Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → KRANKHEIT

FORSCHUNG/131: Pest und Cholera - Alte Seuchen in neuem Licht (DFG)


forschung 3/2011 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Alte Seuchen in neuem Licht

von Barbara Bramanti


Pest und Cholera: Die Infektions-Pandemien früherer Jahrhunderte haben tiefe Spuren in der Evolutionsgeschichte hinterlassen. Aus den Skeletten der Opfer gewinnen Forscher heute altes DNA-Material, dessen Analyse Aufschluss gibt über Krankheitsvirulenz und -resistenz.


Ach, du lieber Augustin!" - was wie ein beschwingtes Kinderlied daherkommt, ist in Wahrheit ein Volkslied mit einem bitteren und zugleich legendenartigem Hintergrund. "Ach, du lieber Augustin!" erzählt von der Pest, die 1679 in Wien grassierte, und geht auf den Bänkelsänger und Sackpfeifer Marx Augustin (Wien, 1643 - 1685) zurück. Gleich mehrere Foto: Stephanie Hänsch Künstler hat diese Legende inspiriert. Sie besangen, wie es Augustin gelang, singend "aus dem Pestloch [...] munter und heil" zu entkommen. Der österreichisch-ungarische Dichter Franz Karl Ginzkey (1871 - 1963) erzählte sogar in Balladenform, wie Augustin nach einem seiner häufigen Wirtshausbesuche versehentlich in eine Pestgrube fällt und dort seinen Rausch inmitten infizierter Pesttoten ausschläft. Die Musik seines Dudelsacks am nächsten Tag habe ihn wieder zum Leben erweckt. "Funkelnder Wein und der rechte Humor / Treibt selbst die Pest und den Tod aus dem Tor." Der Legende nach zählt Augustin zu den wenigen Menschen, die sich nicht infizierten und vor dem "Schwarzen Tod" verschont blieben.

Seit der letzten Pandemie, die sich aus Hongkong kommend im Jahr 1894 auf allen Kontinenten außer Europa und Australien ausbreitete, ist bekannt, dass die Pest eine typische, sich auf dem Blutweg ausbreitende Tierinfektionskrankheit ist. Sie befällt Nagetiere und andere Säugetiere. Wenn die Pest auf den Menschen übertragen wird, kann schnell eine Epidemie ausbrechen. Auch wenn während der akuten Phase das Bakterium über Tröpfcheninfektion weitergegeben werden kann (Lungenpest), benötigt der Erreger Yersinia pestis (ein Stäbchenbakterium der Gruppe der Enterobacteriaceae) normalerweise einen Zwischenwirt. In der Regel sind es Flöhe, die die gefährlichen Bakterien in die Blutbahn ihres Wirtes übertragen. Der Erreger wandert dann zum nächstgelegenen Lymphknoten, und es entsteht eine schmerzhafte Lymphadenitis, ein "Bubo" (Beulen- oder Bubonenpest). Ohne antibiotische Behandlung ist die Infektion tödlich, weil die Erreger binnen weniger Tage eine Blutvergiftung auslösen können. Im Massengrab der Pestopfer, in das Augustin fiel, müssen sich noch zahlreiche ausgehungerte Flöhe befunden haben, sodass es kaum zu glauben ist, dass er sich nicht infizierte. Doch wie könnte das vielleicht doch möglich gewesen sein?

Interessanterweise haben die Chronisten verschiedener Jahrhunderte davon berichtet, dass während einer Epidemie nur ein Teil der Betroffenen starb. Außerdem war eine zweite, folgende Infektionswelle meist von einer verminderten Virulenz, das heißt Gefährlichkeit, gekennzeichnet. Einige oder sogar viele Menschen scheinen immun gegen die Krankheit gewesen zu sein. Was könnte solch eine Immunität bewirkt haben?


Aus genetischer Sicht kann eine Immunität gegen eine Infektionskrankheit durch eine oder mehrere Varianten im Genom verursacht werden. Sie müssen für den Organismus einen Vorteil bei der Bekämpfung des Krankheitserregers bedeuten. In einer Population werden Individuen, die diese Varianten tragen, positiv selektiert, wodurch die Frequenz dieses Allels in der folgenden Generation steigt. Ein Beispiel für ein solches Wechselspiel zwischen Erreger und Mensch ist die Beziehung zwischen Malaria und der Sichelzellanämie (Blutarmut). Die auf einer erblichen Mutation im Hämoglobin-Gen basierende Blutarmut, die die charakteristische Sichelform der roten Blutkörperchen verursacht, verhindert auch den Lebenszyklus des Malariaerregers in der Blutbahn. Auf diesem Wege verringert sich die Virulenz des Erregers Plasmodium falciparum. Das Erstaunliche: Individuen, die nur eine Kopie des mutierten Gens haben (also Mischerbige oder Heterozygoten), scheinen gegen eine Infektion durch das höchst infektiöse Pathogen geschützt zu sein.

