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ARTIKEL/429: Betreutes Wohnen in Familien - Risiken und Qualitätssicherung (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Betreutes Wohnen in Familien
Risiken und Qualitätssicherung

Von Jo Becker


Ergebnisse einer Befragung zu Qualitätssicherung und Problemlagen im betreuten Wohnen in Familien und Möglichkeiten der Intervention.


Beim betreuten Wohnen in Familien (BWF) leben Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderung, die mit ambulanten Diensten nicht ausreichend versorgt werden können, in einer Gastfamilie statt in einem Wohnheim. Die Gastfamilie erhält Geld für die Unterkunft und Verpflegung sowie ihre Betreuungsleistung, die Bewohnerin oder der Bewohner einen Barbetrag und Bekleidungsgeld wie in einer stationären Einrichtung. Klienten und Gastfamilien werden von einem Fachdienst beraten und begleitet.

2013 haben wir annähernd alle BWF-Teams (ca. 150) in Deutschland, Österreich und der Schweiz schriftlich befragt, welche Formen der Qualitätssicherung sie in ihrer Arbeit verwenden. Außerdem haben wir darum gebeten, Berichte über problematische Entwicklungen im Betreuungsverhältnis und die entsprechenden fachlichen Interventionen einzusenden. Insgesamt wurden 114 vollständige Antwortbögen ausgewertet.

85% dieser Teams betreiben BWF schon länger als drei Jahre, befinden sich also nicht mehr in der Aufbauphase. Aber über die Hälfte (54%) betreut weniger als zehn Klienten. Da eine Vollzeitfachkraft mindestens zehn und oft noch mehr Klienten betreut, kann man folgern, dass über die Hälfte der BWF-Begleitung nicht von einem BWF-Team geleistet wird, sondern von Einzelpersonen ohne Teamanbindung oder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die BWF neben anderen Aufgaben leisten. Tatsächlich besteht seit Jahren ein Trend, dass Teams des ambulant betreuten Wohnens BWF als ein weiteres Leistungsangebot vorhalten, während bis etwa 1990 BWF vorwiegend von spezialisierten Teams angeboten wurde. Der Vorteil dieser Entwicklung ist eine allmähliche flächendeckende Versorgung mit BWF in den meisten Bundesländern Deutschlands.(*) Allerdings können spezialisierte Teams, die über Jahre eine große Zahl von Klienten im BWF betreuen, mehr Expertise in dieser besonderen Betreuungsform entwickeln. Deshalb ist es eine gute kollegiale Hilfe, dass vor allem die auf BWF spezialisierten Teams ihre Erfahrungen durch zahlreiche Fallberichte zugänglich gemacht haben.

Erfahrene Teams - in unserer Auswertung diejenigen mit mehr als aktuell zehn Klienten - unterscheiden sich auch in der Art ihrer qualitätssichernden Leistungen von weniger BWF-erfahrenen Fachdiensten.

Praktisch alle BWF-Kolleginnen und -Kollegen führen ihre Hausbesuche mindestens einmal im Monat durch (97%) und sprechen dabei auch regelmäßig unter vier Augen mit ihren Klienten (96%). Beides ist sicher die wichtigste Form der Qualitätssicherung im BWF, sowohl zur gezielten Unterstützung von Gastfamilie und Gast als auch zum frühzeitigen Erkennen von problematischen Entwicklungen. Deshalb ist es nicht fachgerecht, dass immerhin 4% der Befragten darauf verzichten, mit ihren Klienten auch unter vier Augen zu sprechen. Weniger als die Hälfte der Teams nutzen die Möglichkeit einer Co-Betreuung durch eine zweite Fachkraft, 64% erhalten Supervision und nur 14% verwenden den vom Fachausschuss BWF der DGSP empfohlenen Bewertungsbogen zur Qualitätssicherung, obwohl er nur eine Seite umfasst.(**) Co-Betreuung und Bewertungsbogen werden von erfahrenen Teams deutlich häufiger genutzt.

Bei den Fragen zum Umgang mit Krisen fällt auf, dass über die Hälfte der Befragten noch nie eine Gastfamilie in ihr Büro »einbestellt« haben, um Missstände zu besprechen, noch nie eine schriftliche Verhaltensvereinbarung getroffen haben und noch nie ein BWF-Verhältnis wegen des Verhaltens der Gastfamilie beendet haben. Das betrifft vor allem Teams mit weniger als zehn Klienten, aber nicht nur die. Wer nur wenige Klienten betreut, hat natürlich weniger Erfahrung mit Fehlentwicklungen, ist aber möglicherweise auch eher geneigt, seine wenigen bestehenden Verhältnisse nicht durch Interventionen zu gefährden.

Aber auch bei Maßnahmen zur Vorbeugung oder zur Lösung von schwierigen Situationen gibt es deutliche Unterschiede zwischen erfahrenen und weniger BWF-erfahrenen Teams. Beispielsweise: Risikofaktoren offen ansprechen, Regelungen für wiederkehrende Konfliktsituationen verbindlich vereinbaren oder ein vorübergehender Wechsel des Bewohners in eine andere Wohnsituation.

Unangemeldete Hausbesuche bei Verdacht auf einen verheimlichten Missstand kommen nur selten vor. Typisch für BWF ist nämlich, dass es nur selten um akute Krisen oder verheimlichte Missstände geht, die es aufzudecken gilt. Vielmehr sind allmähliche Fehlentwicklungen in der Interaktion zwischen Gastfamilie und Gast die größte Herausforderung für den Fachdienst.

Die Beziehung zur Gastfamilie: eine Herausforderung

Die Beziehungsgestaltung im Dreiecksverhältnis zu Gastfamilie und Klient ist eine Herausforderung. Wie bei einem Mobile, dem ein neues Teil zugefügt wird, ist die erste Zeit nach Aufnahme eines Klienten in eine Gastfamilie immer auch eine Phase der Neuordnung des Familiensystems, bis eine neue Balance entstanden ist. In der Regel nehmen Klienten eine Rolle wie ein klassisches Familienmitglied ein, z.B. in einer Fürsorgeposition wie ein Kind oder als mitwohnender »Onkel«. In dieser Startphase hat der Fachdienst gute Möglichkeiten, auf Umgangsformen und Position des Klienten in der Gastfamilie Einfluss zu nehmen. Ein Risiko der Begleitung liegt darin, dauerhaft in die Familie hineinregieren zu wollen. Die besondere Qualität einer familiären Gemeinschaft, die sich eigendynamisch ihre ganz individuellen Abläufe und Umgangskultur schafft, würde dadurch missachtet.

Ein weiteres Risiko liegt in der entgegengesetzten Entwicklung: Die Fachkraft wird nach und nach als externes Mitglied der Familie »adoptiert«, ein Distanzverlust tritt ein. Die Gastfamilie will keine Einmischung, die Fachkraft keinen Ärger, mögliche Konflikte werden nicht angesprochen. Deshalb hat sich die Betreuung im Tandem bewährt, wobei die Fachkraft durch stets die gleiche Kollegin vertreten wird. Dadurch kann die Co-Betreuerin kollegiale Beratung bieten und gegebenenfalls auch Kritik äußern, ohne dass die Beziehung zur Bezugsbetreuerin belastet wird.

Von 55 Teams wurden insgesamt 119 Fallberichte eingeschickt. 78% dieser Teams schildern Fälle einer anhaltenden Bevormundung der Klientin oder des Klienten durch die Gastfamilie, 55% berichten von grob unangemessenem Verhalten und 42% von einer unzureichenden Versorgung oder Ausbeutung des Klienten. Jedes vierte Team (27%) schildert einen Fall von körperlicher Gewalt oder benennt sexuelle Übergriffe durch ein Mitglied der Gastfamilie.

In jeder Partnerschaft, jeder Familie gibt es hin und wieder unangemessenes Verhalten. Die Kunst der BWF-Begleitung liegt darin, nicht bei jeder Gelegenheit zu intervenieren, andererseits aber bei einer sich abzeichnenden Fehlentwicklung nicht tatenlos zu bleiben. »Hierbei geht es uns darum, erste Anzeichen frühzeitig wahrzunehmen und anzusprechen, damit sich solche Entwicklungen nicht verfestigen«, wie in einem Bericht dazu angemerkt wird. Entscheidend ist dabei die Art, wie interveniert wird, denn natürlich fühlen sich die Gastfamilien im Recht und glauben, ihre Sache gut zu machen. Möglicherweise sind die Kollegen zu wenig respektvoll vorgegangen, die Folgendes berichten: »Bei Gastfamilien mit problematischen Verhaltensweisen haben wir die Erfahrung gemacht, dass Konfliktgespräche zu keiner konstruktiven Veränderung geführt haben. Unsere Beobachtung war, dass meist wenig oder kein Problembewusstsein vorhanden war bzw. die Kritik nicht ernst genommen wurde. Das Resultat war dann eine Verstärkung des problematischen Verhaltens, Druck auf den Klienten, weil er sich uns anvertraut hat, ängstliche Vorsicht der Gastfamilie gegenüber dem BWF-Mitarbeiter und im Extremfall inszenierte Hausbesuchssituationen.«

Die wesentliche Aufgabe des Fachdienstes liegt in der Unterstützung der Gastfamilie, die einem Menschen mit starkem Handicap ein Zuhause und einen Platz in einer Familie gibt. Deshalb geht es nicht primär um Kontrolle, sondern um die Bereitstellung von Expertise, von entlastenden Begleitmaßnahmen, Anerkennung, Herstellen einer Balance zwischen den Interessen der Klienten und den Möglichkeiten der Gastfamilien. Das gelingt nur in einer Begegnung auf Augenhöhe, in einer von Wertschätzung geprägten Zusammenarbeit.

Überversorgung und Bevormundung

Unter den problematischen Beziehungsentwicklungen im BWF sind Überversorgung und Bevormundung mit Abstand am häufigsten. Viele Teams sprechen das Problem daher gleich zu Beginn an: Obwohl der Klient in einigen Bereichen auf Hilfe angewiesen ist, soll er nicht erzogen oder zu Veränderung gedrängt werden. Was er selbstständig kann, soll ihm nicht abgenommen werden, auch wenn man es vielleicht besser machen könnte. Dabei gibt es einen breiten Interpretationsrahmen, ab wann Fürsorge zur Überversorgung wird. Klienten, die dauerhaft stark hilfsbedürftig sind, wird man schon bei der Zuordnungsentscheidung eher in fürsorgliche Familien vermitteln. Die BWF-Kollegen aus Geel (Belgien) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen »warmen« und »kalten« Gastfamilien.

Zu Recht weisen Kollegen in einem Fallbericht darauf hin, dass »in einer bevormundenden Haltung nicht nur negative, sondern auch fördernde und strukturierende Aspekte liegen. Die positive Absicht der Familien, den Gastbewohnern alle mögliche Unterstützung zukommen zu lassen und ihnen neue Erfahrungen zu ermöglichen, führt bei manchen Familien auch zur Übernahme von Entscheidungen für die Gastbewohner. Besonders bei Gastbewohnern mit geringem Aktivitätsniveau und selbstunsicherer Persönlichkeit besteht hier im gesteigerten Maße die Tendenz, z.B. gemeinsame Aktivitäten nicht nur anzubieten, sondern mit einer gewissen Teilnahmeverpflichtung des Gastbewohners durchzuführen.« Andere Fallberichte beschreiben Klienten, die eine übermäßige Fürsorge selbst herausfordern und genießen. Dann ist eine Korrektur schwierig.

Vor allem junge Klienten und Menschen mit einer geistigen Behinderung rufen bei vielen Gastfamilien eine gut gemeinte Eltern-Kind-Haltung hervor. In Fällen von Geschwisterpflege bestehen darüber hinaus alte Fürsorgemuster des nichtbehinderten gegenüber dem behinderten Geschwisterkind. Ein Team beschreibt ihre erfolgreiche Intervention in einem solchen Falle so: »Meine Kollegin und ich haben viele Gespräche geführt. Wir haben immer wieder versucht, die Schwägerin zu erreichen. Die Kommunikation läuft jetzt recht gut, die Kundin wird nicht mehr in ihren Wünschen und ihrer Lebensweise eingeschränkt. Eine wertschätzende Kommunikation hat den Weg sicherlich leichter gemacht. Wir haben nicht nachgelassen, deutlich zu machen, was die Klientin benötigt, aber auch die Bedürfnisse der Schwägerin wahrgenommen. Häufige Hausbesuche und Angebote für die Klientin haben die Türen geöffnet.«

Zur gleichen Problematik schreibt ein anderes Team: »Oftmals drehen wir die Situation um und fragen die Gastfamilie, wie sie sich fühlen würde, wenn sie so angesprochen oder behandelt würde, bzw. wir machen eine Fortbildung zu diesem Thema und laden Gastfamilien gezielt ein. Förderlich ist auch eine spürbare Positionierung für den Klienten, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.«

Gerade beim Thema Fürsorge kann es zu einer Konkurrenz zwischen Team und Familie in der Frage kommen, wer besser weiß, was für den Klienten gut ist. Schließlich können Überversorgung und Bevormundung auch Ausdruck eines unbewussten Motivs der Gastfamilie sein, sich selbst als karitative Gutmenschen zu erleben und darstellen zu wollen. Auch der Machtaspekt »Stark gegen Schwach« spielt eine Rolle. Klienten, die ihre Bedürfnisse gut einfordern und sich abgrenzen können, sind kaum in Gefahr, im BWF unterdrückt zu werden. Aber viele Menschen mit einer stärkeren geistigen oder seelischen Behinderung sind in ihrem Durchsetzungsvermögen eingeschränkt. Hinzu kommt die Abhängigkeit von Versorgung und Wohnen, die einer Gastfamilie die Möglichkeit gibt zu sagen: Entweder du passt dich an oder du musst in ein Heim! Die Hausbesuche des Fachdienstes dienen daher unausgesprochen auch dem Ausgleich der Machtverhältnisse.

Unangemessenes Verhalten

Ein weiteres Problemfeld betrifft grob unangemessenes Verhalten der Gastfamilie gegenüber Klienten. Das passiert nie aus heiterem Himmel, sondern als Reaktion auf Belastungsfaktoren. So verschlechterte sich ein anfänglich gutes Betreuungsverhältnis durch einen Diebstahl dermaßen, dass alle Interventionen erfolglos blieben und die Herausnahme aus der Familie erforderlich wurde. Meistens leidet die Umgangskultur durch eine allmähliche Überforderung der Gastfamilie, teilweise auch erst nach Jahren. So lebt ein geistig behindertes Geschwisterpaar seit sieben Jahren bei einer Gastfamilie. In unregelmäßigen Abständen zeigen die beiden unerwünschtes Verhalten wie Einnässen, in die Zimmerecke urinieren, in die Toilette fassen und Ähnliches. Die Eheleute reagieren darauf mit sehr grober Ansprache und verhängen zum Beispiel Zimmerarrest. Sie verneinen, sich überfordert zu fühlen. Als verschiedene Interventionen erfolglos bleiben, schreitet die Teamleitung mit ihrer Autorität ein: einmal mit dem Aufzeigen klarer Grenzen, aber auch durch Wertschätzung der wirklich schwierigen Arbeit dieser Familie. Seitdem kontrollieren sich die Eheleute in ihrem Verhalten, die Lage entspannt sich, die unerwünschten Verhaltensweisen sind sogar seltener geworden.

In einem anderen Fall lebt eine 18-jährige Klientin nach sexuellem Missbrauch bei einer Gastmutter. Die Hygiene der Klientin ist katastrophal, ihr Verhalten der Gastmutter gegenüber extrem respektlos, kaum aushaltbar. Die Gastmutter reagiert ihrerseits gereizt. Es entsteht eine chronisch aggressive Atmosphäre. Bei Hausbesuchen konkurrieren beide um die Unterstützung durch die BWF-Kollegin und versuchen, diese in eine Schiedsrichterposition zu bringen. Als letzten Versuch vor einer Beendigung führt das Team eine Tandem-Betreuung ein, bei der Mitarbeiterin A. eine Stunde pro Woche die Klientin besucht und Mitarbeiter B. nur die Gastmutter stützt und anleitet. Seitdem ist eine deutliche Beruhigung eingetreten, es gibt Entwicklungsfortschritte. Wichtig ist die gute Zusammenarbeit zwischen Kollegin A. und B.

