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ARTIKEL/445: Psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung junger Flüchtlinge (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Erst dann kann ich sicher sein ..."
Psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung junger Flüchtlinge und ihrer Familien am Beispiel der Flüchtlingsambulanz in Hamburg

Von Carolin Mogk


Viele tausend minderjährige unbegleitete Flüchtlinge suchen Schutz in Deutschland. Sie brauchen Hilfe im Alltag, Zuwendung und vor allem Sicherheit. Die Stiftung 'Children for Tomorrow' hat das Projekt Flüchtlingsambulanz für Kinder und Jugendliche am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) ins Leben gerufen. Die Psychotherapeutin Carolin Mogk gibt einen Einblick in die Arbeit der Ambulanz.


Nahezu täglich erscheinen in den Medien Berichte von Menschen in Extremsituationen: Terroranschläge, Kriege, Armut und Hunger bestimmen den Alltag in weiten Teilen der Welt. Aktuell befinden sich weltweit zirka 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht. Nach Angaben des UNHCR (2013) sind etwa die Hälfte der Flüchtlinge Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die meisten fliehen innerhalb des eigenen Landes oder in Nachbarländer. Immer wieder überqueren Menschen aber auch in überfüllten, oft nicht seetauglichen Booten das Mittelmeer, in der Hoffnung auf ein "besseres Leben" in Europa. Jedes Jahr sterben tausende bei diesem Versuch. Diese Bilder erzeugen bereits in der Distanz - vor dem Fernseher, im eigenen Wohnzimmer - Gefühle von Unbehagen und Hilflosigkeit, und doch ist dies alles irgendwie "weit weg". Näher am Alltag ist dagegen die Diskussion über den Umgang, die Unterbringung und die Integration von Flüchtlingen in Deutschland. Wohin und wie umgehen mit Menschen, die all diese Erlebnisse in sich tragen und die oft auch Jahre später noch unter den psychischen Folgen leiden? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es, und was kann eine Gesellschaft für eine menschenwürdige Versorgung und Integration tun?

Die Flüchtlingsambulanz

Flüchtlinge, die es bis nach Deutschland geschafft haben, sind zwar mit dem Leben davongekommen, doch ihre seelischen Verletzungen sind häufig so gravierend, dass der Alltag und die Integration im Aufnahmeland zusätzlich erschwert werden. Besonders Kinder und Jugendliche sind häufig stark in ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung gefährdet.

Die gemeinnützige Stiftung 'Children for Tomorrow'(*) wurde 1998 von Stefanie Graf und Professor Dr. Peter Riedesser, ehemals Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, gegründet. Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, die in ihren Heimatländern Opfer von Krieg, Verfolgung und Gewalt geworden sind, psychiatrische und psychotherapeutische Unterstützung zukommen zu lassen. Die Flüchtlingsambulanz in Hamburg entstand als erstes Projekt der Stiftung. Weitere Projekte existieren aktuell in Uganda und Eritrea. In der Hamburger Ambulanz werden jedes Quartal insgesamt zirka 180 Kinder und Jugendliche behandelt.

Finanziert werden die Therapien über Gelder des Sozialamts oder, sobald die Flüchtlinge gesetzlich krankenversichert sind, durch die Krankenkassen.

Die Stiftung übernimmt aktuell die Ausgaben, die durch den Einsatz von Dolmetschern entstehen, deren Honorare in der Regel nicht von den Krankenkassen erstattet werden. Darüber hinaus sieht das Konzept der Stiftung vor, dass auch Kinder und Jugendliche, die "illegal" und damit ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland leben, behandelt werden können. Zirka 40 Prozent der jährlich in der Flüchtlingsambulanz entstehenden Kosten werden somit zum aktuellen Zeitpunkt durch Stiftungs- bzw. Spendengelder getragen.

