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ARTIKEL/394: Psychotherapeuten und Historiker diskutierten über die Deutsche Wiedervereinigung (DGPM)


Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)
Landesverband Mecklenburg-Vorpommern - Mittwoch, 7. Juli 2010

Psychotherapeuten und Historiker zur Deutschen Wiedervereinigung:
Verständnis für unterschiedliche Lebenshintergründe ist essenziell


SCHWERIN - Ist die Wiedervereinigung mit bleibendem Stolz und Selbstbewusstsein verbunden? Dieser Frage widmete sich ein Symposium am Samstag, den 26. Juni 2010 in Schwerin mit etwa 100 überwiegend psychotherapeutisch tätigen Teilnehmern. Der Blickwinkel der Redebeiträge und nachfolgenden lebhaften Diskussion war zum einen ein historisch-gesellschaftskritischer, zum anderen die Sicht psychotherapeutisch Tätiger, die wissen, dass Heilung und Zusammenwachsen angesichts der so unterschiedlichen Lebensgeschichten und Lebenswirklichkeiten von Ost- und Westdeutschen nur erfolgen können, wenn diese geduldig um gegenseitiges Verständnis ringen.

Wenn Historiker und Psychotherapeuten aufeinander treffen, um über die Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung zu sprechen, dann wenden sie sich mit zielgerichteter Professionalität jenen Fragen und Widersprüchen zu, die nach der schnell - manche meinen zu schnell - vollzogenen deutschen Einheit vor 20 Jahren unaufgelöst blieben und großteils unbewusst weitergären. Gleichwohl überraschend ist, wie unvermittelt alleine das offene Sprechen über das Ungelöste belebend wirkt und wie viele bisher unbeachtete Perspektiven das zutage bringt - wenn zunächst auch nur vorläufig und in Form neuer Fragen formulierbar.

Bereits im zweiten Jahr in Folge initiierte Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, HELIOS Kliniken Schwerin eine solche Gesprächsrunde und führte damit als Kultur des gemeinsamen Nachdenkens über das Zusammenleben im vereinten Deutschland weiter, was er vor einem Jahr angestoßen hatte, damals anhand der Frage, warum die DDR-Vergangenheit so wenig Thema sei. Auch dieses Mal wieder ermöglichte das Symposium ein vorsichtiges, gedankliches Herantasten an neue Wege des Miteinanders zwischen Ost- und Westdeutschen.

Patientenodyssee zwischen Ost und West

"Das gemeinsame und ehrliche Bemühen um gegenseitiges Verständnis des jeweils anderen Lebenshintergrunds ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen eines wirklichen Miteinanders auf selber Augenhöhe und letztlich des Zusammenwachsens von Ost und West", sieht Buhrmann als eines der wichtigsten Resümees des Symposiums. Diese Erkenntnis könne wie in einem Spiegel der gesellschaftlichen Realität auch im psychotherapeutischen Prozess klar hervortreten. So berichtete Dr. Wilhelm Preuß, Sexualforscher am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf über die tragische Geschichte eines vor der Wende in den Westen ausgereisten Mannes. Dessen Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung entpuppte sich erst nach langjähriger Psychotherapie als Versuch, seine als traumatisch erlebte DDR-Vergangenheit und -Identität endgültig hinter sich zu lassen. