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ARTIKEL/416: DGSP-Jahrestagung "Alt werden - aber wie?" im November 2011 (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Eingliedern oder auswildern?
Bericht von der DGSP-Jahrestagung »Alt werden - aber wie?« vom 17. bis 19. November 2011 im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg Ravensburg-Weissenau

Von Ilse Eichenbrenner


Nebelfetzen über der Schwäbischen Alb - eine traumhafte Fahrt. Endlich lerne ich Weissenau kennen, eine der drei legendären Kliniken Südwürttembergs, die in ehemaligen Barockklöstern einquartiert wurden: Zwiefalten, Schussenried, Weissenau. Die Kirchtürme leuchten in der chronischen Novembersonne, die sich auch in den folgenden Tagen nur nachts zu einem langen, tiefen Schlaf verabschieden wird.

An der Pforte des psychiatrischen Zentrums fremdelt mein familiärer Bringedienst und fährt schnurstracks weiter zum unverdächtigen Bodensee. Ich hingegen fühle mich schon beim Anblick der Pforte, als käme ich nach Hause, in die vertraute gute alte Großklinik. Ich schleife meinen Rollkoffer durch das gepflegte Gelände, sicher geführt von Wegweisern, vorbei an verlockenden Bänken mit der rauchenden Kundschaft, und weiter entlang an Pavillons, Kantinen und Verwaltungsgebäuden, bis ich tatsächlich in dem schönen Klosterhof lande.

Das Tagungsbüro findet sich mit seinem gut gelaunten und rührigen Geschäftsstellenteam im Foyer des festlichen Veranstaltungssaals. Alle Vorträge finden hier statt - unter barocker Deckenbemalung, durchflutet von mediterranem Licht. Erst der Klinikchef Schmidt-Michel wird uns auf die kleinen rechteckigen Markierungen im Stuck hinweisen, mit denen das Fortschreiten des für uns unsichtbaren Verfalls - Nanorisse im Klostergemäuer - evaluiert wird.


Ravensburg = Stadt der Spiele

Doch zunächst spricht Dr. Daniel Rapp, Oberbürgermeister der Spielestadt und des Stadtspiels, und zwar unplugged wie alle an diesem ersten Nachmittag, denn die Mikrofonanlage und das erste und zweite und dritte Ersatzgerät haben den Geist aufgegeben. Kismet. Dies ist und bleibt die erste und einzige Panne einer ansonsten komplett und fast unanständig pannenfreien Tagung - doch davon später mehr. Der Bürgermeister weist uns auf den so merkwürdig verstopften Seiteneingang hin: Ein riesiger grauer Bus aus Beton symbolisiert jene Vehikel, mit denen die Patienten während des Nationalsozialismus von hier und anderen Anstalten in den Tod transportiert wurden. Ein erster Bus ist also hier als ewige Sperre fest installiert, ein zweiter, mobiler Bus unentwegt unterwegs in Deutschland. Ich kenne ihn seit einem Zwischenstopp vor der Philharmonie in Berlin, der einstigen Tiergartenstraße 4, wo er den Ausgangsort dieser Verbrechen brandmarkte.

Das alles erscheint uns kaum vorstellbar dunkel und grausig in diesem flirrenden Licht; wir sind noch ganz beschwingt von einem Fußmarsch nach Ravensburg, wo wir wie Spieler in einem mittelalterlichen Fantasy-Game in putzigen Fachwerkhäusern unsere Hotelzimmer eroberten.

Dr. Daniel Rapp ist auch unverstärkt hervorragend zu hören und hat nicht nur stimmlich Gewicht, sondern zweifellos Ahnung von unserem Geschäft. 5000 Menschen leben in Ravensburg von der Gesundheitsbranche und sorgen für Umsätze; das Zentrum für Psychiatrie mischt da nicht unerheblich mit.

Friedel Walburg begrüßt im Namen der DGSP, aber auch im Namen der gastgebenden Region Baden-Württemberg. Er freut sich sichtlich, einmal ein Heimspiel anpfeifen zu dürfen.

Doch der wahre Hausherr ist der ärztliche Leiter Paul-Otto Schmidt-Michel, der auch gleich noch den ersten Vortrag hält: »Alternde Sozialpsychiatrie und alternde Sozialpsychiater - südliche Betrachtungen«. Ursprünglich sollte ja die ganze Tagung nachdenken über das »Gemeinsam alt werden in der Sozialpsychiatrie«. Denn es sind ja wir selbst, die alt geworden sind mit unseren Klienten und Patienten. Und einige Kollegen, das moniert der Referent ein wenig hämisch, schaffen es einfach nicht, sich zu verabschieden. Ich bin ein wenig gekränkt, stellvertretend vielleicht, und weil meine eigene Altersplanung so ganz nebenbei lächerlich gemacht wird. (Wo steckt eigentlich Klaus Dörner?)

Moderator Michael Konrad und Referent Schmidt-Michel beschwören die Vergangenheit: 1978 trieben sich beim Mannheimer Kreis unfassbare 1600 (eintausendsechshundert!) Tagungsbesucher auf dem Gelände herum und hinterließen, wie der Verwaltungsleiter damals notierte, einen »dramatisch zerstörten Rasen«. Heilig's Blechle! Sie kampierten in ihren Pkws und in Zelten, vielleicht sogar auf dem nackigen Fußboden, lauschten Asmus Finzen und einige - so hörte ich später von anderen Chronisten - tanzten sogar auf dem Tisch. 1985 wurde die berühmte Familienpflege gegründet, 1987 skandalisierte ein heimlich eingeschleuster »Spiegel«-Redakteur »Pillen statt Zuwendung«, und von 1996 bis 2001 wurde dezentralisiert. Und nun? Die Spaltung zwischen sozialer Kontrollfunktion und therapeutischem Anspruch macht Schmidt-Michel Sorgen, aber auch die Kluft zwischen Krankenkasse und Sozialhilfe und die zwischen Psychiatrie und Psychosomatik. Und trotzdem: Schmidt-Michel war wie viele andere inzwischen in Geesthacht und staunte über Matthias Heißlers »Post-Psychiatrie«. Wird tatsächlich kein Stein auf dem anderen bleiben, wie es in der »Sozialen Psychiatrie« 4/2011 geschrieben stand? Er ist sich sicher: Die Funktion des Symptoms kann man auf der Akutstation nicht begreifen.


Also doch - ins Pflegeheim?

Die nächste Referentin, Frau Trede-Kretzschmar, leitet in Stuttgart eine kleine Einrichtung für Menschen mit Demenz und führt uns nun schnurstracks weg von der sozialpsychiatrischen Nabelschau zum eigentlichen Motto der Tagung: »Alt werden ist nichts für Feiglinge«. Sie kokettiert ein wenig mit der Frage, was denn nun eigentlich das Alter sei, und beantwortet sie mit einer Reihe von Tragödien und Episoden aus der eigenen Lebensgeschichte. Also ist Alter immer relativ, aber das wusste ich irgendwie schon. Sie rät dazu, einmal den Zwölffachvergrößerungsspiegel für eine kleine Schocktherapie zu nutzen: »Da trifft dich schier der Schlag.« Und wenn man dann wieder in den ganz normalen Spiegel schaut ... bin ich wieder jung? Der Saal lacht und klopft sich auf die Schenkel. Es hilft ja alles nichts. Es gehe letzten Endes immer um die Beziehungen und nicht um die Strukturen. Pflegeheime sind gute Einrichtungen für Menschen mit Demenz, man muss sich nur die Zeit nehmen, die man ja hat, und Netzwerke stricken, häkeln, knüpfen. Okay, sage ich mir, alles halb so schlimm. Carpe diem, Ilse, und melde dich schon mal in einem innerstädtischen Pflegeheim an.