Unzureichende Versorgung oder Ausbeutung der Arbeitskraft

Eine unzureichende Versorgung aus finanziellen Gründen oder die Ausbeutung der Arbeitskraft beschreiben über 40% der Teams in ihren Fallberichten. Auch hier gilt es, die Interessen beider Seiten zu würdigen. In diesen Fällen gelingt es aber leichter, klare Vereinbarungen zu treffen: »Erscheint uns ein Gastgeber zu sehr auf seinen finanziellen Vorteil aus, greifen wir regelnd und mit klaren Worten ein und treffen Absprachen zu Pflichten und Rechten der Beteiligten. Dabei ist immer der Beweggrund des Gastgebers im Zusammenspiel mit dem Verhalten des Gastes und umgekehrt zu berücksichtigen.«

So geriet eine Familie in den Verdacht, dass Gelder des Klienten veruntreut werden. Eine Absprache über Buchführung mit Belegen schaffte Sicherheit. Zwei Gastfamilien, die sich im Urlaub mit der Betreuung ihrer Klienten gegenseitig vertreten haben, ließen ihre beiden Bewohner, einen Mann und eine Frau, in den Ferienwochen in einem gemeinsamen Schlafzimmer übernachten. Gespräche darüber, dass dies nicht angemessen sei, führten zu keiner Einsicht. Darauf kündigte das BWF-Team an, dass Urlaubsvertretungen künftig in einer anderen Gastfamilie erfolgen müssten. Seitdem gibt es zwar weiter keine Einsicht, aber getrennte Schlafzimmer. In einem anderen Fall führte die zunehmende Verschuldung der Gastfamilie zu einer völlig unzureichenden Versorgung des Klienten. Er lebt nun in einer neuen Gastfamilie.

Was aber, wenn der Klient trotz schlechter Versorgung bleiben will? Herr C. lebt seit acht Jahren in einem Miniapartment bei Gastfamilie D., zunächst mit enger Familienanbindung. In den letzten Jahren kauft die Familie nur noch einmal in der Woche für Herrn C. ein, hat oft tagelang keinen Kontakt zu ihm, sagt Hausbesuchtermine kurzfristig ab. Herr C., der lange alkoholabhängig und obdachlos war, hat aber nun eine Heimat gefunden und will nicht mehr weg: Er sei zufrieden mit seinen »Hausleut'«, wie er sagt.

Bis in die 1960er-Jahre haben Gastfamilien in erster Linie die Arbeitskraft des Klienten als Lohn der Beherbergung erhalten, eine Ausbeutung war also Alltag. Der schlechte Ruf, den BWF teilweise immer noch hat, rührt von dieser Vergangenheit. Aber auch heute ist manchmal die Abgrenzung zwischen erwünschter Mithilfe in der Gastfamilie und einer Ausnutzung der Arbeitskraft schwierig, zumal die Familie die Mitarbeit in der Regel durch Lob oder Geld belohnt. Zwei Beispiele: Eine geistig behinderte Frau lebt bei ihrer Schwester und übernimmt dort alle hauswirtschaftlichen Aufgaben. Obwohl sie sich sehr belastet fühlt, traut sie sich nicht, »Nein« zu sagen. Nach längeren Gesprächen der Fachkraft mit der Klientin und ihrer Familie kann eine Neuverteilung der Hausarbeiten und Entlastung der Klientin vereinbart werden. Ein Klient, erfahren in landwirtschaftlicher Arbeit, wird auf einen Bauernhof mit angeschlossenem Pensionsbetrieb vermittelt. Bald stellt sich heraus, dass die Hofbesitzerin und ihre Familie mit der Führung beider Betriebe überfordert sind. Die Familie ist so sehr in die tägliche Arbeit eingebunden, dass sie keine Zeit hat, auf den Klienten einzugehen. Er wird zwar höflich behandelt, aber in erster Linie als Arbeitskraft gesehen und zum Beispiel gerügt, wenn er morgens nicht pünktlich im Stall ist. Als eine angestellte Aushilfskraft ausfällt, erhöht sich der Leistungsdruck. Das Betreuungsverhältnis wird schließlich vom Fachdienst beendet.

