiltert, die unter 75 Jahre alt, aber nicht mehr ärztlich tätig sind. Wir haben per Mail und per Post gefragt, ob und falls ja, in welchem Bereich sie in dieser besonderen Situation zur Hilfe bereit wären. Die Resonanz war überwältigend. Innerhalb von nicht einmal 48 Stunden hatten wir einen Ärztepool von 439 Kollegen. Diese Liste hat uns in den folgenden Wochen immer dann geholfen, wenn die ärztliche Ressource in der Versorgung knapp wurde. Wir konnten Gesundheitsämtern, Kliniken und Praxen auf Anfrage Kollegen nennen, die bereit waren zur Unterstützung.

"Die Resonanz war überwältigend. Innerhalb von nicht einmal 48 Stunden hatten wir einen Ärztepool von 439 Kollegen."
Dr. Henrik Herrmann

Für welche Bereiche waren die Ärzte denn am ehesten bereit?

Herrmann: Das war ein weiteres Indiz für die Hilfsbereitschaft der Ärzte: Die wenigsten haben ihr Angebot eingeschränkt, sondern wären zur Hilfe in jedem Bereich bereit gewesen. Sehr gefreut habe ich mich auch über die Rückmeldung von Kollegen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht helfen konnten. Sie hätten sich eigentlich gar nicht melden müssen, haben uns aber dennoch Rückmeldung gegeben. Das hat uns geholfen, unseren Aufruf einzuordnen: Offensichtlich ist Solidarität auch für Ärzte, die nicht mehr in ihrem Beruf tätig waren, selbstverständlich. Das, aber auch die Tatsache, dass wir diese Gruppe überhaupt erreichen, war wichtig für uns. Sehr gefreut hat uns natürlich auch, dass wir auf eine Pressemitteilung zu diesem Thema sogar Hilfe von Ärzten aus anderen Bundesländern angeboten bekommen haben.

Und wie erleben Sie die Ärzte, die ohnehin in der Versorgung tätig sind und nun seit Wochen neben der normalen Versorgung von kranken Menschen eine Pandemie bewältigen müssen?

Herrmann: Positiv angespannt. Es ist ja ein gewaltiger Kraftakt, den die Ärzte gerade zu stemmen haben. Kliniken, Praxen und Gesundheitsämter haben früh, konzentriert und mit viel Verständnis auf diese Herausforderung reagiert. Man muss immer berücksichtigen, dass ja die normale Krankenversorgung dabei nicht vernachlässigt werden durfte. Man konnte planbare Operationen verschieben, aber ein chronisch kranker Patient braucht weiterhin seine ärztliche Betreuung. Neben der Aufgabe der Krankenversorgung mit dieser Ausnahmesituation umzugehen, ist extrem fordernd.

Aber es gab auch viele Probleme, die den Ärzten die Versorgung erschwert haben. Was waren aus Ihrer Sicht die Wichtigsten?

Herrmann: Dazu gehörte sicherlich das Problem der fehlenden Schutzausrüstung, aber auch der Personalmangel in den Gesundheitsämtern. Bei aller berechtigten Kritik muss man aber natürlich immer berücksichtigen: Dies ist eine Pandemie, mit der niemand gerechnet hat, und kein noch so gutes Gesundheitswesen kann auf alles vorbereitet sein. Insofern sollte man keine Schuldzuweisungen an wen auch immer richten, sondern nach vorne schauen, um sich künftig besser aufzustellen.

Aber vielleicht hätte man auf manches Problem schneller reagieren können?

Herrmann: Das sollte man in Ruhe aufarbeiten, wenn wir die Pandemie bewältigt haben. Ich habe den Eindruck, dass in Schleswig-Holstein insgesamt früh und umfassend reagiert wurde. Dass man im Einzelfall optimieren kann, liegt in einer solchen Ausnahmesituation in der Natur der Sache.

Welche Lehren kann man schon heute aus dem Umgang mit der Pandemie ziehen?

Herrmann: Mit aller Vorsicht - denn heute (Anmerkung der Redaktion: 20. März 2020) - ist die Pandemie noch längst nicht überwunden. Aber ich glaube, dass man einige Schlüsse tatsächlich schon ziehen kann. Zum einen das Thema Gesundheitsamt, das Sie schon angesprochen haben. Hier wird man darüber reden müssen, wie man die Arbeitsbedingungen der Kollegen im Öffentlichen Gesundheitsdienst verbessert, damit die Ämter personell aufgestockt werden. Dieses Problem war allen bekannt - vielleicht hilft uns die Pandemie, an dieser Stelle eine Verbesserung zu erreichen.

Noch etwas, was wir ohnehin wussten, wurde uns vor Augen geführt: Wie bedeutend die Hygiene in den Gesundheitseinrichtungen ist. Wir sollten als Lehre aus der Pandemie ziehen, dass wir die Krankenhaushygiene noch stärker ausbauen, als dies in den vergangenen Jahren ohnehin erfolgt ist. Ein anderer Rückschluss: Frühes Reagieren und transparentes Agieren sind wichtig, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Erkenntnis, dass Solidarität vor Einzelinteressen zu stehen hat. Ich habe den Eindruck, dass dies von den meisten Menschen auch so gelebt wurde. Schließlich die Erkenntnis, dass wir viele Dinge auch abstimmen können, ohne dass wir uns dazu alle an einem Ort treffen müssen. Das digitale Arbeiten hilft uns dabei. Bewährt hat sich die Videosprechstunde in der Krise. Damit konnte nicht nur schneller reagiert werden, wir konnten auch Infektionen verhindern, weil sich Arzt und Patienten zwar gesehen und miteinander gesprochen, sich aber nicht getroffen haben. Das hat auch Schutzausrüstung gespart.

Und was kann die Ärztekammer an Erfahrungen nicht nur mitnehmen, sondern auch umsetzen?

Herrmann: Nach meiner Ansicht sollten wir die Infektiologie aufwerten. Bislang gibt es die Zusatzbezeichnung Infektiologie. Wir sollten den Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie einführen und damit diesen Bereich fachlich stärken. Wir können aber noch mehr tun, etwa mehr Fortbildungen anbieten, in denen auf solche Themen eingegangen wird.

Was ist Ihre ganz persönliche Lehre aus der Pandemie?

Herrmann: Ich habe das Gefühl, dass uns die Demut etwas abhandegekommen war. Viele von uns haben ja schon vor Jahrzehnten das Gefühl gehabt, dass Infektionskrankheiten besiegt wären. In der Folge wurden die zur Bekämpfung erforderlichen Ressourcen abgebaut. Wenn es Epidemien gab, waren sie meist weit weg. In Europa herrschte der Irrglaube, uns würde das nicht betreffen. Es hat sich schmerzhaft gezeigt, dass wir auf solche Ausbrüche vorbereitet sein sollten.

Vielen Dank für das Gespräch

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Ärztetag
Der 123. Deutsche Ärztetag, der vom 19. bis 22. Mai in Mainz geplant war, wurde abgesagt.
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202004/h20044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, April 2020, Seite 10 - 11
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2020

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