Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → PSYCHIATRIE


ARTIKEL/421: Das Recht auf Behandlungsverweigerung ... auch für psychisch Erkrankte (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Das Recht auf Behandlungsverweigerung ...
­... auch für psychisch erkrankte Menschen - eine nachgeholte Debatte

Von Asmus Finzen


Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung hat eine Debatte losgetreten, die in den USA vor Jahrzehnten geführt worden ist: über das Recht auf Behandlungsverweigerung seelisch kranker Menschen - ein Recht, das körperlich Kranke für sich selbstverständlich in Anspruch genommen haben und das juristisch unanfechtbar war und ist. Psychisch Kranken wurde es in der Regel ebenso selbstverständlich verweigert, weil sie in der Psychose als »krankheitsuneinsichtig«, urteils- und entscheidungsunfähig galten und oft immer noch gelten. Das ist manchmal auch nicht ganz falsch; und es lässt sich, wenn man will, immer unterstellen. Leider haben viele behandelnde Ärzte die Tendenz, das regelmäßig auch zu tun. Das ist eine der Selbstverständlichkeiten der früheren Psychiatrie, die sich als Hintergrundvorstellung bis ins dritte und vierte Glied der Reformpsychiatrie fortgesetzt hat. Und das verstößt gegen eine der Grundforderungen der gegenwärtigen Psychiatrie, auch mit Schwer- und Akutkranken respektvoll über notwendige und sinnvolle Behandlung zu verhandeln.

Das Patientenverfügungsgesetz schafft nun Rechtsgleichheit. Patientenverfügungen regeln, was man für den Fall der krankheitsbedingten vorübergehenden oder andauernden Urteils- und/oder Entscheidungsunfähigkeit will und was man auf keinen Fall will. Dazu kann auch gehören, dass man bestimmte Formen von Behandlung verweigert bzw. dass man die Behandlung ganz verweigert. Ob das klug ist oder nicht, spielt rechtlich keine Rolle, sofern man die Patientenverfügung zu einem Zeitpunkt erstellt hat, zu dem man urteils- und entscheidungsfähig war. Dass Kranke sich durch »unvernünftige« Verfügungen Schaden zufügen können, hat im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses eine große Rolle gespielt. Es ist im Übrigen keine Besonderheit der Psychiatrie. Das Parlament hat sich dennoch für die Respektierung der Entscheidungsfreiheit der Betroffenen entschieden.


In Vorurteilen gefangen?

Viele Psychiater und manche Angehörige haben dennoch nach wie vor große Bedenken gegen Patientenverfügungen von psychisch Kranken. Sie fürchten, diese seien besonders gefährdet, sich durch eine solche Verfügung zu schaden, indem sie dadurch eine notwendige und hinreichende Behandlung verhindern, die sie vernünftigerweise wollen müssten. Tatsächlich ist vor der Verabschiedung des Gesetzes eine Delegation von Psychiatern und Angehörigen psychisch Kranker - ob Psychiatrie-Erfahrene dabei waren, entzieht sich meiner Kenntnis - nach Berlin gereist, um sich Gehör zu verschaffen. Der Gesetzgeber hat sich entschieden, dem Willen des Patienten auch bei psychischer Krankheit den Vorrang einzuräumen.

Warum sollte das bei psychisch Kranken auch anders sein? Offenbar wird unterstellt, dass sie, anders als Menschen mit schweren körperlichen Krankheiten, wegen ihres Leidens dazu prädestiniert sind, unvernünftige bzw. selbstdestruktive Regelungen zu treffen.

»Nach wie vor gibt es große Bedenken gegen Patientenverfügungen von psychisch Kranken«

Die Selbstverständlichkeit, mit der viele Fachleute Einwände und Bedenken gegenüber Patientenverfügungen bei psychischer Krankheit erheben, erstaunt. Sie kann nur einen Grund haben: dass die gängigen Vorurteile gegenüber psychisch Kranken hier fröhliche Urständ feiern: angebliche »Uneinsichtigkeit« als Krankheitsmerkmal, Kooperationsverweigerung als Leitmotiv, antipsychiatrische Tendenzen als Grundüberzeugungen. Offenbar orientieren manche Psychiater und Angehörige sich am so genannten »schwierigen« Patienten - oder besser an Kranken, mit denen sie Schwierigkeiten haben. Gewiss gibt es solche Kranke. Aber oft haben solche Schwierigkeiten auch mit dem Fehlen einer vertrauensvollen Beziehung zu tun, die bekanntlich keine einseitige Angelegenheit ist; und ebenso haben sie damit zu tun, dass Ärzte und Angehörige sich in objektiv schwierigen Situationen schwertun. Das hat vielfältige Gründe: z.B. dass ihnen die notwendige Geduld, das notwendige Beharrungsvermögen oder das notwendige Verhandlungsgeschick fehlen; oder dass ihnen in Akutsituationen einfach nur die Zeit fehlt, sich auf deeskalierende Strategien einzulassen.