Die erste von vielen erfreulichen Pausen führt uns ins Erdgeschoss, in einen Kreuzgang zum Flanieren, voll mit Büchertischen, an- und abregenden Flüssigkeiten, Früchten und Gebäck. Ein paar Schritte weiter gibt es Kunst zu bewundern, Einblicke in die forensische Kunsttherapie anlässlich der Vorstellung einer Neuerscheinung im Psychiatrie-Verlag: »Narziss im Steinbruch«. Immer wieder während der gehaltvollen Tagung ziehen sich Besucher und die Autorin in diese stillen Ecken zurück und sinnieren über Skulpturen und hochkarätige Fotografien oder starren auf irgendein Display.

Monika Bachmeier und Richard Suhre stellen die TUWAS-Aktion vor und animieren die Besucher, zum Tagungsthema eigene Ideen zu entwickeln. Vor dem Saal ist eine Ideen-Wand platziert, auf der die Vorschläge der Teilnehmer angepinnt und am letzten Tag mit Punkten bewertet werden.

Der nächste Referent, Professor Dr. Ralf-Bruno Zimmermann von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin-Karlshorst, liegt mit 40 Grad Fieber im Bett und kann seinen Vortrag zur Fehlplatzierung von psychisch Erkrankten in Pflegeheimen nicht halten. Das ist schade und bleibt eine Leerstelle in der Tagungsdramaturgie. Andererseits: Nun sind wir noch frisch genug, um aufmerksam den Ausführungen von Dr. Peter Messmer zu folgen. Er ist Soziologe im Sozialministerium und muss ebenfalls ohne Mikro zu uns sprechen - dafür hat er seinen USB-Stick samt einer IA-Präsentation dabei. Kann man in Pflegeheimen gut leben? Er bekennt sich ausdrücklich als Gegner der Dörner'schen Thesen (wo steckt der eigentlich?) und meint: Ja, in Pflegeheimen kann man fast normal leben. Er gibt uns einen kurzen Abriss der Psychiatriereform unter besonderer Berücksichtigung der Wohnform 'Heim' und präsentiert uns dann die Inhalte diverser Heimgesetze und der Heimmindestbauverordnung. Er beweist der Zuhörerschaft, dass mit diesen öden, trockenen formalen Strukturen das Monster Pflegeheim zu bändigen ist. Die baden-württembergische Rechtsverordnung nach § 24 Landesheimgesetz erlaubt nicht mehr als 100 Plätze an einem Standort und schreibt Einzelzimmer, maximal Doppelzimmer mit 16 Quadratmeter (ohne Vorraum) oder 14 Quadratmeter (mit Vorraum) zwingend vor. Mit Bauplänen zeigt er, wie Einzelzimmer in Doppelzimmer und umgekehrt zu verwandeln sind, wenn dies beim Grundriss bereits berücksichtigt wurde. Die Heimmindestbauverordnung, so erfahre ich später, hat in Baden-Württemberg enorme Bedeutung, auch für die Sozialpsychiatrie. Trotzdem sind sie mir zu klein, die Weckle), die hier gebacken werden. Soll ich mich nun arrangieren mit einem Einzelzimmer im Pflegeheim?

Der Tag endet mit der Mitgliederversammlung, in diesem Jahr ohne Vorstandswahl. So bleibt Zeit für die ausführliche Vorstellung des Rechenschaftsberichts, erstmals mit PowerPoint. Wir sind alle beeindruckt von den vielen Aktivitäten, nicht zuletzt von der Überreichung der 6500 Unterschriften zur Resolution gegen den im Rahmen der Integrierten Versorgung geschlossenen Vertrag der AOK Niedersachsen mit der Pharmatochter I3G zur Behandlung von 12.000 an Schizophrenie erkrankten Patienten. Vieles ist in Planung, einiges wird noch angemahnt: Die DGSP habe die Entwicklung im außerklinischen Bereich aus den Augen verloren, lautet ein Vorwurf. Um die Eingliederungshilfe muss sich also der Verband mit allen seinen Organen in den nächsten zwei Jahren intensiv kümmern.