Personal und Angebot der Flüchtlingsambulanz

Elf Mitarbeiter arbeiten derzeit fest angestellt in der Flüchtlingsambulanz. Diese ist als psychiatrische und psychotherapeutische Praxis unter dem Dach des Ambulanzzentrums des Universitätsklinikums (Medizinisches Versorgungszentrum) mit einem ärztlichen und 1,5 psychotherapeutischen Kassensitzen organisiert. Drei approbierte Verhaltenstherapeutinnen (für Kinder und Jugendliche) und eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie (tiefenpsychologische Psychotherapie, TP) sichern die psychotherapeutische und psychiatrische (Grund-)Versorgung. Das Team besteht weiterhin aus Diplom-Pädagoginnen und Sozialpädagoginnen sowie einer Kunsttherapeutin. Alle Mitarbeiter haben mindestens eine therapeutische Zusatzqualifikation (z.B. Verhaltenstherapie [VT], TP, systemische Therapie, Traumatherapie).

Muttersprachliche Angebote gibt es in der Flüchtlingsambulanz auf Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch und Arabisch. Zusätzlich kann auf ein großes Team freiberuflich tätiger Dolmetscher zurückgegriffen werden, sodass Gespräche in nahezu allen angefragten Sprachen möglich sind. Die Anmeldung der jungen Flüchtlinge erfolgt in der Regel durch Betreuer der Jugendhilfeeinrichtungen, Lehrer oder Vormünder. "Zum Psychologen gehen" ist vielen Flüchtlingen zunächst fremd, sodass es häufig einige Zeit braucht, Sorgen und Misstrauen, z.B. dass Inhalte der Therapiegespräche an andere Institutionen wie die Polizei oder die Ausländerbehörde weitergegeben werden könnten, abzubauen. Sehr viele Jugendliche berichten deshalb zunächst nur einen Teil ihrer Geschichte und äußern häufig zu Beginn eher körperbezogene Symptome wie Schlafstörungen, Unruhe oder Schmerzen.

Zusammen mit den jungen Patienten und ihren Betreuern und Vormündern wird im Verlauf eine ausführliche kinder- und jugendpsychiatrische und entwicklungsbezogene Diagnostik durchgeführt und dann gemeinsam über die Behandlungsmöglichkeiten beraten. Für insgesamt 60 Patienten steht ein ambulantes Psychotherapieangebot mit wöchentlichen Terminen zur Verfügung. Weitere 120 Patienten können stützende (psychiatrische) Gespräche im Abstand von zwei bis vier Wochen in Anspruch nehmen. Bei entsprechender Indikation kann auch eine medikamentöse Behandlung eingeleitet werden, die immer eng mit den psychotherapeutischen Interventionen abgestimmt wird. Zusätzliche Angebote sind für alle Patienten Bildungs- und Sozialberatung sowie Kunsttherapie.

Das Angebot der Bildungsberatung reicht von Hilfen bei der Bewerbung, der Suche nach Praktikums- oder Ausbildungsplätzen, Hilfen bei der Aufnahme von Freizeitangeboten oder deren Beantragung.

In die Sozialberatung kommen vor allem Jugendliche und Familien, die wenig oder keine soziale Unterstützung, z.B. durch die Jugendhilfe, erhalten. Das ist häufig der Fall, wenn die ganze Familie in Deutschland lebt oder wenn unbegleitete Flüchtlinge das 18. Lebensjahr bereits erreicht haben. Beispielsweise können erste Kontakte zum Jugendamt hergestellt oder (weiterführende) Hilfen zur Erziehung (oder für junge Volljährige) beantragt werden.

Der Fokus der Beratungsangebote liegt wenn möglich auf der Mobilisierung und Koordination (bereits vorhandener) Hilfen und Bezugspersonen, sodass ein tragfähiges soziales Netz entsteht, auf dessen Grundlage weitere (z.B. psychotherapeutische) Interventionen eingeleitet werden können.

Eine weitere wichtige Säule in der Behandlung ist die Kunsttherapie. Kinder und Jugendliche haben hier die Möglichkeit, ihre Erfahrungen unabhängig von sprachlichen Prozessen zum Ausdruck zu bringen und zu verarbeiten. In den Ferien findet zusätzlich zu der einzeltherapeutischen Arbeit ein freizeitorientiertes Projekt (z.B. Fotografie oder Film) statt. Die Werke aus diesen Projekten werden im Rahmen einer Ausstellung mit Vernissage in der Flüchtlingsambulanz gezeigt, sodass die Jugendlichen sich in der Rolle "junger Künstler" einer Öffentlichkeit präsentieren und Wertschätzung für ihre Arbeiten durch ihr Umfeld erfahren.

Bei zirka 20% der in der Ambulanz vorstelligen jungen Patienten besteht aufgrund der Schwere der Symptomatik und der psychosozialen Situation eine Indikation für eine stationäre Behandlung. Minderjährige Flüchtlinge können zur Krisenintervention in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums aufgenommen werden.

Die längerfristige psychotherapeutische/psychiatrische stationäre Versorgung ist derzeit allerdings noch deutlich verbesserungsbedürftig. Sprachliche, finanzielle und fachliche Hürden erschweren nicht selten die Aufnahme und Behandlung der jungen Flüchtlinge im stationären Setting.

Die Patienten der Flüchtlingsambulanz

In der Flüchtlingsambulanz werden Kinder und Jugendliche bis zu einem Lebensalter von 21 Jahren behandelt. Ein Großteil der Patienten lebt ohne Familie in Deutschland. Im Jahr 2014 kamen 58% der Flüchtlinge aus Afghanistan, 10% aus Somalia, 9% aus Guinea, 6% aus Syrien und insgesamt 17% aus anderen Ländern, z.B. Mali, Nigeria, Sierra Leone oder Serbien. 58,2% der Patienten waren älter als 16 Jahre, 86% davon waren männlich. Bei den Kindern, jünger als 10 Jahre (4,8%), die in der Regel mit ihren Eltern oder anderen Familienangehörigen nach Deutschland geflüchtet sind, waren 62% männlich.

Ahmad
Ahmad(**) ist 17 Jahre alt. Er ist alleine, ohne seine Eltern nach Deutschland geflohen. Seit acht Monaten lebt er zusammen mit einem anderen afghanischen Jugendlichen am Stadtrand von Hamburg. Er wird zweimal in der Woche von seinem Betreuer besucht, um die alltäglichen Dinge zu besprechen, manchmal auch zum Kochen oder Schwimmengehen. Als Ahmad zum ersten Gespräch in die Flüchtlingsambulanz kommt, geht es ihm sehr schlecht. Immer wieder fehlen ihm die Worte. Er schaut zu Boden, er fragt, ob er kurz rausgehen dürfe. Ahmad selbst hat seinen Betreuer gebeten, "zum Arzt" gehen zu können. Er berichtet: "Ich habe Angst, verrückt zu werden. Immer wenn ich gerade das Gefühl habe, anzukommen, einen Ort zu haben, an dem ich bleiben kann, holt die Vergangenheit mich ein. Ich sehe all diese Menschen neben mir, tote Körper, höre die Schreie der Kinder, es ist, als ob das alles noch einmal passiert. Manchmal sehe ich den Bus, mit dem ich zur Schule fahre an der Haltestelle, und dann laufe ich, als ginge es um mein Leben. Ich sehe erst im letzten Moment, dass es der Stadtbus ist und nicht der Lkw ..."

Ahmad kann seine Symptomatik bereits in den ersten Gesprächen sehr gut beschreiben. Er leidet unter den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung, so wie zirka 39% der jungen Flüchtlinge, die 2014 in der Flüchtlingsambulanz behandelt wurden. Ahmad berichtet weiterhin: "Ich liege nachts oft wach, bis es langsam hell wird. Erst dann kann ich sicher sein." Trotz seiner ausgeprägten Schlafstörung schafft er es, regelmäßig die Schule zu besuchen. Seine Lehrerin weiß um seine Schwierigkeiten. Sie hat ihn bestärkt, "zum Arzt" zu gehen und sich therapeutische Hilfe zu suchen. Auch sein Betreuer unterstützt ihn sehr. Er ruft Ahmad jeden Morgen an, um ihm beim Aufstehen zu helfen. "Ohne den Anruf würde ich oft nicht hochkommen", sagt Ahmad.