Eine Resistenz kann im Zusammenhang mit der Pest auf das "CCR5-Gen" vermutet werden, mit einem ähnlichen Mechanismus. Der Besitz von zwei Kopien der CCR5-Mutation in unserem Genom bewirkt heutzutage eine Immunität gegenüber der HIV-1-Infektion. Das C-C Chemokine Rezeptor 5-Gen wird von manchen Erregern verwendet, um sich den Eintritt in die Lymphzellen zu verschaffen. Ein Verlust an Genmaterial ("Deletion") führt zu einem gekürzten Protein, das dann nicht mehr als eine Art "Tür" fungieren kann. Ein Prozent der europäischen Bevölkerung besitzt zwei Kopien dieser Variante und ist deswegen gegen eine Infektion mit HIV-1 geschützt. In den letzten Jahren ist klar geworden, dass das CCR5-Gen einem starken Selektionsdruck ausgesetzt ist. Die HIV-Infektion hat sich allerdings erst in den letzten 25 Jahren zu einer Pandemie entwickelt und kann deswegen nicht zur hohen Häufigkeit der Mutation in Europa geführt haben. Hier haben vermutlich andere Infektionskrankheiten der Blutbahn - wie zum Beispiel die Pest? - eine Rolle bei der Selektion gespielt.

Diese und andere Hypothesen zur Pestresistenz können nicht direkt an lebenden Patienten getestet werden. Mit Pest infizierte Menschen - die Krankheit gibt es weiterhin in Teilen Afrikas, Asiens und Südamerikas - werden heute mit einer effektiven Antibiotikatherapie behandelt und überleben in der Regel die Erkrankung, und zwar unabhängig von Genomkonstellationen. Experimente mit Mausmodellen könnten durch die evolutionäre Distanz der Spezies beeinflusst sein. Auch In-vitro-Untersuchungen an isolierten Zellen erlauben keine definitiven Aussagen zu dieser Resistenzhypothese, da die komplexen körperlichen Reaktionen bei einer Infektion völlig unbeachtet bleiben. Aus diesem Grund bietet die Analyse alter DNA (aDNA) aus historischen Pestskeletten eine einzigartige Möglichkeit, eine Anfälligkeit nachzuweisen und damit die evolutionären Mechanismen von relevanter Erregerresistenz modellhaft aufzuarbeiten.


Wie kann man aber erkennen, dass Menschen in einem historischen Massengrab Pestopfer sind? Im Gegensatz zu vielen anderen infektiösen Erkrankungen, wie etwa Tuberkulose oder Lepra, hinterlässt die Pest keine sichtbaren Spuren an den Knochen. Die sicherste Möglichkeit, eine Pestinfektion nachzuweisen, ist ein molekulargenetischer Test, der spezifische DNA-Fragmente des Pesterregers von einst aufspüren kann.

In unseren aDNA-Laboren in Mainz konnten wir Y. pestis-DNA in drei unserer Pestskelettsammlungen Im "Spurenlabor" (oben) wird alte DNA extrahiert. Jede Probe wird in die wässrige Phase überführt, die eine je eigene Färbung zeigt. aus dem 14. Jahrhundert nachweisen. Zu unserer Überraschung mussten wir feststellen, dass die Menschen an unterschiedlichen Stämmen von Y. pestis erkrankt waren. Durch einen Vergleich mit modernen Stämmen zeigte sich auch, dass eine dieser Linien heute nicht mehr existiert. Um die andere Linie genau zu bestimmen, sind weitere Analysen erforderlich. Bisher ging man davon aus, dass die Pandemiewellen von drei unterschiedlichen Biovaren, also biologischen Varianten, verursacht wurden: Das Y. pestis-Biovar Antiqua soll die Justinianische Pest (6. bis 8. Jahrhundert), Medievalis den "Schwarzen Tod" (1346 - 1750) verursacht haben. Und Y. pestis-Orientalis ist der Erreger, der die dritte Pandemie (1894 bis heute) verursachte. Unsere alten Stämme gehören allerdings weder zu den Biovaren Orientalis oder Medievalis noch zu den anderen so einfach definierten Subgruppen. Deshalb bleibt es ein wichtiges Ziel, diese und andere alte Y. pestis-Linien genauer zu identifizieren, ihre geografische Abstammung zu definieren - und damit die Geschichte der Pest aus molekularer Sicht aufzuklären.

Neben der Pest gab es viele Infektionen, die eine große Rolle in der Evolutionsgeschichte der Menschheit gespielt haben. Hier sind unter anderem auch Darminfektionen zu nennen. In Sizilien wurde in den 1990er-Jahren eine alte Grabstätte in einer Höhle mit etwa 300 Choleraopfern des 19. Jahrhunderts geöffnet und ausgewertet. Die aufgefundenen Knochen sind einzigartig, da kaum andere Skelette von Choleraopfern in Europa zu finden sind. Bei der Cholera handelt es sich um eine Darminfektionskrankheit, die von dem Bakterium Vibrio cholerae hervorgerufen wird. Der Tod der Betroffenen kann innerhalb von 24 Stunden infolge eines massiven Durchfalls eintreten. In den 1980er-Jahren entstand die Theorie, dass Menschen, die Träger der Mutationen im CFTR-Gen, die Zystische Fibrose auslösen (CF oder Mukoviszidose), sind, vor tödlichen Durchfallerkrankungen geschützt seien.

Mukoviszidose, eine Erbkrankheit, bricht dann aus, wenn das mutierte CFTR-Gen homozygot (reinerbig) vorliegt. Bis zu den 1950er-Jahren starben noch die meisten CF-Erkrankten bereits im Säuglings- oder Kindesalter und hatten keine Chance, das geschlechtsreife Alter zu erreichen. Aus diesem Grund müsste die Mutation mittlerweile verschwunden sein. Stattdessen ist Mukoviszidose die häufigste genetische Erbkrankheit in Europa: Ein Individuum von 25 ist potenziell ein Träger dieser schweren Krankheit.

Mehr als 1000 Mutationen können CF verursachen; die unterschiedlichen Mutationen beeinflussen die Ausbildung des CFTR-Proteins, das im Darm als Chloridkanal fungiert. CF-Heterozygoten, bei denen etwa 50 Prozent des CFTR-Proteins fehlerhaft produziert werden, könnten im Falle einer Cholerainfektion eine höhere Überlebenschance gehabt haben. So erfahren CF-Träger evolutive Vorteile. Das könnte die Verbreitung der Mutationen erklären. Der Zusammenhang zwischen einem möglichen Resistenzschutz der CF-Träger und der Cholera als Modell wird ebenfalls mithilfe von aDNA-Analyse in unseren Laboren untersucht.

Nach Berichten der Weltgesundheitsorganisation WHO stellen Infektionskrankheiten nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen weltweit dar. Die Mehrheit dieser Infektionen wird ursprünglich von Tieren auf den Menschen übertragen und verbreitet sich mit hoher Virulenz besonders in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte. Diese grundlegenden Bedingungen für den Ausbruch von Epidemien sind vermutlich mit der Sesshaftwerdung des Menschen und der Domestizierung unserer Haustiere entstanden. Beide Ereignisse sind in Europa zeitlich mit der sogenannten Neolithischen Transition (7000 - 5000 Jahre vor unserer Zeit) verbunden. Daher ist es von besonderem Interesse, solche Mutationen in prähistorischen Skeletten nachzuweisen. Mit dem Anfang unserer Kultur könnte auch die genetische Infektionsanfälligkeit ihren Anfang genommen haben.


Dr. Barbara Bramanti forscht mit ihrer Arbeitsgruppe am Institut für Anthropologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Adresse:
Institut für Anthropologie
Colonel-Kleinmann-Weg 2
55128 Mainz

DFG-Förderung als "Eigene Stelle" (Habilitationsstelle).

www.uni-mainz.de/FB/Biologie/Anthropologie/MolA/Deutsch/Mitarbeiter/Bramanti.html


*


Quelle:
forschung 3/2011 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 4-8
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Kennedyallee 40, 53175 Bonn
Telefon: 0228/885-1, Fax: 0228/885-21 80
E-Mail: postmaster@dfg.de
Internet: www.dfg.de

"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2007: 62,00 Euro (print),
62,00 Euro (online), 72,00 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2011