Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → PSYCHIATRIE

POLITIK/089: Zukunftsfähiges Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychotherapie (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2011

Vorschlag eines Expertennetzwerks
Zukunftsfähiges Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychotherapie

Von Prof. Dr. Arno Deister, PD Dr. Martin Heinze, Dr. Christian Kieser und Dr. Bettina Wilms


Regionale Verantwortung ist nach Erfahrungen von Experten die Basis für ein künftiges Entgeltsystem, das begrenzte Ressourcen sinnvoll einsetzt.


Das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie steht aus vielfältigen Gründen im Fokus der Diskussion über moderne Entgeltstrukturen im Krankenhaus. Psychische Störungen gehören zu den Erkrankungen, die zunehmend häufiger verantwortlich sind für Arbeitsunfähigkeit, Krankenhausaufenthalte und frühzeitige Berentungen. Etwa elf Prozent der direkten Kosten von Erkrankungen insgesamt lassen sich unmittelbar auf psychische Störungen zurückführen; die indirekten Kosten dieser Erkrankungen sind mindestens noch einmal doppelt so hoch. Die sozialen Folgen dieser Erkrankungen sind unübersehbar. Gleichzeitig ist die Versorgungssituation geprägt von begrenzten finanziellen Ressourcen; zunehmender Fachkräftemangel wird die ohnehin schon kritische Versorgungslage zusätzlich verschärfen.

In keinem anderen medizinischen Fachgebiet ist die Notwendigkeit einer am gesamten Menschen orientierten integrativen Versorgung notwendiger als in der Psychiatrie und Psychotherapie. Dafür geeignete inhaltliche Konzepte sind zwar vorhanden, ihre Umsetzung scheitert aber allzu oft an der ökonomischen Realität. Die teilweise dramatischen Veränderungen der Versorgungssituation in den letzten Jahren, u.a. die Abnahme der durchschnittlichen Verweildauer und die gleichzeitige Zunahme der Fälle, werden durch das bisherige Finanzierungssystem - die seit 1991 geltende Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) - nicht mehr adäquat abgebildet. Einheitliche ökonomische oder gar qualitätsbezogene Kriterien für die Finanzierung der Versorgung in unterschiedlichen Versorgungsregionen existieren bisher nicht. Darüber hinaus ist die PsychPV nicht mehr flächendeckend und ausreichend finanziert. Dies hat eine sehr uneinheitliche Finanzierungssituation in Deutschland zur Folge.

Die Situation des Gesundheitswesens in Deutschland ist weiterhin gekennzeichnet durch einen steigenden Ressourcenbedarf und Ressourcenverbrauch. Für die Leistungsausweitungen und Kostensteigerungen werden - neben dem wissenschaftlichen Fortschritt und der demografischen Entwicklung - auch die vorhandenen Überkapazitäten auf vielen Ebenen des Gesundheitswesens und damit einhergehende angebotsinduzierte Effekte verantwortlich gemacht. Daneben gibt es Fehl- und Unterversorgung insbesondere in Bereichen und für Patientengruppen, die in der aktuellen Vergütungssystematik ökonomisch nicht attraktiv sind. Diese Fehlentwicklungen führen vor allem bei der Versorgung chronisch und multimorbid kranker Menschen, bei älteren Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund zu einer inadäquaten und nicht bedarfsgerechten Leistungsverteilung. Dies gilt im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie in ganz besonderer Weise.