Willkommen in »Sun City«!

Der neue Tag beginnt mit Sonnenschein und einer funktionierenden Verstärkeranlage. Er wird von Dr. Jochen Tenter moderiert und mit einem Vortrag eröffnet. Er ist seit einundzwanzig Jahren in der Alterspsychiatrie tätig und gibt uns zunächst einmal eine solide Einführung: Stichwort demografischer Wandel, Babyboomer, Nobel-WGs (Henning Scherf) und »Sun Cities«, also Rentnerstädte, vorzugsweise in den USA. In Mecklenburg-Vorpommern passiert alles schon dreißig Jahre früher - die Alten sind unter sich. Tenter warnt vor lähmendem Pessimismus: Die therapeutischen Möglichkeiten der Alterspsychiatrie werden unterschätzt. Die Sozialpsychiatrie bekommt ein paar Seitenhiebe; wesentliche Forderungen der Enquete seien noch immer nicht erfüllt - so habe man grade mal halb so viele Betten wie in der Enquete seinerzeit empfohlen. Tenter engagiert sich in der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie und regt die Zusammenarbeit seines Verbandes mit der DGSP an. Aber: Er bekennt sich zur spezialisierten Gerontopsychiatrie; das habe er wohl von seinem geschätzten Lehrer, dem früheren Chefarzt der »Weissenau«, Günther Hole. Und noch ein Aber: Es gebe Grenzen. Aggressionen auf gerontopsychiatrischen Stationen seien häufiger als im Krankenhaus des Maßregelvollzugs. »Man kann nicht jedem Verhalten mit angemessenem Verhalten begegnen.« Mit den 25-Minuten-Kontakten der zukünftigen Krankenhausfinanzierung seien Schwerkranke nicht zu versorgen.

Irgendwie werden die Weckle immer kleiner. Nicht nur das Pflegeheim, sondern auch die spezialisierte Alterspsychiatrie steht wieder auf der Agenda. Es regt sich kein Widerspruch, keine Diskussion entsteht. Rollt der Stein gerade wieder den Abhang hinunter, der DGSP und Dörner direkt auf die Füße?

Seit sieben Jahren ist sie pensioniert und engagiert sich seither bei 'Mental Health Europe'. Frau Elisabeth Muschik ist Psychotherapeutin und über 'Pro Mente Wien' in diese europäische Organisation geraten, in der es eine Arbeitsgruppe »Soziale Psychiatrie« gibt und der die DGSP inzwischen angehört. Frau Muschik gibt einen Überblick über die Aktivitäten im EU-Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 und das Jahr 2012 mit den geplanten Aktionen zum Thema »Aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen«. Sie fordert auch uns auf, begegnungsfördernde Räume zu schaffen: Tante-Emma-Läden, Kirchengemeinden, das Tanzen auf öffentlichen Plätzen, wie es in Kopenhagen jetzt üblich ist. Frau Muschik weiß, dass die DGSP aus einer Jugendrevolte entstanden ist: »Nun, wo Ihre Protagonisten selbst alt werden, ist es ganz normal, dass Sie sich mit dem Alter beschäftigen.« Ich sehe mich schon vor der Gedächtniskirche beim Twisten - oder doch eher beim Slowfox. Immerhin ist Frau Muschik selbst eine elegante Akteurin, die aktives Altern mit souveränem Engagement vorbildlich zu verbinden vermag. Immerhin ein Modell, eine Perspektive.