Auf jeden Fall machen sie es sich zu einfach, wenn sie Patientenverfügungen bei psychischer Krankheit unter Berufung auf ihre Fürsorgepflicht gegenüber dem urteilsunfähigen Patienten ablehnen. Die Patientenverfügung soll ja gerade für diese Situation Vorsorge treffen. Und das bedeutet, dass sie zu einem Zeitpunkt erstellt wird, zu dem der/die Kranke urteils- und handlungsfähig ist. Ihm/ihr das zu verweigern, wäre ein massiver Verstoß gegen die Grundrechte. Es wäre gleichsam eine »vorsorgliche Entmündigung«. Es wäre rechtswidrig. Deswegen muss man darüber auch nicht weiter diskutieren.


Das Recht auf Behandlungsverweigerung - do »they rot with their rights on«?

In den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die US-amerikanische Psychiatrie von der »Right to refuse treatment«-Bewegung erschüttert. Bis dahin glaubten die amerikanischen Kollegen, mit ihren psychisch kranken Patienten anders umgehen zu dürfen als mit körperlich Kranken. In der Psychiatrie war es weithin üblich, dass sich die behandelnden Ärzte über das Recht der Kranken auf Aufklärung (»informed consent«) hinwegsetzten; und dass sie sich das Recht anmaßten, sie gegebenenfalls auch gegen ihren Willen zu behandeln. Sie unterstellten einfach, die Kranken könnten die Notwendigkeit der Therapie wegen ihres Zustandes ohnehin nicht beurteilen. Dabei machten sie in der Regel auch keine Unterschiede zwischen freiwillig aufgenommenen und zwangseingewiesenen Patienten. Das änderte sich, als immer mehr Patienten in immer mehr Einzelstaaten Anwälte fanden, die sich für ihre Rechte einsetzten. Als Folge davon wurde das Recht auf Aufklärung und - mit gewissen Einschränkungen - auch das Recht auf Behandlungsverweigerung anerkannt und durchgesetzt.

Die Rechtsprechung löste in psychiatrischen Kreisen Empörung aus. Man werde künftig psychische Störungen nicht mehr wirksam behandeln können. Die emotional zugespitzte Situation gipfelte in der wütenden Äußerung Thomas Gutheils: Die Kranken würden ihr Recht erhalten, darüber aber zugrunde gehen (»rot with their rights on«). Bemerkenswerterweise erwartete man ziemlich einhellig, die neue Rechtslage werde dazu führen, dass ein sehr großer Anteil der Patienten die Behandlung verweigern würde; und dass die psychiatrischen Krankenhäuser auf diese Weise zu Internierungslagern werden würden. Tatsächlich ergaben erste Umfragen, dass 30 bis 50 Prozent der Kranken die Einnahme von Medikamenten verweigern würden. Allerdings handelte es sich dabei um Befragungen, bei denen es letzten Endes um nichts ging: Die Kranken wurden gefragt, wie sie sich verhalten würden, wenn sie Gelegenheit hätten, sich zu entscheiden - ohne vor einer konkreten Entscheidungsnotwendigkeit zu stehen.

»USA: Das Recht auf Behandlungsverweigerung hat nicht zu dem prophezeiten Anstieg von Gewalt und Zwangsmaßnahmen geführt«

Ganz anders sahen die Ergebnisse von Untersuchungen aus, bei denen die Patienten in der Klinik mit allen Konsequenzen die Wahl hatten, einer Behandlung mit Medikamenten zuzustimmen oder zu verweigern. In einem Dutzend solcher Studien betrug die konkrete Verweigerungsrate zwischen 0,4 und 15 Prozent. Bei der Hälfte der Untersuchungen lag sie bei unter 5 Prozent; lediglich bei einer über 10 Prozent (Appelbaum 1994). Am aussagekräftigsten war die prospektive Untersuchung von Hoge und Mitarbeitern (1990), in der fast 1500 Kranke bei Beginn der Behandlung befragt und durch den gesamten Klinikaufenthalt hindurch begleitet wurden. 7,5 Prozent von ihnen verweigerten die Behandlung mit Psychopharmaka über mehr als 24 Stunden.

Die Wissenschaftler begnügten sich nicht mit diesem Erstbefund. Sie interessierten sich vielmehr für das weitere Schicksal der 103 Behandlungsverweigerer: Die Hälfte von ihnen entschloss sich später doch noch, einer Behandlung zuzustimmen. Bei der anderen Hälfte waren sich die Therapeuten am Ende nicht mehr so sicher, ob sie wirklich Medikamente gebraucht hätten. (Natürlich sind solche Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten, da nicht klar ist, ob und welche Druckmittel eingesetzt wurden.) Auch die Prophezeiungen, das Recht auf Behandlungsverweigerung werde zu einem gewaltigen Anstieg von Gewalt und Zwangsmaßnahmen führen, trafen nicht ein. Appelbaum sieht die Gründe für die große Diskrepanz zwischen befürchteten und tatsächlichen Folgen der Rechtsprechung darin, dass die Psychiater von den Vorurteilen der Öffentlichkeit gegenüber ihrem Fach und ihren Patienten in einem Maße beeinflusst seien, dass ihr Urteilsvermögen darunter gelitten habe. Sie hätten ihre Patienten und deren Bedürfnis nach einer qualifizierten Behandlung bei gleichzeitiger Respektierung ihrer Rechte - und des Anspruchs auf Gleichbehandlung mit anderen Kranken - schlicht als falsch eingeschätzt.(*)

