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RECHT/047: Fixierung von Patienten in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 162 - Heft 04/18, 2018
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Fixierung von Patienten in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung
Was bedeutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes für die psychiatrische Theorie und Praxis?

Von Uwe Gonther


Parallel zur Bekanntgabe des Urteils des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts (1) zum Thema Fixierung veröffentlichte die DGPPN die S3-Leitlinie »Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen« (2). Dies führt dazu, dass das Thema Umgang mit Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie in diesem Sommer noch aktueller war als sonst. Gemeinsam ist den beiden ausführlichen Texten (das Bundesverfassungsgerichtsurteil umfasst 41 Seiten, die Leitlinie 305 Seiten) die Grundhaltung, dass Fixierungen in der Psychiatrie eine tiefgreifende Beeinträchtigung der Freiheitsrechte der betroffenen Personen darstellen.

Die Einschätzung des Bundesverbands der Psychiatrieerfahrenen (BPE) geht dahin, dass Fixierungen als Folter anzusehen sind, die nicht gerechtfertigt werden kann durch psychiatrische Diagnostik und Therapieplanung und entsprechende Dokumentation. So zeigte sich aufseiten der Betroffenen neben der grundsätzlichen Befürwortung der Ausrichtung des Urteils Enttäuschung, weil kein grundsätzliches Verbot der Fixierungen erging. Auch trägt der BPE die Leitlinie zum Thema nicht mit. Dies liegt vermutlich an der Einschätzung sowohl der DGPPN als auch des Gerichts, dass auch schwerwiegende Grundrechtseingriffe wie Fixierungen vom Gesetzgeber prinzipiell zugelassen werden können, wenn strenge Anforderungen an die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs eingehalten werden. Auf geradezu salomonische Weise gibt also das Gericht den Beschwerdeführern - Betroffenen aus Baden-Württemberg und Bayern -, die jeweils nach eigener Auffassung zu Unrecht fixiert worden sind, recht und sagt gleichzeitig, dass unter bestimmten Bedingungen auch im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention Fixierungen in der Psychiatrie angemessen sein können. Dies wird insbesondere auf Seite 24 der Urteilsbegründung ausgeführt, indem die staatlichen Schutzpflichten als Begründung für derartige Maßnahmen wie Zwangsunterbringung oder auch Fixierung herangezogen werden: »Die Fixierung eines Untergebrachten kann nach diesen Maßstäben zur Abwendung einer drohenden, gewichtigen Gesundheitsschädigung sowohl des Betroffenen als auch anderer Personen wie des Ppersonals oder der Ärzte gerechtfertigt sein.« (S. 25, II 1. c)

Richtervorbehalt

Vermutlich werden die weiteren Darstellungen im Urteil zu einer veränderten Umgehensweise mit Fixierungen im Alltag vieler Kliniken führen, denn um diesem Konflikt angemessen gerecht zu werden, schreibt das Bundesverfassungsgericht ab sofort den Richtervorbehalt für Fixierungen, welche länger als eine halbe Stunde dauern, verbindlich vor. Konkret benannt wird auch der Zeitraum, in dem Richter über einen Notdienst erreichbar sein müssen, nämlich von 6 Uhr früh bis 21 Uhr abends an sieben Tagen die Woche. Außerdem, wird auf Seite 27 erläutert, dass während der Durchführung einer Fixierung grundsätzlich eine Eins-zu-eins-Betreuung durch therapeutisches oder pflegerisches Personal zu gewährleisten ist (S. 27, II 4. b). Des Weiteren wird die Bedeutung der Dokumentation hervorgehoben und eine verbesserungsorientierte, systematische Qualitätskontrolle und Evaluation gefordert. Ferner bezieht sich das Gericht in seiner weiteren Erklärung ausdrücklich auf die Vereinbarkeit mit der UN-Behindertenrechtskonvention und auf die UN-Sonderberichterstattung über Folter durch Juan E. Mendéz vom 13. Mai 2015, demzufolge auch nur jede kurzfristige Fixierung bei Menschen mit psychischen Behinderungen als Folter und Misshandlung angesehen werden kann. Dazu das Gericht: »Seine (Mendéz') Äußerungen haben zwar erhebliches Gewicht, sie sind jedoch weder für internationale noch für nationale Gerichte verbindlich.« (S. 30, II 5. b)