Moderat-moderierte Alternativen

Nachdem wir uns durch unseren kulinarischen Kreuzgang gefuttert haben, strömen wir aus zu diversen Foren und Arbeitsgruppen. Den ersten Durchlauf widme ich »Deutschlands erster Montessori-Wohngemeinschaft«, die ich ganz zufällig kenne. Seit einigen Jahren und in skandalöser Weise zunehmend werden die Sozialarbeiterinnen in den Sozialpsychiatrischen Diensten Berlins als Hilfebedarfsfeststellerinnen zwangsverpflichtet. Wer also - zum Beispiel in dieser Montessori-WG in Berlin-Wilmersdorf - einen Bedarf an Hilfe zur Pflege hat, der die Leistungen der Pflegeversicherung übersteigt und die Differenz nicht selbst bezahlen kann, der muss (zum Beispiel) von mir untersucht und begutachtet werden. Dabei muss ich natürlich als Agentin des Staates vulgo des Steuerzahlers auf extreme Sparsamkeit achten und darf auf keinen Fall die aufwendige psychosoziale Versorgung à la Maria Montessori nach dem Motto »Hilf mir, es selbst zu tun« unterstützen. Das alles behalte ich natürlich für mich und lausche beglückt den Idealvorstellungen des Journalisten Jörg Wellenkötter, der zusammen mit seiner Schwester, einer Montessoripädagogin, für seine demenzkranken Eltern diese WG aufgebaut hat. Es lebe der Selbstzahler, denke ich. In Baden-Württemberg, so erklärt Herr Schulte-Kemna in der abschließenden Diskussion, wären Wohngemeinschaften dieser Couleur und Größenordnung längst als stationäre Einrichtungen eingestuft und müssten sich der bereits beschriebenen Heimmindestbauverordnung unterwerfen.

Nach einem weiteren Gourmetgang (wahlweise vegetarische Maultäschle mit schwäbischem Kartoffelsalat oder Nudeln mit geschnetzelter Entenbrust, dazu Blattsalate der Saison) in der Mensa besuche ich eine Arbeitsgruppe mit der Fragestellung: »Wie viel Psychiatrie findet in der Altenhilfe statt?« Gerhard Schiele stellt die Aktivitäten der 'Stiftung Liebenau' vor und referiert beeindruckende Zahlen. Besonders interessant finde ich die »Lebensräume für Jung und Alt«, immerhin 24 Anlagen mit 800 Wohnungen und 15 Jahren Erfahrung. Herr Schiele weist auch auf jenes Problem hin, das der erkrankte Referent Professor Zimmermann in Berlin untersucht hat: Immer mehr psychisch erkrankte Menschen kommen ins Pflegeheim, darunter immer mehr Männer, die auch mal aggressiv werden. Doch es gibt auch hoffnungsvolle neue Konzepte, z.B. die Gemeinwesenarbeit rund um das Mehrgenerationenhaus Gänsmühl. Hier leben in 133 Wohneinheiten junge und alte, helfende und hilfebedürftige - »sotte ond sotte« - Ravensburger Bürger zusammen. Es gibt ein Café mit Bäckerei und Mittagstisch, ein Stadtteilbüro und einen Bürgertreff, alles betrieben von zirka 100 Ehrenamtlichen und Profis. Das alles wird über ein kompliziertes System finanziert - kurzfristig schwirrt mir der Kopf. Doch: Der Vortrag der engagierten Sozialpädagogin Susanne Weiss macht mir wieder ein wenig Mut; und wenn ich den Kopf nicht hängen lasse, kann ich über mir durch die wunderbarsten, an die Decke gemalten Landschaften spazieren.

Diesmal wird sogar diskutiert. Etliche Teilnehmer berichten, dass die erhoffte Inklusion von Altenhilfe und Sozialpsychiatrie nur selten funktioniere: »Wir bleiben deutlich unter unseren Möglichkeiten.« Der abwesende Herr Dörner nickt.

Vielleicht hätte ich meiner eigenen Grundregel folgen sollen: immer eine lokale Arbeitsgruppe besuchen. Mein Tischnachbar, Detlef Petry, hatte mir beim Mittagessen vom Forum XII vorgeschwärmt: »Welche Bedeutung hat die Architektur für die Pflege psychisch erkrankter Menschen?« Hätte ich doch auf ihn gehört!