In den weiteren Gesprächen berichtet Ahmad seine Geschichte. Als er 8 Jahre alt war, floh er zusammen mit seiner Mutter und seinen zwei älteren Brüdern von Herat, Afghanistan, in den Iran. Sein Vater sei in Afghanistan von einem Tag auf den anderen verschwunden. Bis heute wisse er nicht, was passiert sei. Die Mutter habe ihn und die Brüder voller Angst aufgefordert, das Nötigste zusammenzusuchen, und dann seien sie mit fremden Männern auf einem Pick-up durch die Nacht gefahren. Er habe das damals gar nicht realisiert. Die Gefahr sei ihm erst heute so richtig bewusst. Mehrere Tage seien sie unterwegs gewesen. Am Tag hätten sie in Höhlen und bei fremden Menschen geschlafen, in der Nacht seien sie gefahren. Oft ohne Licht, um nicht entdeckt zu werden. Der Bruder habe ihm Geschichten erzählt, seine Mutter habe gesungen.

In Teheran dann habe die Familie zunächst bei einem Onkel gewohnt, ein Bruder seines Vaters, den Ahmad zuvor noch nie gesehen habe. Der Onkel habe einen Gemüseladen gehabt. "Ein paar Jahre, bis ich 13 war, habe ich ein ganz normales Leben gehabt", erzählt Ahmad. "Nur zur Schule gehen durfte ich nicht. Das war mein größter Wunsch damals. In Afghanistan war ich ein guter Schüler. Ich wollte schon als kleiner Junge Lehrer werden."

Ahmad hat in seiner Kindheit trotz des Verlustes seines Vaters und der Flucht viele positive Beziehungserfahrungen machen können. Er beschreibt die Beziehung zu seinen Brüdern als sehr liebevoll, und auch seine Mutter sei "sehr modern" gewesen. Sie habe für die Familie gesorgt. Lernen, zur Schule gehen und einen "guten Beruf" haben sei immer das Wichtigste in der Familie gewesen.

Die positiven Beziehungserfahrungen prägen Ahmad nachhaltig. Auch in Deutschland nimmt er schnell Kontakt zu anderen Jugendlichen und zu seinen Betreuern auf. Er hat bereits nach einigen Wochen Freunde in der Schule, und seine Lehrerin unterstützt und fördert ihn. "Ich will auf die Realschule", erzählt er schon im ersten Gespräch in der Flüchtlingsambulanz. Auch die Therapietermine nimmt er regelmäßig wahr. Ahmad kommt einmal pro Woche zur Psychotherapie.

Ahmad erzählt erst nach vielen Monaten in der Therapie von seinen schrecklichen Erlebnissen: Als er 13 Jahre alt wird, erkrankt seine Mutter an Krebs. "Nichts war mehr so wie vorher!" Der Onkel besorgt Ahmad einen Job in einer Schuhfabrik. Er muss zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Da die Fabrik weit entfernt vom Wohnort des Onkels liegt, muss Ahmad in der Woche dort schlafen. "Ich war das einzige Kind dort. Die anderen waren nett zu mir, aber in der Nacht war ich ganz allein. Es war dunkel. Ich hatte Angst." Tapfer verdient Ahmad seinen Lebensunterhalt. Als er 15 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter. "Das war ein schwerer Schlag!" Danach wird es noch schwieriger für Ahmad. Die Brüder werden von der iranischen Polizei festgenommen. Sie werden nach Afghanistan abgeschoben. Der Onkel hilft ihm schließlich, das nötige Geld aufzutreiben, um mithilfe von Menschenhändlern nach Europa zu gelangen. Auf der Flucht über die Türkei und Griechenland erlebt Ahmad schreckliches: Er fährt auf den Achsen von Lebensmittel-Lkws mit, versteckt sich auf Ladeflächen, unter Planen, leidet oft tagelang Hunger und schläft wochenlang im Wald. "Ich dachte, in Europa würde es mir besser gehen ... Aber eigentlich hat es hier erst richtig angefangen, erzählt er. "Ich musste in der Türkei immer wieder um mein Leben fürchten. Auf der Straße war ich nirgends sicher." Insgesamt dreimal wird Ahmad überfallen, einmal wird er dabei so schwer verletzt, dass er in einem Krankenhaus behandelt werden muss. Dort trifft er auf Menschen, die ihm helfen. Ein Arzt kümmert sich auch nach dem Krankenhausaufenthalt um Ahmad. "Wenn mir jemand geholfen hat oder bloß einfach nur freundlich zu mir war, das war wie eine Erlösung", berichtet er. "Ich habe mich sonst oft nicht mehr wie ein Mensch gefühlt. Niemand hat sich für mich interessiert, mich nach meinem Namen gefragt. Ich habe den Abfall der anderen gegessen und oft darüber nachgedacht, einfach aufzugeben." Mithilfe des Arztes gelingt es Ahmad, gelegentlich Jobs in der Gastronomie oder in der Gebäudereinigung zu bekommen. Nach acht Monaten hat er das nötige Geld zusammen, um seine weitere Flucht zu finanzieren. Bereits in der Türkei leidet er nach den Überfällen unter Schlafstörungen. Er ist ständig auf der Hut. "Der Weg mit dem Schiff über das Mittelmeer hat mir den Rest gegeben", berichtet er. Drei Tage sind die Flüchtlinge auf offener See unterwegs. Es ist eng und es fehlt an Wasser und Nahrung. Ahmad berichtet, wie der Mann neben ihm, mit dem er zusammen an Bord gegangen war, plötzlich apathisch wird. Erst nach Stunden wird ihm klar, dass da ein Toter neben ihm sitzt. Einen weiteren Tag muss Ahmad neben der Leiche ausharren. Es ist so eng, dass er sich kaum bewegen kann. Er wird selbst immer wieder bewusstlos und schließt mit seinem Leben ab. "Ich habe an meine Mutter und meine Brüder gedacht. Und ich habe an die Schule und meinen Lehrer in Afghanistan gedacht." Kurz vor der griechischen Küste gerät das Boot in Seenot. Ahmad wird als einer der Ersten gerettet. Das ist sein Glück. "Nach mir haben die Helfer viele Leichen geborgen. Auch Kinder und alte Menschen."

Im Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung lernt Ahmad Techniken, um die schrecklichen Erinnerungen "auf Distanz zu bringen". Er schafft sich in seiner Vorstellung einen "sicheren Ort". An diesem Ort passt "Superman" auf, dass niemand von außen eindringt. Ahmad lacht über seine eigene "Kreation". Die Vorstellung hilft ihm, sich zu beruhigen, wenn die Erinnerungen ihn plötzlich überkommen oder er nachts nach einem Albtraum voller Angst aufwacht. Ahmad ist auf einem guten Weg. Es geht ihm deutlich besser als zu Beginn der Therapie. "Aber vergessen kann ich all das Schreckliche nie!", sagt er.

In der Flüchtlingsambulanz nimmt Ahmad in den Ferien an einem Filmprojekt teil. Er entwirft zusammen mit fünf weiteren Jugendlichen ein Drehbuch. Die Jugendlichen wollen ihre Fluchterfahrungen und ihre Erlebnisse in Europa dokumentieren. Sie drehen unter Anleitung der Kunsttherapeutin der Ambulanz einen Stop-Motion-Film. "Es war gut, zu wissen, mit meinen Erfahrungen nicht alleine zu sein." Der Film wird zusammen mit Fotografien aus einem kunsttherapeutischen Fotoprojekt im Rahmen einer Vernissage in der Ambulanz öffentlich gezeigt. Die Jugendlichen erfahren viel Anerkennung für ihre Werke. Betreuer, Vormünder, Therapeuten und viele interessierte Menschen aus Hamburg kommen, um mit den Jugendlichen die Ausstellung und die Präsentation des Films zu "feiern".

In der Kunsttherapie haben die jungen Flüchtlinge die Möglichkeit, ihre Erfahrungen auch unabhängig von Sprache zum Ausdruck zu bringen. Ergänzend zu den anderen Angeboten der Ambulanz nehmen viele Jugendliche dieses Angebot als sehr hilfreich wahr.