Die politisch Verantwortlichen, die Kostenträger und Leistungserbringer sind daher gefordert, die begrenzten Mittel nach gesundheitspolitischen Zielsetzungen und den Vorgaben einer umfassenden Gesundheitsplanung und Förderung einzusetzen und innovative Versorgungsmodelle zu entwickeln.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen (2009) empfiehlt den Wechsel im Gesundheitssystem vom traditionellen anbieter- und sektororientierten Versorgungssystem in ein zukunftsweisendes populationsorientiertes und sektorenübergreifendes Versorgungssystem. Für diesen notwendigen Paradigmenwechsel sind die Voraussetzungen in der Psychiatrie und Psychotherapie besonders gegeben. Dabei muss eine gezielte Steuerung der Gesundheitsleistungen notwendigerweise in einem regionalen Kontext erfolgen, da nur dieser die Voraussetzungen für eine umfassende und fachlich begründete Vernetzung der vorhandenen Angebote, für eine Berücksichtigung des sozialen Kontextes, für eine Förderung langfristiger rehabilitativer Konzepte und eine direkte Verantwortung der Leistungserbringer für die Ergebnisqualität schaffen kann. Die Übernahme regionaler Verantwortung als Voraussetzung für eine qualitätsorientierte psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung erscheint uns daher unverzichtbar.

Die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für die Psychiatrie und Psychotherapie bietet die konkrete Chance zur Realisierung eines zukunftsweisenden, qualitätsorientierten und an den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgerichteten Finanzierungssystems. Gleichzeitig bietet sich die Möglichkeit zur Überwindung überkommener und weitgehend starrer Grenzen zwischen unterschiedlichen Behandlungssettings und Behandlungsformen, sodass die vorhandenen Ressourcen effizient und effektiv für die Patienten genutzt werden können.

Die Komplexität der Anforderungen an die Finanzierung in diesem Fachgebiet ist deutlich größer als in der somatischen Medizin, u.a. da die Zahl und Vielfalt der Leistungserbringer außerordentlich hoch und deren Leistungsspektrum sehr unterschiedlich ist. Dem steht eine hohe Heterogenität der Krankheitsbilder, der Langzeitverläufe und des Behandlungsergebnisses gegenüber. Ein allein auf die Diagnose bezogenes Entgeltsystem wird deshalb als nicht geeignet angesehen, den Leistungsbedarf und die Leistungsverteilung adäquat abzubilden.

Das aktuell vorgeschlagene Modell eines im Wesentlichen auf der Beschreibung und Erfassung von Einzelleistungen basierenden Entgeltsystems erscheint nicht geeignet, die Anforderungen der Psychiatrie und Psychotherapie zu erfüllen. Es werden einseitig die vorhandenen stationären Behandlungsstrukturen gestärkt, therapeutische Einzelleistungen überbewertet und der Abbau getrennter Behandlungssektoren weitgehend verhindert. Damit besteht die Gefahr, dass die vorhandenen personellen und finanziellen Ressourcen nicht optimal zur Erreichung einer adäquaten Ergebnisqualität genutzt werden und somit eine auch ökonomisch sinnvolle Unterstützung der Patienten im sozialen Umfeld nicht gefördert wird. Unserer Meinung nach werden somit durch dieses System grundsätzlich falsche Steuerungs- und Leistungsanreize gesetzt.

Die Ausrichtung an Qualitätsmerkmalen als dem wesentlichen Kriterium für die Beurteilung medizinischer Leistungen wird zunehmend erkannt und von Patienten auch in der Psychiatrie und Psychotherapie eingefordert. Zwischen der Struktur des Versorgungssystems, den Anreizen des Finanzierungssystems und der Qualität der erbrachten Leistung besteht unzweifelhaft ein direkter Zusammenhang.

Ein zukünftiges Entgeltsystem wird sich deshalb nicht nur an ökonomischen Maßstäben messen lassen müssen, sondern insbesondere daran, ob und wie es die Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur fördern kann. Ein an der Qualität der Versorgung ausgerichtetes zukunftsfähiges Entgeltsystem für die Psychiatrie und Psychotherapie muss einer Vielzahl von spezifischen Anforderungen gerecht werden. Dazu gehören in erster Linie die Möglichkeit zu individueller und flexibler Behandlung, die Stärkung der sozialen Bezüge der Patienten und deren Teilhabe am sozialen Leben und Arbeitsleben, die Förderung der ambulanten gegenüber der stationären Behandlung, die Vernetzung der bestehenden Angebote in der Region und die Sicherstellung ausreichender personeller Ressourcen.


Ausweitung der Behandlung in absehbarer Zeit nicht realistisch

Die für die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen sind begrenzt. Eine relevante Ausweitung wäre zwar wünschenswert, scheint aber in absehbarer Zeit aufgrund gesundheitspolitischer Weichenstellungen und auch aufgrund eines zunehmenden Fachkräftemangels nicht realistisch zu sein. Umso wichtiger erscheint uns, dass die zur Verfügung stehenden Mittel möglichst ungeschmälert der Patientenversorgung zur Verfügung stehen.

Ein Finanzierungssystem, das in sich das Erfordernis umfassender gegenseitiger Kontrolle mit dem dadurch entstehenden "Misstrauensaufwand" trägt, wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es hat sich nämlich auch gezeigt, dass die Überprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen lediglich die Frage der stationären bzw. allenfalls der teilstationären Verweildauer betreffen, wogegen alternative Behandlungsformen und die Ergebnisqualität nicht thematisiert werden. Damit wird für die Leistungserbringer die Dauer der stationären Behandlung bzw. die Zahl der aufgestellten Betten zum alleinigen Maßstab des ökonomischen "Erfolgs" einer Einrichtung.

Es ist dringend erforderlich, die Finanzierung psychiatrischer Leistungen von der weitgehenden Bindung an das Krankenhausbett zu entkoppeln, jedoch ohne das dafür bisher ausgegebene Geld dem Versorgungssystem und den dort betreuten Patienten zu entziehen. Das Wissen um die Endlichkeit der Ressourcen muss verbunden sein mit dem Wissen um die Begrenztheit psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung. Das psychiatrische Versorgungssystem steht nämlich immer auch in der Gefahr, durch gesellschaftliche Entwicklungen instrumentalisiert zu werden.

Diese doppelte Verantwortung - für die Qualität der Versorgung und für die zur Verfügung stehenden Ressourcen - kann besonders effektiv durch die Leistungserbringer in der Region übernommen werden. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch die Möglichkeit, die jeweiligen diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen allein an fachlichen Kriterien auszurichten und ohne bürokratische Hürden umzusetzen. Das bestehende sektorale Finanzierungssystem erlaubt dies bisher nicht.

Es ist für uns selbstverständlich, dass die Möglichkeit zur medizinischen Leistungssteuerung einhergehen muss mit einer umfassenden Transparenz und Überprüfbarkeit der erbrachten Leistungen. Der Maßstab dafür sollte jedoch nicht die Art oder die Zahl der erbrachten Einzelleistungen sein, sondern es müssen in erster Linie Qualitätskriterien für die Bemessung von Ressourcen verwendet werden. Die Diskussion der Frage, welche Kriterien in Psychiatrie und Psychotherapie geeignet sind, Qualität zu erfassen und überprüfbar zu machen, ist noch nicht sehr weit vorangeschritten. Es erscheint aber unbestritten, dass hier ein besonderes Augenmerk gelegt werden muss auf den Bereich der Struktur-, Prozess- und insbesondere auf die Ergebnisqualität. Unter "Ergebnisqualität" wird verstanden, dass durch die erbrachten Leistungen die Gesundheit der Menschen in der Region gefördert wird.


Anreizsystem mit Verpflichtung zur Gewährleistung

Für den Leistungserbringer besteht die Verpflichtung, die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität insbesondere gegenüber den Kostenträgern offenzulegen. Die Ergebnisqualität muss durch eindeutige und transparente Kriterien definiert werden, um damit auch die Möglichkeit zur Evaluation zu schaffen. Diese Kriterien sind verbindlich zwischen allen Beteiligten zu vereinbaren und zu einem wesentlichen Bestandteil der Bemessung der zur Verfügung gestellten Ressourcen zu machen. Das Anreizsystem sollte auch die Verpflichtung zur "Gewährleistung" enthalten, so wie es in den bestehenden Modellprojekten der Fall ist (s.u.). Bei der Beurteilung der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sollten alle Ebenen der regionalen Versorgungsstruktur mit einbezogen werden. Es müssen neben der Art der seelischen Erkrankung, dem psychischen Zustand im Verlauf und der Häufigkeit von Behandlungsmaßnahmen insbesondere auch die Integration in den sozialen Kontext und die Nutzung komplementärer Einrichtungen einbezogen werden. Präventive, therapeutische und rehabilitative Aspekte sollten dabei gleichwertig berücksichtigt werden.

Im Sinne eines integrativen Verständnisses von medizinischer - und insbesondere psychiatrisch-psychotherapeutischer - Betreuung sprechen wir nicht nur von akut notwendigen Maßnahmen der Diagnostik und Behandlung, sondern gleichzeitig auch von der Notwendigkeit präventiver, rehabilitativer und evtl. auch palliativer Maßnahmen. Eine umfassende und langfristig angelegte Gesundheitsförderung ist für uns die Basis therapeutischen Handelns. Eine solche Gesundheitsförderung erfordert jedoch ebenfalls spezifische Anreizsysteme, die bisher gesundheitspolitisch noch nicht ausreichend unterstützt werden. Bei den in vielen Fällen episodisch oder chronifiziert verlaufenden psychischen Erkrankungen gehören zu einem integrativen Behandlungskonzept ganz besonders Angebote zur sekundären (Verhinderung erneuter Krankheitsepisoden) und tertiären Prävention (Verminderung der Folgen psychischer Erkrankung). Es zeichnet psychiatrische und psychotherapeutische Maßnahmen aus, dass ihre Effektivität an eine möglichst langfristige Behandlungs- und Beziehungskonstanz gebunden ist. Die Voraussetzung einer längerfristigen Betreuung setzt allerdings voraus, dass die Behandlungsart - stationär, tagesklinisch oder ambulant - durch die gleiche Person bzw. das gleiche Team erfolgen kann.

Das Prinzip der mittel- bis langfristigen Gesundheitsförderung setzt klare Anreize, dass Leistungsträger nicht primär auf die Erlangung kurzfristiger ökonomischer Erfolge ausgerichtet sind - was bedeuten könnte, dass schwere Erkrankungen nicht oder nur unzureichend behandelt werden -, sondern dass eine stärker am volkswirtschaftlichen Interesse orientierte nachhaltige Strategie gewählt wird. Die bisher durchgeführten Modellprojekte (s.u.) haben bereits zeigen können, dass es dadurch nicht zu einer Einengung des Spektrums der behandelten Erkrankungen auf vermeintlich leichtere Störungen kommt, sondern dass entscheidende ökonomische Vorteile gerade aus der langfristig angelegten Behandlung episodischer Störungen resultieren, da hier die Wiederaufnahmequote deutlich gesenkt werden konnte. In vielen Versorgungsregionen existieren im klinischen und im komplementären Bereich umfassende und kompetente Angebote zur Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Angebote dieser Einrichtungen sind in den meisten Fällen nicht so intensiv miteinander vernetzt, wie es im Sinne einer integrativen Behandlung sinnvoll wäre. Innerhalb der Kliniken verhindern unterschiedliche Finanzierungsformen einen individuellen und flexiblen Wechsel zwischen unterschiedlichen Behandlungsformen. Der Wechsel des Behandlungssettings (stationär, tagesklinisch, ambulant) bzw. der Schnittstellen zwischen der Versorgung im Krankenhaus bzw. durch das Krankenhaus und der Versorgung im ambulanten Bereich ist oft von hohen formalen Hürden beeinträchtigt, deren Überwindung Zeit, bürokratische Anstrengungen und damit auch Geld kostet. Dies führt häufig dazu, dass trotz medizinischer Notwendigkeit nicht die dem Patienten angemessene Behandlungsform zur richtigen Zeit zur Verfügung steht. Darüber hinaus führt dies zu einem Wechsel des Behandlungsteams mit der Gefahr häufiger Wiederaufnahmen durch Brüche in der therapeutischen Kontinuität. Die mittel- bis langfristige Therapieplanung ist damit erschwert.


