Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2020
FORSCHUNG
Dem Virus auf der Spur
von PM/RED
Internationales Forschungsteam unter Kieler Beteiligung weist Verbreitung unterschiedlicher Typen des neuartigen Coronavirus nach und ist den genetischen Ursprüngen des Virus auf der Spur.
Einer Gruppe internationaler Forschender aus der Genetik und
Archäologie aus Kiel und Cambridge ist es durch Anwendung
phylogenetischer Netzwerkanalysen gelungen, den Ursprung und die
Verbreitung von SARS-CoV-2 nachzuvollziehen. Laut Kieler
Christian-Albrechts-Universität (CAU) ist es die erste große, von
Experten begutachtete und damit qualitätsgesicherte Analyse der
Entwicklung der vollständigen Erbinformationen des Virus in diesem
weltweiten Ausbruch. Beteiligt waren Wissenschaftler um Dr. Michael
Forster, Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB) der
Medizinischen Fakultät der CAU und des UKSH, Campus Kiel, ebenso wie
das Team von Dr. Peter Forster vom McDonald Institute for
Archaeological Research an der Universität Cambridge. Ihre in der
Fachzeitschrift PNAS veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass sich in
Europa und Amerika andere Virustypen verbreiten als in China.
Bevor SARS-CoV-2 im vergangenen Jahr einen Menschen infizierte, hatten sich Vorfahren dieses Virus in tierischen Wirten entwickelt. Nach heutigem Erkenntnisstand ist ein Fledermaus-Coronavirus dem menschlichen SARS-CoV-2 am ähnlichsten. Dies geht aus dem Vergleich der Virus-Erbinformation hervor. Die Forschenden verglichen weiter die ersten 160 vollständigen Genome der menschlichen COVID-19-Viren, die zu Beginn des aktuellen Ausbruchs von Ende 2019 bis März 2020 von den weltweiten Forschungslaboren gesammelt wurden. Hierbei fanden sie drei zentrale Varianten, die sie als A, B und C bezeichnet haben. Typ A ist dem eng verwandten Fledermaus-Coronavirus am ähnlichsten und somit wahrscheinlich der Urahn aller menschlichen Coronaviren. Dies haben weitere Vergleiche mit zwei entfernter verwandten Pangolin-Coronavirus-Stämmen bestätigt. Interessanterweise ist der in Wuhan vorherrschende Typ B nicht der ursprüngliche menschliche Virustyp. Aber auch in Wuhan kommt Typ A, also das ursprüngliche menschliche Virusgenom, durchaus vor.
In der ersten Phase des Ausbruchs waren die A- und C-Typen in signifikanten Anteilen außerhalb Ostasiens zu finden - bei Betroffenen in Europa, Australien und Amerika. Im Gegensatz dazu ist der B-Typ der häufigste Typ in Ostasien. Der C-Typ ist u. a. früh in Singapur dokumentiert worden und auch unter den ersten europäischen Infektionsfällen häufig vertreten. Die Forschenden verwendeten eine phylogenetische Netzwerkanalyse. Diese Methode war ursprünglich in der archäologischen Forschung zur Rückverfolgung der Vorgeschichte der menschlichen DNA und zur Rekonstruktion prähistorischer Sprachen entwickelt worden. Im Gegensatz zu konventionellen Methoden ermöglicht es dieser Ansatz, hunderte mögliche Stammbäume gleichzeitig anzuzeigen - ein wesentlicher Vorteil, wenn der wahre Stammbaum unbekannt ist.
Die Anwendung dieser Methode im Fall des Coronavirus bedeutet, dass die Infektionswege für dokumentierte COVID-19-Fälle genau nachgezeichnet werden können. So wurde beispielsweise zunächst angenommen, dass der erste norditalienische Infektionsfall ("Patient Eins") von einer bestimmten Wuhan-Kontaktperson aus seinem Bekanntenkreis infiziert worden war. Doch als diese Kontaktperson getestet wurde, stellte sich heraus, dass sie das Virus nicht hatte. Die Suche nach dem italienischen "Patienten Null" endete somit in einer Sackgasse und eine wirksame Quarantäne potenziell infizierter Personen war unmöglich. Seitdem hat sich die Krankheit unkontrolliert in Italien ausgebreitet. Das phylogenetische Netzwerk weist auf mindestens zwei unabhängige frühe Infektionswege in Italien hin, von denen einer mit dem ersten bekannten Fall in Deutschland und der andere mit dem Ausbruch im sogenannten "Singapur-Zweig" in Verbindung steht. Die phylogenetische Rückverfolgung könnte daher künftig helfen, COVID-19-Infektionsquellen ungeklärter Herkunft zu identifizieren, die dann zur Eindämmung künftiger Ausbrüche der Krankheit unter Quarantäne gestellt werden können.
"Unsere Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit der genomischen Sequenzierung und der Anwendung der Methode der phylogenetischen Netzwerkanalyse", sagt IKMB-Wissenschaftler Dr. Michael Forster, der die Studie in Zusammenarbeit mit dem deutschlandweiten Gensequenzierungs-Zentrum "Competence Centre for Genomic Analysis" Kiel an der CAU durchführte. (PM/RED)
Anfang Texteinschub
Info
Originalarbeit: Peter Forster, Lucy Forster, Colin Renfrew, Michael
Forster (2020):
Phylogenetic network analysis of SARS-CoV-2 genomes.
Proceedings of the National Academy of Sciences. First published 8.
April 2020
Ende Texteinschub
Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildung der Originalpublikation:
Dr. Michael Forster, Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB) an der CAU, erforschte mit seinem Team und dem Team seines Bruders Dr. Peter Forster vom McDonald Institute for Archaeological Research an der Universität Cambridge das Coronavirus.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Nr. 5, Mai 2020, Seite 17
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2020
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