Missbrauch und Gewalt

Zum Themenkomplex »sexueller Missbrauch und Gewalt« beschreiben sechs Fallberichte sexuelle Übergriffe, in allen Fällen gegenüber Frauen. Sie betreffen im Einzelnen:

- Angrabschen der Brust und Äußerungen sexueller Fantasien über einen Zeitraum von drei Monaten durch den Gastvater;

- sexuelle Kontakte zu dritt zwischen borderlineerkrankter Klientin und Gasteltern mit Einverständnis der Klientin über längere Zeit;

- eine stark geistig behinderte junge Frau hat über längere Zeit Geschlechtsverkehr mit dem 16-jährigen Sohn der Familie;

- Umarmungen und andere körperliche Übergriffe durch den Gastvater gegen den Widerstand der Klientin über längere Zeit;

- erzwungener Geschlechtsverkehr und Schläge mit dem Kochlöffel bei einer Klientin, die zuvor schon als Pflegekind in der Gastfamilie gelebt hatte;

- ein Fall von sexuellem Missbrauch ohne nähere Angaben.

In allen Fällen wurde die Klientin sofort nach dem Bekanntwerden der Übergriffe aus der Gastfamilie geholt.

Ein weiterer Bericht kann aus unserer Sicht nicht als sexueller Übergriff gewertet werden: Ein junger alkoholabhängiger Klient lebt bei einem Ehepaar und beginnt ein sexuelles Verhältnis mit der Gastmutter. Nach längerem diesbezüglichem Verdacht werden beide von der BWF-Mitarbeiterin beim Hausbesuch in flagranti erwischt. Da der Gast dort wohnen bleiben will, kündigt das BWF-Team den Betreuungsvertrag. Drei Monate später erfahren die Kollegen, dass der Bewohner inzwischen ausgezogen ist. Hat der Klient vielleicht durch den Rückzug des Teams seinen Behindertenstatus und damit auch die Toleranz des Gastvaters verloren?

Bei den Berichten über körperliche Gewalt gab es elf Fälle, in denen ein Mitglied der Gastfamilie dem Klienten oder der Klientin gegenüber tätlich wurde. Nicht einbezogen wurden Berichte, in denen Klienten gewalttätig waren. In sieben Fällen wurde das BWF-Verhältnis sofort beendet, darunter bei den beiden folgenden:

- Eine Klientin wurde regelmäßig bei unerwünschtem Verhalten herumgeschubst und ins Gesicht geschlagen. Ihr wurde gedroht, dass sie in ein Heim müsse, wenn sie etwas sage. Bei den Hausbesuchen schien längere Zeit alles in Ordnung, außer dass die Klientin eingeschüchtert wirkte. Erst nach wiederholten Gesprächen unter vier Augen fand sie den Mut, von den Schlägen zu berichten.

- Eine Gastmutter ist mit dem fordernden Verhalten der minderbegabten Klientin überfordert und fühlt sich laufend provoziert. Das Zusammenleben wird trotz enger fachlicher Begleitung immer angespannter, Streitigkeiten und abwertende Äußerungen steigern sich. Schließlich kommt es zu körperlicher Gewalt durch die Gastmutter. Hierbei handelte es sich um eine einmalige Ohrfeige in einer Situation der Überforderung nach einer längeren Entwicklung zunehmender Belastung. Deshalb sollte der Fachdienst ein waches Ohr für Hinweise haben, die auf eine starke Belastung deuten, z.B. häufige oder ungerecht wirkende Beschwerden über eine Klientin. Wenn eine Klärung oder Entlastung nicht gelingt, hat es sich bewährt, dass die Klientin oder der Klient vorübergehend in eine andere Wohnumgebung wechseln kann, z.B. ein Wohnheim oder eine andere Gastfamilie. In neutraler Umgebung können Klienten besser abwägen, ob sie die Beziehung fortsetzen wollen. Ihr Wille sollte respektiert werden.

In einem anderen Fall von Gewalt ist eine eindrucksvolle Veränderung gelungen: »Das Gesundheitsamt hat uns in einem Fall der Geschwisterpflege kontaktiert. Der geistig behinderte Bruder hatte in der Werkstatt für behinderte Menschen erzählt, dass der Bruder, bei dem er wohne, ihn immer wieder schlagen würde. Wir sind dann mit der Mitarbeiterin des Gesundheitsamts zu einem Hausbesuch gefahren. Der Bruder hat alles abgestritten. Das Gesundheitsamt hat aber 'angeordnet': Entweder kommt der behinderte Bruder in eine Einrichtung oder die Mitarbeiter der Familienpflege werden eingeschaltet. Wir sind also in dieses Familienpflegeverhältnis eingestiegen. Die gesamte Familie hat mittlerweile einen guten Kontakt zu mir als zuständiger Mitarbeiterin. Der Bruder hat langsam Vertrauen aufbauen können und dann auch irgendwann zugegeben, seinen behinderten Bruder aus Überforderung geschlagen zu haben. Mittlerweile werden die Hilfen der Familienpflege gern von dem Klienten, dem versorgenden Bruder, aber auch der übrigen Familie angenommen. So fährt der Klient nun mit der Tante in den Urlaub. Auch werden Arztbesuche von mir oder anderen Familienmitgliedern begleitet. Wir achten besonders auf die Entlastung des versorgenden Bruders und haben ein Notfallsystem eingerichtet, bei dem der Bruder sofort Hilfe erhält.«

Klient und Gastfamilie müssen zueinander passen

Die wichtigste Weichenstellung für ein gutes Gelingen liegt in der passenden Zuordnung von Klient und Gastfamilie. Dazu ist eine größere Auswahl an Gastfamilien erforderlich. Wer Klienten in die nächstbeste Familie vermittelt, weil gerade nur noch zwei frei sind, der verzichtet auf Qualität. Auch eine schematische Zuordnung, z.B. nach dem Wohnortwunsch, reicht nicht für ein erfolgreiches »Matching«. Gute BWF-Teams beherrschen wie gute Eheinstitute die Kunst, passende Lebensbeziehungen zu vermitteln, die auf Dauer angelegt sind. Dabei sind rationale Gesichtspunkte wie die Hilfebedarfe eines Klienten und das Leistungsvermögen einer Familie ebenso wichtig wie intuitive Erkenntnisse über beide Parteien. Dieses »Bauchgefühl« können wir durchaus professionell nutzen, indem wir wie bei einem Musikinstrument in uns hineinhorchen, welche Resonanzen eine Gastfamilie oder ein Klient in uns wachrufen, und uns mit Kolleginnen und Kollegen darüber austauschen.

Schwierige Konstellationen lassen sich nicht immer vermeiden, etwa beim Übergang vom Pflegekindstatus zu einem BWF-Verhältnis. Hier sind oft besondere Sensibilität und Geduld nötig, um von der Pflegefamilie, die bis dahin nur wenig fachlich begleitet wurde, als weiterer Mitverantwortlicher akzeptiert zu werden. Nicht selten besteht eine Mutter-Kind-Symbiose, die vordergründig dem Prozess der Ablösung und des Erwachsenwerdens im Wege steht. Wenn es gelingt, an gemeinsamen Zielen der Weiterentwicklung zu arbeiten und dabei die langjährige Erfahrung der Pflegeeltern im Umgang mit der Behinderung zu nutzen, kann Konkurrenz vermieden werden.

Manchmal sind Konflikte durch eine unglückliche Zuordnung bereits vorprogrammiert:

• Eine Gastfamilie nimmt den psychisch kranken und suchtkranken Freund ihrer Tochter als BWF-Klient auf. Die Paarkonflikte eskalieren bis zu einem Polizeieinsatz, das Betreuungsverhältnis wird nach drei Monaten beendet.

• Eine Mutter ist mit der Versorgung ihrer psychisch kranken Tochter überfordert. Die Tochter zieht zur besten Freundin der Mutter, begleitet von einem BWF-Dienst. Mutter und Freundin konkurrieren fortan, die Mutter verleumdet die Freundin und hetzt gegen sie im ganzen Dorf. Dadurch gerät die Gastmutter unter so starken psychischen Druck, dass sie schließlich aufgeben muss.

• Zwei Klienten in einer Gastfamilie werden von verschiedenen BWF-Teams betreut. Die Gastfamilie spielt die Teams gegeneinander aus und wechselt schließlich mit beiden Klienten zum toleranteren Team.

• Eine demenzerkrankte Frau wird zu einer Altentherapeutin vermittelt, die ihren Beruf aufgegeben hat. Nach sechs Monaten wird die Versorgung schlecht, der Umgangston respektlos. Die Gastmutter will daran aber nichts ändern. Ein Streit zwischen ihr und dem Fachdienst eskaliert bis zu Verleumdungsbriefen der Gastmutter an das Betreuungsgericht.

Unter den Berichten über problematische Beziehungsentwicklungen sind mehrere, bei denen die Gastmutter in einem sozialen Beruf tätig war oder ist. Kollegiale Konkurrenz und mangelnde Kooperation mit dem Fachdienst sind bei solchen Betreuungsverhältnissen nicht selten. BWF-Teams sollten sich daher gut überlegen, ob sie Klienten in eine Lehrer- oder gar eine Sozialarbeiterfamilie vermitteln! Das ist natürlich ein Scherz. Aber zu den zentralen Qualitätsbedingungen des BWF gehört eine gute Zusammenarbeit zwischen Gastfamilie und Fachkraft.

BWF-Teams: Stütze und Impulsgeber

Bevormundung und grob unangemessenes Verhalten gegenüber den Klienten sind die häufigsten Probleme, bei denen der Fachdienst sich um eine Verhaltensänderung in der Gastfamilie bemüht. Grobe Fehlentwicklungen sind im BWF zum Glück selten. Die zitierten Berichte sind eine Negativauswahl aus der langjährigen Erfahrung von 114 BWF-Teams, die aktuell allein in Deutschland zirka 2500 Klientinnen und Klienten in Gastfamilien begleiten.

Missstände kommen wahrscheinlich nicht öfter vor als in der Betreuung behinderter Menschen in Wohnheimen. Das ist nicht selbstverständlich, sondern dem historisch hohen Standard der aktuellen BWF-Praxis zu verdanken: eine gute fachliche Begleitung von Klienten und Gastfamilien und regelmäßige Gespräche mit den Klienten auch unter vier Augen. Diesen Standard müssen wir verteidigen, wenn er durch Sparversuche gefährdet wird.

Der Fachdienst wird nicht (wie z.B. das Jugendamt) erst bei Problemen eingeschaltet, sondern begleitet von Anfang an. Dadurch hat er gute Möglichkeiten, eine von Wertschätzung geprägte Zusammenarbeit zu entwickeln. Nur so kann eine qualitätssichernde Beziehungsbalance entstehen, eine dynamisch-stabile Dreiecksbeziehung zwischen Profi, Klient und Familie. Belastungen können in diesem System frühzeitig erkannt, Mängel durch verbindliche Absprachen abgestellt werden.

Der Fachdienst ist Kontrollinstanz und ergänzt Expertise, die die Familie nicht leisten kann; er ist Stütze und Impulsgeber, wobei er die Belange beider Seiten berücksichtigt. Vor allem gibt er Anerkennung für die wichtige soziale Leistung der Gastfamilien.

Auf diese Weise kann durch BWF eine Inklusion gelingen, wie sie Menschen mit einer schweren Behinderung meistens verwehrt bleibt: Teil einer Familie sein, den Lebensweg in einer Gemeinschaft mit nichtbehinderten Menschen gehen, lieben und geliebt werden.


Dr. med. Jo Becker ist Geschäftsführer des gemeindepsychiatrischen Trägers Spix e.V., Wesel. Bei dem Beitrag handelt es sich um den bearbeiteten Vortrag des Autors auf der 28. Fachtagung Betreutes Wohnen in Familien vom 25. bis 27.9.2013 in Ravensburg.
E-Mail-Kontakt: j.becker@spix-ev.de


Anmerkungen

*)  In Österreich gibt es nur zwei, in der Schweiz drei Teams.
**) Zu finden unter www.bwf-info.de/Qualitätssicherung

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014, Seite 24 - 28
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2014

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