Gefahr von Fehlallokationen

Es ist auch davon auszugehen, dass durch die schlechtere finanzielle Bewertung teilstationärer und die völlig unzureichende Bewertung ambulanter Behandlung gegenüber der vollstationären Behandlung nicht immer diejenige Behandlungsart gewählt wird, die eigentlich sinnvoll - und vor allem ausreichend - wäre. Somit besteht die Gefahr, dass die vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen unzureichend genutzt bzw. fehlalloziert werden. Die Überwindung dieser sektoralen Begrenzung kann aus unserer Sicht nur erfolgen, wenn die Finanzierung vom jeweiligen Behandlungssetting gelöst wird und der Therapieerfolg insgesamt zum Maßstab für die Finanzierung gemacht wird.

Hohe Ergebnisqualität, Planungssicherheit für alle Beteiligten, fehlender Anreiz zur Mengenausweitung und die Förderung von fachlich begründeten Behandlungsprozessen sind wünschenswerte gesundheitspolitische Ziele. Vergütung, Kostensteuerung und Qualitätssicherung beeinflussen das Verhalten der Leistungserbringer erheblich. Damit werden die Strukturen und die Organisation der psychiatrischen Versorgung sowie die Ressourcenverteilung sehr direkt beeinflusst. Anreizsysteme bergen daher grundsätzlich auch Risiken zur Fehlsteuerung in sich. Tendenziell gilt: Je pauschaler und prospektiver die Vergütung ausgestaltet ist, desto größer ist die Gefahr zur Leistungsvorenthaltung. Erfolgt hingegen die Vergütung nach Einzelleistungen und wird am Ende einer bestimmten Zeitperiode bezahlt, so besteht die Gefahr der ökonomisch und nicht inhaltlich begründeten Leistungsausweitung.

Für die Versorgung psychisch Kranker ist eine Vergütungssystematik zu fordern, die eine sektorenübergreifende und personenzentrierte Behandlung ermöglicht. Dies erfordert eine flexible Nutzung der Ressourcen, damit der Behandlungsschwerpunkt zunehmend in den ambulanten und teilstationären Bereich verlagert werden kann. Die Umsetzung dieser fachlich gebotenen Veränderungen setzt voraus, dass die Kostenkontrolle sowie die Steuerung und Allokation der Ressourcen nach dem Versorgungsbedarf erfolgen. Dies ist nach den bisherigen Erfahrungen am ehesten durch auf Pauschalen bezogene Finanzierungsmodelle (Capitation) möglich. Dabei werden weder Einzel- noch Komplexleistungen vergütet und die Vergütung ist nicht an definierte Prozesse geknüpft. Im Capitation-Payment wird die Steuerung und Kontrolle der ökonomischen Ressourcen an den Leistungserbringer übertragen, wodurch der Leistungserbringer die Ressourcen flexibler einsetzen kann. Fachliche Entscheidungen über den Einsatz der Ressourcen finden eine größere Berücksichtigung. Im Capitation-Modell übernimmt der Leistungserbringer die Gesamtverantwortung für die Versorgung einer bestimmten Patientengruppe in einer definierten Region.

Solche Modelle erscheinen gerade für psychische Erkrankungen sinnvoll. Es werden dadurch ökonomische Rahmenbedingungen geschaffen, die geeignet sind, die fachlich gebotenen Veränderungen der Versorgungsstrukturen durch Flexibilität, Kreativität und Innovation zu verändern (WHO 2003). Dabei gilt es nicht, ein vorgefertigtes Modell einer Region überzustülpen, sondern die regionalen Besonderheiten und Vorerfahrungen sowie die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu berücksichtigen. Morbiditäts- und Mengenrisiko werden bei diesem Modell ebenfalls an den Leistungserbringer übertragen. Dafür liegen auch die Budgetsteuerung und die Steuerung der vorhandenen Ressourcen beim Leistungserbringer. Die Qualitätskontrolle erfolgt überwiegend durch Ergebniskriterien, wie z.B. die Frage einer Wiedererkrankung. Wichtig ist hierbei, den Zeitraum, für den Verantwortung übernommen wird, ausreichend lang zu wählen und die Versorgungsregion ausreichend groß zu gestalten. Nur auf diesem Weg kann es gelingen, keine Steuerungsanreize für die Erzielung kurzfristiger betriebswirtschaftlicher Vorteile zu setzen, sondern langfristige Erfolge ökonomisch attraktiv zu gestalten. Dies läuft im Ergebnis auf das Prinzip einer - meist zeitlich begrenzten - Gewährleistung für den Behandlungserfolg hinaus, ein Prinzip, das dem deutschen Gesundheitswesen bisher fremd ist.


Anreize für Prophylaxe schaffen

Die Anreize müssen so gestaltet sein, dass die umfassende, vernetzte und qualitätsgesicherte Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen in einer definierten Region gefördert wird. Dabei sollten nicht nur akute diagnostische und therapeutische Fragestellungen der Maßstab sein, sondern es sollten gleichzeitig auch Maßnahmen der Sekundärbzw. Tertiärprophylaxe sowie rehabilitative Ansätze mit einbezogen werden.

Das verbesserte Angebot von Maßnahmen zur Prophylaxe sollte tendenziell stärker honoriert werden, eine Ausweitung der akuten Behandlung (kurzfristige Wiederaufnahmen, sehr lange hochfrequente Behandlungen) sollten tendenziell sanktioniert werden. Bezogen auf die regionale Ebene erscheint ein integratives und kooperatives Finanzierungssystem sinnvoll, das die Verantwortung für die Behandlung und Betreuung der Einwohner dieser Region und das langfristige Erreichen von Gesundheit und Lebensqualität verbindet mit der Verantwortung für die in der Region verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen. Die Bemessung der zur Verfügung stehenden Ressourcen soll sich dabei nicht an Parametern der Behandlung wie z.B. Behandlungstagen, Fällen oder erbrachten Einzelleistungen orientieren, sondern an der zu bewältigenden Aufgabe. Der dazu am ehesten geeignete Ansatz scheint uns eine auf die Einwohnerstruktur und deren Erkrankungsrisiko bezogene Finanzierung (z.B. einwohnerbezogene Komplexpauschalen) zu sein. Da die dafür notwendigen Basisdaten aktuell nicht vorliegen, sollte sich die Finanzierung orientieren an der Zahl der in der Region innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z.B. ein Kalenderjahr) behandelten Menschen, unabhängig von der Art und Häufigkeit der dabei durchgeführten Behandlung. Auf diesem Weg ergibt sich die gewünschte "Gewährleistung" für den Behandlungserfolg in einem umgrenzten Zeitraum.

Wünschenswert zum Erreichen eines langfristig stabilen Behandlungserfolgs erscheint die Vernetzung der in der Region tätigen Anbieter von Behandlungsleistungen innerhalb eines Finanzierungssystems. Soweit auch Leistungserbringer außerhalb des klinischen Bereichs (niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten, ambulante Einrichtungen, betreutes Wohnen und Arbeiten etc.) eingebunden werden sollen, liegen Erfahrungen mit den dafür erforderlichen Steuerungs- und Koordinationsmechanismen allerdings aktuell noch nicht vor.

Grundsätzlich erscheint es erforderlich, dass die vorhandenen Ressourcen innerhalb des Systems nach dem Maß der Leistungsbereitschaft und der damit verbundenen Übernahme von Verantwortung für den Erfolg des gesamten Systems aufgeteilt werden und dass dafür verbindliche Qualitätsindikatoren vereinbart werden. Eine umfassende Transparenz in Bezug auf die Kostenträger ist dabei unabdingbar. Ziel eines integrativen und kooperativen regionalen Finanzierungssystems ist die möglichst effiziente Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Schaffung von Gesundheit in der Region sowie die möglichst weitgehende Stabilität der Gesundheitsausgaben.

In den letzten Jahren haben zwischen den Krankenkassen und Kliniken vereinbarte Modellprojekte zeigen können, dass durch ein regionales Budget für die klinische psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung Steuerungsanreize gesetzt werden, die zu einer Verlagerung von stationärer Behandlung zu ambulanter Behandlung durch die Kliniken führen. Inzwischen wird die klinische psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von mehr als einer Million Menschen in sechs Regionen in Deutschland nach diesem System organisiert.

Im Rahmen dieser Modellprojekte wurden die Zahl der Behandlungstage ebenso wie die stationäre Bettenkapazität reduziert und die Kosten stabilisiert. Die wissenschaftliche Begleitforschung konnte belegen, dass dadurch die Behandlungsqualität nicht beeinträchtigt wird und die soziale Integration gefördert werden kann.

Die wesentliche Basis dieser Projekte ist ein Steuerungs- und Anreizsystem, das dazu führt, dass

- ein flexibler und allein an den Bedürfnissen der behandelten Menschen orientierter Wechsel zwischen unterschiedlichen Behandlungsformen ohne bürokratische Hürden und dem damit verbundenen Misstrauensaufwand erfolgt;

- eine zu lange Behandlungsdauer im stationären Bereich vermieden wird, weil das System keinen Anreiz beinhaltet, durch mehr Fälle oder Behandlungstage zusätzliche Finanzmittel ins System zu bringen;

- eine inadäquat kurze Behandlungsdauer vermieden wird, weil die dann evtl. kurzfristig erneut notwendige Behandlung zwar geleistet werden muss, aber nicht zusätzlich bezahlt wird;

- präventive und rehabilitative Maßnahmen ökonomisch interessant werden.

Voraussetzung für die Durchführung dieser Modellprojekte ist die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen allen Krankenkassen und allen Leistungserbringern einer Region. Es muss die gemeinsame Überzeugung gegeben sein, dass die langfristige Ergebnisqualität als Kriterium für die Ressourcenbemessung besser geeignet ist als die bisher üblichen Leistungsparameter.


Fazit: Regionale und soziale Verantwortung

Im Rahmen der Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für die Psychiatrie und Psychotherapie kommt dem Prinzip der regionalen Verantwortung eine noch wichtigere Rolle als bisher zu. Nur durch dieses Prinzip kann eine Umsteuerung zu einer verstärkt ambulanten und die Teilhabe am Leben unterstützenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung erreicht werden. Regionale Verantwortung bedeutet auch, dass in der Region und im Lebensumfeld der Patienten alle präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen bereitgestellt werden und verfügbar sein müssen, die dort für eine qualitätsorientierte Versorgung der gesamten Bevölkerung benötigt werden. Nur auf diese Weise kann es gelingen, den sozialen Kontext zu berücksichtigen und in gleicher Weise im Sinne einer gemeindenahen und sozialen Psychiatrie auch zu nutzen.

Die wesentlichen Prinzipien eines Systems der regionalen Verantwortung sind ein integratives und kooperatives regionales Finanzierungssystem, gezielte Anreize zur Überwindung sektoraler Begrenzung und Kriterien für eine mittel- und langfristig zu beurteilende Struktur- und Ergebnisqualität. Durch die bisher durchgeführten Modellprojekte eines regionalen Psychiatrie-Budgets konnte eine Annäherung an dieses Ziel erreicht werden. Der hier skizzierte Paradigmenwechsel hat zur Folge, dass nicht mehr Behandlung mehr finanzielle Mittel in das System bringt, sondern dass durch verantwortlichen und regional abgestimmten Einsatz der vorhandenen Ressourcen verbesserte Möglichkeiten geschaffen werden, Gesundheit in der Region zu schaffen.


Prof. Dr. Arno Deister, Klinikum Itzehoe, PD Dr. Martin Heinze, Immanuel-Klinik Rüdersdorf, Dr. Christian Kieser, Ernst von Bergmann-Klinikum Potsdam, Dr. Bettina Wilms, Südharz-Krankenhaus Nordhausen, für das Netzwerk "Steuerungs- und Anreizsysteme für eine moderne psychiatrische Versorgung"


*


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201103/h11034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


*


Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt März 2011
64. Jahrgang, Seite 64 - 69
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de

Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2011