Die mittlerweile historische Entwicklung in den Vereinigten Staaten könnte ein Lehrstück für unsere heutige Situation sein. Wenn ich Patienten und ihren Angehörigen auf meinen Vortragsreisen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass wir im Hinblick auf die Respektierung der Patientenrechte in Akutsituationen, bei gesetzlichen Unterbringungen, auf geschlossenen Abteilungen und im forensisch psychiatrischen Bereich noch einen weiten Weg zu gehen haben. Das schlägt sich bei Zwangsmaßnahmen, vor allem aber bei der unfreiwilligen aufgenötigten oder erzwungenen Medikation nieder.


Die nachgeholte Debatte in Deutschland

Es scheint so, dass die gesetzliche Verankerung der Patientenverfügung dazu führt, dass die Debatte um das Recht auf Behandlungsverweigerung bei uns mit drei Jahrzehnten Verzögerung nachgeholt wird. Ich hatte mich bereits anlässlich unserer Untersuchung über die Zwangsmedikation (Finzen u.a. 1993) Anfang der Neunzigerjahre gewundert, dass die amerikanische Auseinandersetzung bei uns kaum ein Echo gefunden hatte. Mit der Antipsychiatriebewegung war das zwei Jahrzehnte vorher ähnlich. Möglicherweise hat das damit zu tun, dass die Siebziger- und Achtzigerjahre die Jahrzehnte der Psychiatriereform waren. Sie waren auch bei den kritischen Kräften mit viel Hoffnung verbunden. Tatsächlich änderten sich die Versorgungsbedingungen ja auch so drastisch, dass ihre anhaltenden Mängel zunächst in den Hintergrund rückten. In den Neunzigerjahren gab es zwar auch eine Diskussion über »Hilfe wider Willen« (Mohr 1993), und immer wieder über Gewalt in der Psychiatrie. Aber diese Debatten führten nicht zu einer allgemeinen Auseinandersetzung über die Patientenrechte.

»Eine Behandlung gegen den Willen wird bei einer klaren gesetzlichen Regelung in Ausnahmefällen auch in Zukunft erlaubt sein«

Das Recht auf Aufklärung, dessen Verweigerung wesentlich zur amerikanischen Debatte beigetragen hatte, galt bei uns auch damals schon als selbstverständliches Recht - obwohl ihm vor allem in der Akutpsychiatrie ganz gewiss nicht Genüge getan wurde. Das Recht auf Behandlungsverweigerung dagegen wurde nie ernsthaft diskutiert, vermutlich weil man - rechtlich sicher fälschlich - unterstellte, die Behandlung gegen den Willen der Patienten, insbesondere die Zwangsmedikation, sei vom Unterbringungsrecht oder vom Betreuungsrecht gedeckt. Dass die Betreuungsgerichte sich dabei immer wieder einschalteten, wurde von den Psychiatern oft als illegitime Einmischung empfunden. Die Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung sind im Unterbringungsrecht meines Erachtens auch heute noch nicht oder nur unzureichend geregelt.

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Zwangsmedikation, das die Patientenrechte in erheblichem Umfang stärkt, betrifft im konkreten Fall zwar die forensische Psychiatrie in Rheinland-Pfalz. Aber es liegt nahe, daraus Analogieschlüsse auf die Situation in der allgemeinen Psychiatrie zu ziehen (vgl. Heinz Kammeier in der »Psychosozialen Umschau« 3/2011). Ohne Zweifel herrscht hier gesetzlicher Regelungsbedarf. Das gilt für jede Art der Zwangsbehandlung, aber auch für die Parallelität von Patientenverfügungsrecht, Unterbringungsrecht, Betreuungsrecht und teilweise auch Strafrecht. Oliver Tolmein hat in der Zeitschrift »Dr. med. Mabuse« (1/2012) zu Recht darauf hingewiesen und zugleich betont, dass eine Behandlung gegen den Willen bei einer klaren gesetzlichen Regelung, aber nur dann, in Ausnahmefällen auch in Zukunft erlaubt sein wird. Das dürfte vor allem in Akutsituationen zur Abwendung einer »dringenden unmittelbaren Gefahr, der Fall sein. Das mag diejenigen betrüben, die in der Gesetzgebung zur Patientenverfügung das Ende der Zwangspsychiatrie gesehen und gefeiert haben. Es sei jedoch daran erinnert, dass es in vergleichbaren Situationen auch Zwangsmaßnahmen gegen »Gesunde« geben kann.


Prof. Dr. Asmus Finzen ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie i.R. und Autor zahlreicher Fachbücher. Internet: www.finzen.ch

Literatur beim Verfasser.

(*) Bei meinen Überlegungen in diesem Abschnitt bin ich über weite Strecken den Ausführungen von Paul S. Appelbaum in »Almost a Revolution«, S. 114-162, gefolgt.

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012, Seite 8 - 9
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2012

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang