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STANDPUNKT/005: Psychiatrie unter Zwang - Rechte psychisch erkrankter Menschen durchsetzen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychiatrie unter Zwang
Rechte psychisch erkrankter Menschen durchsetzen

Von Patrizia di Tolla


Mit der UN-Behindertenrechtskonvention haben das Thema der Rechte von psychisch erkrankten Menschen und dabei besonders die Frage der Legitimation von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie eine breite Diskussion ausgelöst. Dies war Anlass, bei der Überarbeitung der »Denkanstöße« der DGSP einen speziellen »Denkanstoß Rechte« zu formulieren, auf dem dieser Beitrag basiert. Mit der Veröffentlichung möchten wir die Debatte um dieses Thema fortsetzen.


Psychisch erkrankte Menschen können vielfach ihre Rechte - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - bis heute nicht wirklich nachhaltig durchsetzen. Dies ist seit vielen Jahren eines der zentralen Themen in der Psychiatrie. Es betrifft insbesondere die Rechte und den Rechtsschutz bei Zwangsunterbringung, Zwangsbehandlung und -medikation sowie bei weiteren freiheitsbeschränkenden Maßnahmen wie z. B. Fixierungen. Dabei existieren bereits zahlreiche Gesetze, die eine Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung festlegen. Neben Art. 3 des Grundgesetzes stellt die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) klare Anforderungen an die Einhaltung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dies hat inzwischen dazu geführt, dass in vielen Bundesländern die Psychiatriegesetze zur Regelung von Zwangseinweisung und Zwangsmaßnahmen geändert wurden bzw. zum Teil zur Änderung anstehen (1).

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Die UN-BRK wurde in einem langwierigen Prozess von gleichberechtigten Partnern unter Mitwirkung von Fachexperten, psychiatriebetroffenen und behinderten Menschen, Experten aus eigener Erfahrung und Politikvertretern erarbeitet. Seit dem 26. März 2009 ist sie in Deutschland geltendes Recht - im Range eines Bundesgesetzes. Demzufolge sind der Bund und die Länder verpflichtet, in ihrer Gesetzgebung und ihren Handlungsbereichen die UN-BRK einzuhalten und den darin formulierten Festlegungen konkrete rechtliche Gestalt zu geben. Die Grundsätze der UN-BRK zielen darauf ab, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte wahrnehmen können wie Menschen ohne Behinderung. Das bedeutet weiter, dass der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung bzw. einer anderen Behandlung, als sie Menschen ohne Behinderung erfahren, rechtlich vorzubeugen ist und es keine diskriminierenden Sondergesetze für Menschen mit Behinderungen geben darf.

Auswirkungen der UN-BRK

Im Zuge der Verabschiedung der UN-BRK und in Folge der Entscheidungen des BVerfG zur Geltung der Selbstbestimmung hinsichtlich der Behandlung auch bei einer Unterbringung nach PsychKG oder im Maßregelvollzug mussten die Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKGs), die in die Zuständigkeit der Länder fallen, überprüft und dementsprechend geändert werden.

Im April 2015 fand zum ersten Mal mit Blick auf Deutschland eine Anhörung und Überprüfung der Einhaltung der UN-BRK durch den UN-Ausschuss »Committee on the Rights of Persons with Disabilities« statt. Dabei wurde die Bundesrepublik Deutschland in den abschließenden Bemerkungen »Concluding observations on the initial report of Germany« (2) insbesondere in den Bereichen »Zwangseinweisung« und »Zwangsmaßnahmen« stark kritisiert: Die Rechte von »Menschen mit psychischen Erkrankungen«, die in der UN-BRK als »Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen« bezeichnet werden, werden nach Ansicht des UN-BRK-Ausschusses im Rahmen der bundesdeutschen Gesetze und speziell in der Praxis der Zwangseinweisung und Zwangsmaßnahmen nicht eingehalten. Die Praxis der Zwangsmedikation und der Fixierung wurde vom Ausschuss sogar als »Folter« bezeichnet. Der Ausschuss schlug deshalb in seinem Empfehlungsbericht an Deutschland vor, Zwangseinweisungen und Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum zu reduzieren bzw. ganz abzuschaffen.

Auch die Unterbringung in der forensischen Psychiatrie stand in der Kritik des UN-Ausschusses. Hier wurde insbesondere die Tatsache hervorgehoben, dass die Gesetzgebung Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen anders behandelt als Menschen ohne psychosoziale Beeinträchtigungen.

Weiterhin mangele es trotz des durch die UN-BRK geschaffenen geltenden Rechts in einzelnen Bundesländern nach wie vor an einer konformen Umsetzung der jeweiligen Gesetzgebung zur Hilfe und zum Einsatz von Schutzmaßnahmen bei psychischen Erkrankungen. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedliche Interpretation der betreffenden Artikel der UN-BRK (vor allem Art. 12, 14 und 18) hinzuweisen. Dabei wurde u. a. kritisiert, dass die Artikel teilweise mangelhaft übersetzt und deshalb verfälscht wiedergegeben wurden.