Praxisbezug

Was folgt nun aus diesen grundsätzlichen Regelungen für unsere klinische Praxis? In Bremen gibt es seitens des Psychiatriereferats eine Anweisung, ab sofort gemäß diesem Urteil die richterliche Einwilligung beim Amtsgericht zu beantragen. Dafür nutzen die Kliniken Meldeformulare per Telefax. Da im Land Bremen bereits seit etwa einem Jahr alle Fixierungen in der Psychiatrie dem Psychiatriereferenten schriftlich gemeldet werden, erfordert die neue Situation keine große Umstellung.

In unserer Klinik mit dem Pflichtversorgungsauftrag für drogenassoziierte Störungen haben wir viel zu tun mit psychischen Ausnahmezuständen im Zusammenhang mit polyvalentem Substanzkonsum, insbesondere auch illegaler Substanzen. Eine herausragende Rolle spielt hier die gesteigerte Aggressivität unter Kokain. Derartig aufgeputschte Personen werden auch im geduldigen Eins-zu-eins-Kontakt während der akuten Phase ihres Rauschzustandes häufig nicht ruhiger. Neben dem speziellen Problem der Intoxikation mit Kokain oder ähnlich wirkenden synthetischen Substanzen scheint mir ein besonderes Problem im klinischen Alltag der fehlende sprachliche Zugang zu einigen Betroffenen zu sein. Trotz der bewusst multilingualen Ausrichtung unserer Behandlungsteams kommt es wiederholt zu Aufnahmen von aggressiven Patienten (entsprechende Patientinnen sind zumindest in unserer Klinik extrem selten), die sprachlich nicht zu erreichen sind. In solchen Fällen helfen mit erheblicher Verzögerung herbeigeschaffte Dolmetscherinnen und Dolmetscher auch nicht immer weiter, weil es gerade auch mit aggressiven Patienten nicht nur um einzelne Therapiegespräche, sondern um eine Verständigung im stationären Alltag geht. Manchmal lässt sich eine Eskalation schon im Vorfeld vermeiden, wenn eine Art von Verständigung entsteht, für die Sprache mindestens erleichternd sein kann. Das bewusste Suchen nach einer gemeinsamen Sprache oder einer Einigung durch Gebärden kann dabei sogar günstiger sein als eine deutliche verbale Übermacht durch das Behandlungsteam. Ganz ohne gemeinsame Wörter ist es jedoch extrem schwer, eine Vertrauensbasis für eine Behandlung oder auch nur diagnostische Einschätzung herzustellen.

Gewalt als Folge der Krankheit?

Grundsätzlich haben wir es in der Psychiatrie mit der Frage zu tun, welche Art von Gewalt tatsächlich krankheitsbedingt auftritt und durch eine ärztlich geleitete Behandlung mit Gesprächen, Medikamenten und sonstigen Anwendungen tatsächlich reduziert werden kann. Kurz-, mittel- und langfristige Effekte können dabei durchaus pro Methode voneinander abweichen. Gerade im Zusammenhang mit Gewalt spielen persönliche Faktoren auf beiden Seiten eine große Rolle. Schon vor Monaten haben wir uns deshalb für ein kommunikatives Gesamtkonzept zur Prävention von Zwang und Gewalt nach dem Vorbild von »Safewards« entschlossen und befinden uns in der Phase der Schulung und praktischen Einführung. Auch bei »Safewards« handelt es sich nicht um ein Programm zur vollständigen Eliminierung von Gewalt aus der Psychiatrie. Vielmehr zeigen die Ergebnisse von Bowers aus dem Jahr 2014 (3) in Großbritannien eine moderate Reduktion von Gewalt durch die Verbesserung der Aufmerksamkeit und der Kommunikation gerade auf psychiatrischen Akutstationen. Im echten Leben begegnen uns in der Gewalttätigkeit derjenigen, die als Patienten z.B. durch die Polizei nach einer Konfliktsituation hier vorgeführt werden, oftmals Mischungsverhältnisse aus Kriminalität, Dissozialität und krankheitsmitbedingten aggressiven Verhaltensweisen. Es ist ja nicht so, dass Menschen, die gewalttätig werden, entweder reine Kriminelle oder bloße Opfer ihrer wie auch immer gearteten psychischen Krankheit wären. Gewalttätiges Verhalten entsteht in der Regel in zwischenmenschlichen Konfliktsituationen. Diejenigen, die Gewalt ausüben, haben in aller Regel selbst Gewalt erfahren. Zum Teil aus Gewohnheit, zum Teil aus Bequemlichkeit, zum Teil im Sinne einer Notwehr oder eines Nicht-anders-Könnens handeln Menschen bei Meinungsverschiedenheiten mit anderen Menschen gewalttätig. Ob derartige Gewaltdelikte in der Gesellschaft insgesamt zunehmen, ist umstritten. Zumindest stellt Gewalttätigkeit im Rahmen von Erregungszuständen bei psychischen Krankheiten ein Problem dar, mit dem wir uns in der Psychiatrie auseinandersetzen müssen. Dabei spielen die Übergänge zwischen den Systemen Justiz, Polizei, Klinik ebenso eine Rolle wie Schnittstellenprobleme zwischen unterschiedlichen ambulanten und stationären Leistungserbringern im Rahmen längerfristiger Behandlungen. Die Rechtskonstruktion des »psychisch Kranken« findet sich auch in der Begründung des Bundesverfassungsgerichtsurteils wieder (S. 25 u. S. 31). Dies sehe ich kritisch, denn Menschen mit psychischen Krankheiten und Krisenerfahrungen sind nicht als eine Kategorie der »psychisch Kranken« zu verstehen, sondern in ihrer jeweiligen Individualität. Die Erklärungskraft von psychiatrischen Diagnosen im Zusammenhang mit gewalttätigem Verhalten ist jedoch sehr begrenzt.

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es dazu: »Als besondere Sicherungsmaßnahme zur Abwehr einer sich aus der Grunderkrankung ergebenden Selbst- oder Fremdgefährdung muss die Fixierung mit der in der Unterbringung stattfindenden psychiatrischen Behandlung der Grunderkrankung in engem Zusammenhang stehen. Ihre Erforderlichkeit ist auch unter Berücksichtigung der psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen - etwa der Erfolgsaussichten eines Gesprächs oder einer Medikation - zu beurteilen sowie in jeweils kurzen Abständen neu einzuschätzen.« (S. 27, II 4. b) Nun wissen wir alle, dass von einem kausalen Zusammenhang zwischen Krankheit und Gewalttätigkeit im Sinne einer Alleinverursachung nicht die Rede sein kann. In der jeweiligen Mischung der handlungsmitbestimmenden Faktoren und Motive können die sogenannten psychischen Krankheiten eine Rolle spielen. Dabei sind Angstzustände, Psychosen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Demenzen und Intoxikationen höchst unterschiedliche Phänomene, welche allesamt nicht unmittelbar zu bestimmten Aggressionsaktionen führen. Vorhersagen zur Behandelbarkeit der zugrunde liegenden Krankheiten sind im Einzelfall sehr unsicher.

Möglicherweise befinden wir uns mit der Pathologisierung von kriminellen Verhaltensweisen auf dem Holzweg. Das Urteil des Verfassungsgerichts kann die hier angedeuteten grundsätzlichen Probleme selbstverständlich nicht alle lösen, gleichwohl weist es deutlich in Richtung einer gewaltarmen und menschenfreundlichen Psychiatrie und ist als solches sehr zu begrüßen.


Prof. Dr. med. Uwe Gonther
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums Dr. Heines Bremen


Anmerkungen

(1) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2018 - Aktenzeichen 2 BvR 309/15 und 2 BvR 502/16;
www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/07/rs20180724_2bvr030915.html
(letzter Zugriff: 13.08.2018)

(2) Siehe: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) Reg. Nr. 038022;
www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-022.html
(letzter Zugriff: 13.08.2018)

(3) BOWERS, L. (2014) Safewards: a new model of conflict and containment on psychiatric wards. J Psychiatr Ment Health Nurs, 21(6), 499-508

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 162 - Heft 4/18, Juli 2018, Seite 35 - 36
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2019

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