Das hoch gelobte, von Heimleiter Michael Konrad moderierte Forum tagte in einem preisgekrönten eiförmig-elliptischen Gebäude für Demenzkranke, in dem diese für immer und ewig im Kreis herumlaufen können und trotzdem im Kontakt mit der Natur bleiben. Das »Haus als Gemeinde« habe ich dann doch noch gefunden, im Internet.*

Der strenge Moderator Tenter hat zur Pünktlichkeit gemahnt, und alle haben ihre Sonnenplätze im Park verlassen. Die Theatergruppe »companie paradox« spielt auf.

Mit riesigen Masken schwanken sie auf die Bühne. Dort stehen sie auf dem Schlauch. Kein Quatsch, die medikamentöse Behandlung erfolgt per Pipeline. Der Reinigungsmann kommt mit seiner Putzmaschine, schüttet bunte Pillen in den Einlaufstutzen, pumpt ein paarmal und schon verteilt sich das Psychopharmakon durch den Schlauch direkt zu den Patienten. Die fangen nun - je nach Medikament - zu fetziger Musik zu stampfen oder zu romantischen Klängen zu kuscheln und schließlich sogar zu streiten an. Erst am Schluss, als ein echter, leibhaftiger Menschendirigent die Bühne betritt, kommt so etwas wie Freude auf. Wer es jetzt noch nicht gewusst hat: Menschliche Zuwendung ist durch keine Pille zu ersetzen.

Bilder und Videos und einen Bericht über die Verleihung des Antistigmapreises an die »companie paradox« auf dem DGPPN-Kongress in Berlin 2010 ergoogle ich unter www.co-pa.de

Bernd Meißnest betritt die Bühne, auch er ein Akteur und Aktivist, jugendlich beinahe und doch kaum zu bremsen vor lauter Erfahrungswissen und Optimismus. »Unsere Lebenserwartung steigt fünf bis sechs Stunden pro Tag.« Wunderbar! Die Gemeindepsychiatrie hat vor den Alten Halt gemacht. Es gibt keine Hilfeplankonferenzen, keine echte Schnittstelle. Altenhilfe und Gerontopsychiatrie haben sich völlig unterschiedlich entwickelt. Es gibt keine Deinstitutionalisierung wie in der Psychiatrie. (Was ist mit den hunderten von Demenz-WGs in Berlin, murmle ich vor mich hin, ist das keine Ambulantisierung?) Meißnest beklagt einen massenhaften Wechsel der älter werdenden Klienten der Gemeindepsychiatrie in die Altenhilfe. Denn das ganze System funktioniert nicht für Demente. Ältere Patienten sind kostenintensiver, wenig mobil und auch wenig attraktiv für das stationäre System.

Meißnest fordert freien Zugang zu allen Hilfen, z.B. Psychotherapie, auch für Alte, ein demenzfreundliches Krankenhaus, in dem sich die Disziplinen vernetzen. Es muss ein betriebliches Auswilderungs..., Quatsch, er sagt natürlich Ausgliederungsmanagement geben, die Vorbereitung aller Beschäftigten auf den Ruhestand. Er schildert innovative Konzepte, vor allem aus seiner eigenen Region in Gütersloh. Dort gibt es reichlich Tagespflegeplätze, ganzjährig geöffnet (!), und Hausgemeinschaften und kleine WGs und - wie immer bei Bernd Meißnest - eine Folie in altdeutscher Schrift: »Getränke heute frei«. Seiner Ansicht nach kann man die Generation der Alten - knauserig und schnäppchenbewusst - auf diese Weise am ehesten zum Trinken animieren.

Ich grüble noch ein wenig über das Auswilderungsmanagement. Wäre nicht gerade die DGSP dazu prädestiniert, Auswilderungskurse für rentennahe Psychoarbeiter anzubieten - mit Starreferenten wie Maria Rave-Schwank, Arnd Schwendy, Lotte Köttgen, Niels Pörksen und natürlich Klaus D...?


Und zwischendurch gibt's Google-Hupf

Zur Fete mit günstigen Getränkepreisen geht es durch den dunklen, jetzt unheimlichen Park in die Mehrzweckhalle, wo die Band »Blue Monx« das Publikum und seine morschen Knochen schüttelt und rüttelt. Doch davor reiben sich alle die Augen und können kaum glauben, dass sie auf einer DGSP-Fete sind: mediterranes Büfett, danach Osso Bucco und Pasta und Zander und Kartoffelgratin und Salate und bayrische Creme mit Himbeermark, garniert mit Physalis und frischen Feigen, Käseauswahl ­... und von allem gibt es genug, und wir schlagen nach, und es nimmt einfach kein Ende. Vermutlich haben einige auf ihren Smartphones die Kalorien berechnet, ihre Personaltrainer und Diätassistenten konsultiert und hüpfen und wackeln jetzt herum und haben endlich mal den Energiesparmodus abgeschaltet.

Ein voller Saal am letzten Morgen, glänzende Augen, erwartungshungrige Jünger. Ein Guru tritt auf. Dr. Wolf Büntig, Gründer des nicht nur in südlichen Gefilden berühmten psychotherapeutischen Instituts ZIST, spricht unter dem Titel »Alt werden in psychosozialen Berufen« über sich selbst, über uns und was er von uns zu wissen meint. Er war zwanzig Jahre lang externer Berater einer großen Firma, da hat er einiges zum Thema erlebt. Er kennt seine Ausgebrannten. Er hat Castaneda gelesen und eine Woche bei den Sioux hospitiert. Lassen wir ihn doch einfach selbst zu Wort kommen: »In den Chefetagen wimmelt es von vaterlosen Gesellen.« - »Die Väter haben zumindest eins zustande gebracht: uns.« - »Das Kind scheißt einen Haufen. Wen lobt die Mutter? Den Haufen, nicht das Kind.«

Büntig rät uns zur Hingabe an den Fluss des Lebens. Er rühmt das Singen im Chor und das London Concert von Leonard Cohen. »Es gilt, die Fülle zu entdecken, die in der Leere ist.« Großer, stürmischer Beifall. Und wie immer bei derart charismatischen Rednern scheiden sich die Geister im Kreuzgang und erst recht beim Rauchen vor der Tür. Ich muss gestehen, dass es mir geht wie nach einem Gottesdienst: Schöne Worte, allein mir fehlt der Glaube.

Manne Locher von den Grünen kommt und wirbelt uns in die Realität zurück. Auf zum Volksentscheid am nächsten Wochenende gegen 'Stuttgart 21'! Die Grünen machen sich stark dafür, die 50%ige Kürzung der Mittel für die Sozialpsychiatrischen Dienste in Ba-Wü rückgängig zu machen. Baden-Württemberg bekommt endlich ein PsychKG; daran wird momentan unter Beteiligung aller Verbände gearbeitet. Aber jetzt muss Manne Locher weg, auf den Marktplatz, wegen 'Stuttgart 21' ...


Akupunkturpunkte der Gemeinden

Detlef Petry ist seit zwei Jahren in Rente und blickt nun zurück auf ein ganzes Leben an der Seite der Kränksten, der Alten, der chronisch Kranken. Er berichtet, wie es dazu kam und wie viel er davon profitiert hat. Und doch kam er sich oft vor wie ein Sisyphos, der jeden Tag den Stein einen steilen Berg hochrollen muss. Im Alter sind die Steine etwas kleiner ... Es ist gewaltig, was sich in den Niederlanden und um Petry herum und durch ihn bewegt hat. Es werden keine Epikrisen mehr geschrieben, sondern Lebensbücher erarbeitet. Es gibt eine zweijährige Ausbildung zum Lebensbegleiter** und Bürgerhelfer, die 300 ehemalige Patienten als Freunde unterstützen, und in jedem psychiatrischen Team einen psychiatrieerfahrenen Mitarbeiter. Aber auch in den Niederlanden hat die Marktwirtschaft zugeschlagen: Schon 2007 hatte Petry mit einem Bericht in den »Sozialpsychiatrischen Informationen« über die Umwandlung menschlicher Betreuungsleistung in abrechenbare Produkte die Leser schockiert - inzwischen kennen auch wir, wovon er damals sprach. Detlef Petrys menschliche Grundhaltung bewegt uns alle - und euphorisiert uns zugleich. Und plötzlich bin ich mir ganz sicher: Die soziale Psychiatrie ist doch der richtige Strang, an dem ich mit all den anderen Rastlosen zusammen weiter ziehen möchte ...

Nach der Würdigung der diesjährigen TUWAS-Idee und einem Aufruf zu einer Projektwerkstatt besteigt ein junger Politologe aus Österreich das Podium. Dr. Manfred Hellrigl ist der Leiter des Büros für Zukunftsfragen der Vorarlberger Landesregierung. Er wurde eingeladen, weil er ein Experte ist für neue, ungewöhnliche Strategien der Bürgerbeteiligung. Wenn man den Bürger wie einen Kunden behandelt, darf man sich nicht wundern, wenn er sich wie ein Kunde aufführt. Wie kann man das ändern? Hellrigl ist ein hoch begabter Agitator im positiven Sinne: Mit erfrischenden Folien führt er uns ein in die von seinem Team entwickelte Methode der »wertschätzenden Befragung«. Er beschreibt einzelne Problemstellungen und Aktionen, z.B. die Beteiligung der Bürger von Bregenz bei der Gestaltung der Seepromenade. Hellrigl meint: Man muss zunächst die Akupunkturpunkte im System identifizieren und stimulieren. Es gilt, das Prinzip der Selbstorganisation zu fördern: Kreisverkehr statt Ampeln, lebenswert leben durch eine lebendige Gemeinde. Das alles ist weitab von der Psychiatrie und doch Sozialraumorientierung ganz handfest und überzeugend. Alle sind ein wenig »angestochen« von Hellrigl, und einige nehmen sich fest vor, mit ihm einmal einen Workshop auszurichten.

Also verlassen wir ganz optimistisch die Klostermauern, nicht ohne uns vorher noch in der Kantine mit den Resten des Festessens von gestern zu stärken. Auch daran haben die umsichtigen Organisatoren gedacht! Nun ist die Tagung endgültig zu Ende, und ich fühle mich, als hätte ich eine Chance, meine allerletzte Gelegenheit für eine gelungene Altersplanung verwirkt. Und als habe sie nun auch keine Lust mehr, verzieht sich die Sonne. Bin ich nun wirklich schlauer als vorher? Wie werde ich mein eigenes Alter gestalten? Nebelfetzen ziehen durch mein Gehirn, akustische Ausfälle und Geschmackssensationen wetteifern miteinander. Alt sein ist toll, Pflegeheime sind total in Ordnung, die Alterspsychiatrie muss ausgebaut und optimiert werden. Aktive Protagonisten kommen ins Auswilderungsgehege, wo sie sich mit Krankenhausfinanzierung, Standardtänzen oder der Stimulierung von Akupunkturpunkten beschäftigen dürfen. Byebye, Sun City. Alt werden, aber wie?


Internet-Hinweise


* www.netzwerk-gesundheit.de/cms/artikel_lesen.php?id=338
** www.chronos-euregio.org


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Begrüßung unter barocker Deckenbemalung
- Der graue Bus: Erinnerung an Patiententransporte in den Tod
- Ausstellung: Kunst aus der Forensik
- Die Theatergruppe »companie paradox« spielt auf
- Festsaal im ehemaligen Klostergemäuer
- Konzentriert am mediterranen Büfett
- Chronistin Ilse Eichenbrenner, DGSP-Jahrestagung 2011

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012, Seite 4 - 8
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang

Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro

Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung

Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2012

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