Mahdi
Mahdi ist 18 Jahre alt, als er zum ersten Mal in die Flüchtlingsambulanz kommt. Die Sozialpädagogin seiner Schule hat ihn angemeldet. Mahdi ist vor zwei Jahren aus Guinea nach Deutschland geflohen. In Hamburg angekommen, lebte er zunächst im Kinder- und Jugendnotdienst der Stadt, später dann in einer Erstversorgungseinrichtung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Mahdi berichtet im Erstgespräch, er wohne jetzt in einer Asylunterkunft (für Erwachsene). Dort halte er es nur schwer aus. Sein Zimmernachbar sei nachts sehr laut und habe häufig "Gäste". Er könne deshalb nicht zur Ruhe kommen und vermeide es, dort zu übernachten. Wenn möglich schlafe er bei Freunden, im Sommer habe er auch öfter im Park geschlafen. Mahdi wird ambulant betreut.

Seine Betreuerin ergänzt Mahdis Schilderung: Mahdi sei von Beginn an nicht in die Schule gegangen und habe sich nicht an Regeln gehalten. Oft sei er nachts durch Hamburg gestreift und sei wegen "kleinerer Delikte, z.B. Fahren ohne Fahrschein, Pöbeleien etc.", mehrfach von der Polizei aufgegriffen worden. Sie habe einen guten Draht zu Mahdi, aber häufig komme er zu den vereinbarten Treffen nicht und tauche dann erst Wochen später wieder auf, um sein Geld abzuholen. Mahdi habe eine eigene Wohnung (trägereigener Wohnraum) gehabt, sei dort aber kurz vor seinem 18. Geburtstag "rausgeflogen", da die Nachbarn sich wiederholt über ihn beschwert hätten. Mahdi habe dort ausgiebig gefeiert und keine Rücksicht auf die Nachtruhe genommen. Aktuell gehe es Mahdi sehr schlecht. Er habe 10 Kilogramm an Gewicht verloren, sie habe den Eindruck, er kiffe viel, und seine Stimmung sei häufig niedergeschlagen und gereizt. Mahdi selbst äußert, er habe das Gefühl, so könne es nicht weitergehen, und wünsche sich, wieder eine Wohnung beziehen zu können. Auch habe er ständig das Gefühl, angespannt und gereizt zu sein. Er kiffe dann, um sich zu beruhigen, und trinke auch häufig größere Mengen Alkohol, um sich besser zu fühlen und schlafen zu können.

Zu Beginn einer Behandlung in der Flüchtlingsambulanz werden die Jugendlichen hinsichtlich ihrer sozialen Situation in Gruppen aufgeteilt. Mahdi lebt in einer psychosozial unsicheren Situation. Er besucht die Schule nur sporadisch, hat eine schwierige Wohnsituation, wenig unterstützende Kontakte zu Gleichaltrigen und einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. Darüber hinaus zeigt sich an den folgenden Terminen, dass Mahdi in einem sehr schlechten psychischen und körperlichen Zustand ist. Mahdis Diagnose nach den ersten diagnostischen Sitzungen lautete: "V.a. Borderline-Persönlichkeitsstörung vor dem Hintergrund zahlreicher traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit und Jugend (F60.31). Mittelgradige depressive Episode (F32.1) und schädlicher Gebrauch von Alkohol und Cannabis (F10.1 und F12.1)".

In der Flüchtlingsambulanz kümmerte sich zunächst verstärkt die Sozialpädagogin um die Verbesserung der psychosozialen Situation. Ein ausreichend stabiles soziales Netz und die Möglichkeit, sich "sicher" zu fühlen, sind wichtige Voraussetzungen, um langfristig erfolgreich psychotherapeutisch an Mahdis Themen arbeiten zu können. Das Erstellen einer klinisch relevanten Diagnose war für Mahdi sehr hilfreich. Die Sozialpädagogin der Flüchtlingsambulanz organisierte ein gemeinsames Gespräch mit allen bisherigen Helfern in Mahdis Umfeld. Die zuständige Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (Jugendamt), Mahdis Betreuerin, seine Lehrerin, die Therapeutin und Sozialpädagogin und Mahdi selbst nahmen an dem Treffen teil. Dabei wurden mit Mahdis Einverständnis alle Beteiligten über die Hintergründe der psychischen Erkrankung und deren Symptomatik informiert. Beispielsweise erklärte Mahdi, dass sein Cannabiskonsum ihm helfe, zur Ruhe zu kommen und einzuschlafen. Die Therapeutin ergänzte, dass dies häufig Schwierigkeiten nach sich ziehe, auch am Morgen aufzustehen, und ein Teufelskreis entstehen könne, in dem Mahdi dann wichtige soziale Tätigkeiten (z.B. Freunde treffen, Schule) nicht mehr schaffe, sodass die Stimmung schlechter werde und mehr Grübelgedanken kommen. Dies wiederum verstärkt den Impuls, Alkohol oder Cannabis zu konsumieren.

Alle Beteiligten einigten sich darauf, dass Mahdi eine zweite Chance in einer Jugendhilfeeinrichtung bekommen soll. Voraussetzung hierfür sollte eine stationäre Behandlung und weitere ambulante Termine in der Flüchtlingsambulanz sein. Darüber hinaus sollte der Schulbesuch bis zu den bevorstehenden Sommerferien ausgesetzt werden; nach den Sommerferien sollte Mahdi die Gelegenheit erhalten, das Schuljahr zu wiederholen. Sollte ihm der regelmäßige Schulbesuch jedoch nicht gelingen, würde die Schule nach zirka acht Wochen diese Möglichkeit beenden.

Der weitere Verlauf der Behandlung gestaltete sich schwierig. Mahdi äußerte immer wieder, er habe Angst vor einer stationären Behandlung. Seine größte Sorge war, dass er eingesperrt werden könnte. Hintergrund ist, dass Mahdi im Alter von 14 Jahren mehrere Monate in Haft verbringen musste. Während dieser Zeit seien "grausame Dinge" geschehen, mehr kann er nicht berichten. Auch verpasst er immer wieder ambulante Termine. Nach einigen Wochen kann sich Mahdi schließlich doch dazu durchringen, sich zwei Tageskliniken in Hamburg anzuschauen, um einen Eindruck zu bekommen und seine Befürchtungen zu überprüfen.

Auch aufseiten des Gesundheitswesens gestaltete sich der Verlauf dieser Behandlung schwierig. Viele Kliniken äußerten sich skeptisch im Hinblick auf die Aufnahme Mahdis. Die Dolmetscherkosten werden zum aktuellen Zeitpunkt von den Krankenkassen nicht übernommen, sodass für die Kliniken zusätzliche Kosten entstehen. Auch wurden Bedenken geäußert, ob eine Dolmetscher-Vermittelte Behandlung effektiv und zielführend sein könne. Weiterhin befürchteten einige Behandler auch, dass keine ausreichende Integration auf der Station stattfinden könne, weil Mahdi an den Gruppenangeboten nicht so aktiv teilnehmen könne, wie dies im "Normalfall" erforderlich sei. Auch an dieser Stelle war es notwendig, dass Therapeutin und Sozialpädagogin der Flüchtlingsambulanz sich fachlich mit den Kollegen der anderen Kliniken austauschten, um eine Klinikbehandlung zu ermöglichen.

Zwei Jahre später gelang es Mahdi, seinen Hauptschulabschluss zu machen. Zwischenzeitlich war er zweimal stationär in einer Klinik behandelt worden. Der erste Versuch scheiterte nach zwei Wochen, da Mahdi den "engen Rahmen" nicht aushalten konnte. Der zweite Versuch, ein halbes Jahr später, war erfolgreicher. Mahdi konnte seine selbstschädigenden Verhaltensweisen deutlich reduzieren.

Ausblick: Was brauchen junge Flüchtlinge für eine gesunde (psychische) Entwicklung?