In Deutschland ist inzwischen eine unabhängige Monitoringstelle zur Beobachtung der UN-BRK beim Institut für Menschenrechte in Berlin eingerichtet worden. Nach ihrer Einschätzung besteht bei mehreren Gesetzen eine »Nicht-Konformität« zur UN-BRK.

Die heutige und die zukünftige Psychiatrie müssen daran gemessen werden, inwieweit die Rechte von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eingehalten werden. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt:

  • Wird die Gleichstellung der Menschen mit und ohne psychosoziale Beeinträchtigungen in der Gesetzgebung und in der Praxis vollumfänglich umgesetzt?
  • Welche Diskriminierung erfahren Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen im gesellschaftlichen Leben?
  • Wie weit vorangeschritten ist der Prozess der Inklusion?
Psychiatrie zwischen Kontrolle und Fürsorge

Auch wenn dies gesellschaftlich nicht gern akzeptiert wird, bleibt die Tatsache anzuerkennen, dass »die Psychiatrie« schon immer zwei Funktionen wahrzunehmen hat: die Ordnungsfunktion und die Hilfsfunktion. Damit deckt sie eine Bandbreite zwischen Kontrolle und Fürsorge ab. Ein zentrales Problem in diesem weiten Feld stellen die Zwangsmaßnahmen dar. Eine klinische, stationäre und ambulante Psychiatrie aber, die bei der Ausübung von Zwangsmaßnahmen die Rechte von Menschen mit psychischer Beeinträchtigung nicht beachtet und einhält, ist auch qualitativ keine gute Psychiatrie.

Der Umgang mit Zwang stellt die in der Psychiatrie Beschäftigten in jedem Einzelfall vor eine besondere Herausforderung. Hilfsmaßnahmen sind so zu organisieren und zu gestalten, dass Menschen in akuten Krisen die angemessene individuelle Unterstützung erhalten, und dies (möglichst) ohne Zwangsmaßnahmen, aber auch ohne eigene Gefährdung und ohne die Gefährdung anderer Menschen. Konkret geht es darum, Zwangsmaßnahmen als »ultima ratio« zu betrachten, als »unabwendbares Handeln«. Die Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens sind allgemein bekannt und werden auch in der DGSP intensiv und kontrovers diskutiert. Neben der fachlichen Qualifikation und einer patientenorientierten Haltung bei den handelnden Personen sind strukturelle Rahmenbedingungen wie z. B. extremer Personalmangel bei der kritischen Bewertung von Zwangsmaßnahmen ins Kalkül zu ziehen.

Ein Beispiel für dieses Dilemma ist die Praxis, dass, obwohl in den PsychKGs einiger Bundesländer die Möglichkeit zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen eingeschränkt wurde, ihre Anwendung in »Notfällen« weiterhin möglich ist. Diese Notfallpraxis birgt im UN-BRK-rechtlichen Sinne einen kurzfristigen zeitlichen Spielraum, der medizinisches Handeln priorisieren kann. Das heißt, dass in der Klinik die Definition des akuten Notfalls vom zuständigen und verantwortlichen Arzt mit der Begründung des Vorliegens einer »Gefahrensituation« vorgenommen wird. Eine solche Einschätzung ist immer subjektiv und daher nicht unproblematisch.

Auch die Unterbringung psychisch Erkrankter in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs wurde durch den Ausschuss der UN-BRK beanstandet, weil damit Menschen mit und ohne psychosoziale Beeinträchtigungen durch die Gesetzgebung unterschiedlich behandelt werden. Beispielsweise ist einer Person, die eine Straftat begangen hat und zu Freiheitsentzug in einer Justizvollzugsanstalt verurteilt wurde, die Dauer ihres Aufenthaltes bekannt. Dagegen weiß ein Mensch mit einer psychosozialen Beeinträchtigung und daraus resultierender Gefährlichkeit nicht, wie lange er für die gleiche Tat im Krankenhaus des Maßregelvollzugs untergebracht sein wird.

Forderungen der DGSP

Auf der Grundlage der beschriebenen Situation fordert die DGSP die politisch Verantwortlichen aller Parteien in Bund, Ländern und Kommunen dazu auf, die vielfältig noch bestehenden rechtlichen und faktischen Diskriminierungen psychisch erkrankter Menschen zu beseitigen und das international ausgehandelte Recht der UN-BRK gesetzlich umzusetzen und praktisch einzuhalten.

Das in der psychiatrischen Versorgung tätige Fachpersonal muss so gut ausgebildet, aufgeklärt und laufend fortgebildet werden, dass es in den psychiatrischen Behandlungs-, Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen bei der Unterbringung und der Durchführung von Zwangsmaßnahmen reflektiert und angemessen zu handeln versteht. Die Praxis von Macht- und Gewaltausübung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nicht hinnehmbar.

Wir brauchen eine menschenrechtsbasierte Psychiatrie, die die Etablierung einer Kultur des Verhandelns und der Akzeptanz von Interessen, Wünschen und Bedürfnissen von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen ernst nimmt. Selbsthilfe, Aktivität und Empowerment sind Prämissen, die das professionelle Handeln im Sinne von Menschenwürde, Wertschätzung und Akzeptanz leiten. Eine solche Haltung ist zu fördern und zu unterstützen.

In der stationären wie auch in der ambulanten psychiatrischen Versorgung müssen Organisationsstrukturen und ausreichende Finanzierungskapazitäten geschaffen werden, um die notwendigen Ressourcen an Zeit und Personal vorzuhalten, die es allen ermöglicht, in akuten Krisen angemessen zu handeln.

Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen in Krisen, die Zwangsmaßnahmen erfahren, haben das Recht auf eine Begleitung und Unterstützung, die ihren Wünschen und Bedürfnissen weitestgehend entspricht. Dabei soll die Anwendung von Zwangsmaßnahmen ausbleiben, zumindest jedoch auf ein Minimum reduziert werden.

Es gibt inzwischen zahlreiche Beispiele dafür, wie auch eine stationäre Psychiatrie im Akutfall ganz ohne oder mit nur wenigen und minimalen Zwangsmaßnahmen auskommen kann (z.B. durch offene Stationen, individuelle Begleitung in der Krise, Deeskalationsmaßnahmen).

Jeder öffentlichen Darstellung, die eine Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen bedeutet oder eine solche unterstützt, muss Einhalt geboten werden. Es braucht ein umfassendes Diskriminierungsverbot und dessen Durchsetzung.

Die Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte sollte als kompetente Instanz zur Feststellung der Verletzung von Rechten von Menschen mit Behinderungen anerkannt werden.

Auch Menschen, die zusätzlich zu ihrer psychischen Erkrankung mit sozialen Problemen belastet sind oder ein spezielles Schutzbedürfnis haben, wie z.B. Geflüchtete, brauchen eine aufmerksame und adäquate Unterstützung, für die die entsprechenden Ressourcen bereitgestellt werden müssen.

Aktivitäten der DGSP

Die DGSP weist durch Stellungnahmen und bei Anhörungen auf die immer noch bestehende rechtliche und faktische Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen hin. Sie thematisiert auf Tagungen und bei Fortbildungen die unzureichende rechtliche Gleichbehandlung und die fehlende Umsetzung bestehender Rechte und des internationalen Rechts.

Die DGSP war mit 80 anderen Verbänden des Behindertenbereiches an der Erstellung eines Parallelberichtes (»Schattenbericht«) für den Ausschuss der UN-BRK beteiligt (3) und nimmt an den Anhörungen des UN-BRK-Fachausschusses in Genf teil. Dies geschieht bereits im Blick darauf, dass im Jahr 2019 erneut eine Überprüfung Deutschlands hinsichtlich der Umsetzung der UN-BRK ansteht.

Es gilt, die Betroffenen zu ermutigen, zu beraten und im Einzelfall bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen, wenn diese selbst dazu nicht in der Lage sind.

Schließlich ist auch gegen die subtile Duldung von rechtlichen Diskriminierungen psychisch erkrankter Menschen - auch und gerade im Kreis von psychiatrisch Tätigen - ein entschiedenes und solidarisches Vorgehen notwendig. Die DGSP versteht sich als Plattform für all diejenigen, die sich diesem Anspruch verpflichtet fühlen.


Patrizia Di Tolla, Diplom-Psychologin, Regionalleiterin der psychosozialen Dienste beim Unionhilfswerk Sozialeinrichtungen gemeinnützige GmbH in Berlin, Vertreterin der DGSP im Bereich »Umsetzung der UN-BRK« der Monitoringstelle UN-BRK am Deutschen Institut für Menschenrechte


Hinweis

Der vorliegende Beitrag basiert auf dem »Denkanstoß Rechte« der DGSP. Die überarbeitete und erweiterte Fassung der »Denkanstöße« kann von der Homepage der DGSP heruntergeladen oder über die Geschäftsstelle als Broschüre bezogen werden.


Anmerkungen

(1) Unter anderem ist 2011 ein höchstrichterliches Urteil zur Praxis der Zwangsbehandlung ergangen:
www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2011/10/rs20111012_2bvr063311.html

(2) www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/staatenpruefung/abschliessende-bemerkungen

(3) www.brk-allianz.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, Juli 2017, Seite 4 - 6
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.dgsp-ev.de
 
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Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2017

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