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ARTIKEL/388: Geschichte - Die Versorgung Geisteskranker als humanitäre Aufgabe (Forschung Frankfurt)


Johann Wolfgang Goethe-Universität - Mittwoch, 22. April 2009

Die Versorgung Geisteskranker als humanitäre Aufgabe

Heinrich Hoffmann und das Frankfurter "Irrenschloß"


FRANKFURT. In seiner Autobiografie bezeichnete Heinrich Hoffmann das Jahr 1851 als das bedeutungsvollste "in dieser Zeit meines Lebens": Knapp 20 Jahre, nachdem er sein Medizinstudium beendet und sechs Jahre, nachdem er durch die Publikation des "Struwwelpeter" (1844/1845) bereits literarischen Ruhm erlangt hatte, entdeckte er seine Berufung zum "Irrenarzt". Sich für eine humane Behandlung und Unterbringung der Kranken einzusetzen, war ihm zeit seines Lebens wichtiger als die literarischen Erfolge.

In seinen Lebenserinnerungen gestand Heinrich Hoffmann, er sei Arzt geworden, "obgleich ich zu diesem oder auch einem anderen Beruf keine besonders sich aussprechende Neigung verraten hatte. Mein Vater hatte klugerweise seinen Plan zu meinem Wunsch gemacht." Am "Theatrum anatomicum" der Dr. Senckenbergischen Stiftung beschäftigte er sich zunächst mit "anatomischen Vorstudien" (Vorlesungen, Demonstrationen, eigenes Präparieren). 1829 nahm er sein Medizinstudium in Heidelberg auf und wechselte später nach Halle. Beide Universitäten gehörten damals zu den modernsten in Deutschland. 1833 promovierte er in Halle und verbrachte anschließend zehn Monate in Paris, der Stadt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts europaweit führend in der klinischen Medizin war. 1834 nach Frankfurt zurückgekehrt, engagierte sich Hoffmann an der kurz zuvor gegründeten Armenklinik. Sieben Ärzte übernahmen dort abwechselnd den ambulanten Dienst und betreuten arme Patienten auch in den Dörfern der Umgebung, so Hoffmann in Bornheim. Aber vor allem eröffnete er in zwei Räumen eines Gasthofes eine eigene Praxis als Arzt und Geburtshelfer. Außerdem übernahm er die ärztliche Überwachung des neuen Leichenhauses in Sachsenhausen. Und von 1844 bis 1851 lehrte er zusätzlich Anatomie bei der Dr. Senckenbergischen Stiftung.

Als Heinrich Hoffmann sich 1851 als erster hauptamtlich bestellter Arzt für die Leitung der Frankfurter "Irrenanstalt" bewarb, hatte er sie noch nie betreten: "Aber ich glaube, daß ich an die rechte Stelle kam." Das Berufsbild des Psychiaters war in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht fest umrissen, und es gab noch keine fachärztliche Weiterbildungsordnung. Insofern ist Hoffmanns steile psychiatrische Karriere für seine Zeit nicht allzu ungewöhnlich. Er holte das Versäumte nach, indem er in mehreren Jahren seinen Urlaub als "Belehrungsreise" verbrachte und so die europäische Anstaltspsychiatrie um die Mitte des 19. Jahrhunderts kennenlernte.

Die Frankfurter "Anstalt für Irre und Epileptische" hatte im Jahr 1851 bereits eine lange Geschichte. Als "Tollhaus" gab es dieses Hospital seit Ende des 16. Jahrhunderts. Ab 1780 hieß es "Kastenhospital", da es vom "Allgemeinen Almosenkasten" der Stadt Frankfurt unterhalten wurde. In den Jahren 1776 bis 1785 wurde es abgerissen, neu gebaut und erweitert. Es konnte nun etwa fünfzig Patienten aufnehmen, doppelt so viele wie vorher das Tollhaus. Das barocke Gebäude lag mitten in der Stadt in der Kastenhospitalgasse (heute: Börsenstraße und Parkhaus Börse). 1819 wurde die "Anstalt für Epileptische" seitlich an das Kastenhospital angebaut. Epileptiker boten früher, als es noch keine wirksamen Medikamente gab, im Spätstadium eine Vielfalt nicht nur an neurologischen, sondern auch psychiatrischen Symptomen. 1833 wurden das Kastenhospital und die Anstalt für Epileptische vereinigt. In Hoffmanns anfängliche Begeisterung mischten sich bald kritische Töne über den "ganz trostlosem Zustand" der Anstalt. "Ich hatte die Stelle nur unter der Voraussetzung [...] angenommen, dass man alles aufbieten werde, an die Stelle der alten, ganz ungeeigneten Anstalt in der Stadt in enger Straße eine neue umfangreiche, mit Gärten und Feld umgebene Anstalt in freier Lage vor der Stadt zu erbauen." Anregungen dazu holte er sich auf seinen Reisen zu anderen Anstalten, zum Teil zusammen mit dem Architekten Oskar Pichler.

Mit viel Fantasie warb Hoffmann bei seinen Mitbürgern um Verständnis für den notwendigen Neubau. In Aufrufen, Flugblättern, Zeitungsartikeln, Geldsammelaktionen, Versammlungen und anderen "Bürgerinitiativen" versuchte er, "die öffentliche Meinung zu gewinnen". Dabei stellte er immer wieder die Versorgung Geisteskranker als eine wichtige humanitäre Aufgabe dar. Seine Rolle als Psychiater beschrieb er einmal so: "Es muß vor allem so sein, dass der Eintritt des Arztes in eine Abteilung etwas vom Sonnenaufgang an sich habe." 1859 ging sein Wunsch, eine neue, moderne Heil- und Pflegeanstalt zu bauen, schließlich in Erfüllung - nicht zuletzt dank einer großzügigen Spende von 100 000 Gulden durch Ludwig Friedrich Wilhelm Freiherr von Wiesenhütten. Der Spender verknüpfte seine Gabe mit der Bedingung, "dass von der neuen Anstalt alle in der Stadt verbürgerten armen Irren ohne Unterschied des Glaubens unentgeltlich verpflegt werden können [...]".

1864 wurde der neugotische Bau mit 101 Patienten bezogen. Der Volksmund sprach angesichts der großzügigen, weitläufigen Anlage vom "Irrenschloß". Die neue Anstalt vor den Toren der Stadt, dennoch stadtnah gelegen, hatte eine "Weiberseite" und eine "Männerseite". Die Ruhigen, die Unruhigen, die Blödsinnigen, die Epileptischen und die Tobsüchtigen hatten getrennte Abteilungen und jeweils dazugehörige Gärten. Ein großes Problem in psychiatrischen Anstalten war Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die rapide Zunahme der Zahl von psychisch Kranken, was eine Überfüllung der Anstalten zur Folge hatte. Um 1900 wurden hier zeitweise 500 bis 1000 Patienten behandelt. Heinrich Hoffmann schrieb dazu 1883: "Ich bin der Ansicht geworden, dass die nervösen Krankheiten und besonders die als Psychosen bezeichneten Hirnstörungen in den letzten Dezennien ganz bedeutend zugenommen haben und noch zunehmen werden. [...] Die Menschheit der Gegenwart ist eine vorzugsweise nervöse geworden [...]. Es dürfte dies niemanden verwundern, denn wenn man jetzt das Gehirn von früher Jugend an weit mehr anstrengt und weit mehr Gehirnarbeit verlangt als vor 30 bis 40 Jahren, so ist es folgerecht, dass mit dem Gebrauch der Missbrauch, mit der Ermüdung die Übermüdung und so die Erkrankung des Gehirns häufiger vorkommen muss [...]".

Das Gebäude war ab 1914, dem Gründungsjahr der Frankfurter Universität, unter Hoffmanns Nachfolger Emil Sioli und seit 1920 unter Karl Kleist die erste Frankfurter Universitäts-Nervenklinik. Assistenten von Sioli waren Alois Alzheimer und Franz Nissl, denen hier bahnbrechende Entdeckungen zur Histopathologie des Gehirns gelangen. Nach dem Bau einer größeren Anstalt in Niederrad am Rande des Universitätsklinikums wurde das Gebäude 1929/1930 abgerissen. Der expressionistische Architekt Hans Poelzig errichtete auf dem frei gewordenen Gelände die Konzernzentrale der IG Farben. Dieses geschichtsträchtige Gebäude wird heute von der Goethe-Universität genutzt.

Informationen:
Professor Helmut Siefert
E-Mail: sieferthelmut@aol.com.

Soeben erschienen:
Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt 1/2009,
im Internet: www.muk.uni-frankfurt.de/Publikationen/FFFM/2009/index.html

Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt am Main. 1914 von Frankfurter Bürgern gegründet, ist sie heute eine der zehn größten Universitäten Deutschlands. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Rund um das historische Poelzig-Ensemble im Frankfurter Westend entsteht derzeit für rund 600 Millionen Euro der schönste Campus Deutschlands. Mit über 50 seit 2000 eingeworbenen Stiftungs- und Stiftungsgastprofessuren nimmt die Goethe-Universität den deutschen Spitzenplatz ein. In drei Forschungsrankings des CHE in Folge und in der Exzellenzinitiative zeigte sie sich als eine der forschungsstärksten Hochschulen.

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Quelle:
Pressemitteigung Nr. 72 - vom 22. April 2009
Herausgeber:
Der Präsident der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Abteilung Marketing und Kommunikation,
Postfach 11 19 32, 60054 Frankfurt am Main
Redaktion: Dr. Anne Hardy, Referentin für Wissenschaftskommunikation
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Internet: www.uni-frankfurt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2009

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