Menschen, die unter (schweren) psychischen Störungen leiden, besonders Kinder und Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung befinden und die ohne Eltern in Deutschland sind, benötigen niederschwellige und wirksame Behandlungsangebote. Die Behandlung psychischer und körperlicher Schädigungen ist in der EU-Aufnahmerichtlinie 2013 (Artikel 19) formuliert: "Die Mitgliedsstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen umfasst." Darüber hinaus wird im zweiten Absatz explizit erwähnt, dass Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen auch eine geeignete psychologische Betreuung gewährt werden soll. Was genau "Notversorgung" im Falle schwerer psychischer Traumatisierung bedeutet und was "geeignete psychologische Betreuung" ist, kann natürlich sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Die Praxis zeigt, dass das Gesundheitswesen sich aktuell noch schwertut, sich auf die Belange und Bedarfe von Flüchtlingen und Migranten einzustellen. Der Zugang zu adäquater psychotherapeutischer Behandlung (ob stationär oder ambulant) ist für Flüchtlinge nach wie vor mit vielen Hürden verbunden. Vor allem im Bereich der "sprechenden Medizin" ist das Überwinden sprachlicher Barrieren essenziell, um wirksame Behandlungen anbieten zu können.

Menschen, die aus prekären, häufig lebensbedrohlichen Situationen in ihren Heimatländern fliehen und enorme Strapazen und Gefahren auf sich nehmen, um eine Chance auf eine bessere Zukunft in Sicherheit zu haben, sind auch in Deutschland noch allzu häufig Ausgrenzung, Vorbehalten oder auch Nichtbeachtung ihrer individuellen Lebenssituation ausgesetzt. So können beispielsweise engagierte (Privat-)Vormünder, Betreuer, Therapeuten und Ärzte durch ihre Beziehungsangebote dazu beitragen, ein hilfreiches, der Entwicklung und Ressourcenaktivierung zuträgliches soziales Netz für die jungen Flüchtlinge zu schaffen. Den durch Traumatisierung geprägten Veränderungen der wesentlichen Grundüberzeugungen der jungen Menschen bezüglich Sicherheit, Vertrauen und dem eigenen Wert müssen zahlreiche neue, korrigierende Erfahrungen entgegengesetzt werden, um ihnen zu helfen, wieder Vertrauen zu entwickeln und die eigene Zukunft gestalten zu können.

Wie alle anderen jungen Menschen auch, benötigen Flüchtlinge eine schulische, berufliche und soziale Perspektive, um ihren Lebensweg zu gestalten und ein eigenständiges Leben aufnehmen zu können. Für viele von ihnen wäre es von Vorteil, mehr Zeit für das Erreichen eines Schulabschlusses zur Verfügung zu haben. Vor dem Hintergrund der neuen Sprache, der zum Teil fehlenden schulischen Vorbildung und der Beeinträchtigungen durch Symptome ist das Erreichen eines Schulabschlusses (meist innerhalb von zwei bis drei Jahren) häufig sehr schwierig. Die Verbesserung der Bildungschancen ist somit ein wichtiger Aspekt, um jungen Flüchtlingen einen guten Start in ihr Leben zu ermöglichen und somit auch ihre vielfältigen Potenziale für unsere Gesellschaft nutzbar zu machen.


Carolin Mogk ist Diplom-Psychologin am Ambulanzzentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
E-Mail: c.mogk@uke.de
Internet: www.uke.de/ambulanzzentrum


Literatur:

REMSCHMIDT, H./SCHMIDT, M./POUSTKA, F. (2006): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. 5.Aufl. Bern: Hans-Huber-Verlag.

RICHTLINIE 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), In: Amtsblatt der Europäischen Union, L180/96-116; Internet:
www.migrationsrechtnet/aufnahmerichtlinie-neufassung2013.html
(Zugriff: 26.2.2015).

UNITED NATIONS HIGH COMMISSIONER FOR REFUGEES (UNHCR): UNHCR. Global Trends 2013. War's Human Cost. Internet:
www.unhcr.de/service/zahlen-und-statistiken.html
(Zugriff: 13.3.2015).


* www.children-for-tomorrow.de
** Alle Namen und Daten anonymisiert.

Ein weiterer Artikel der Autorin zum Thema erscheint im September 2015 in: Karl Heinz Brisch (Hrsg.). Bindung und Migration. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015, Seite 20 - 24
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2015

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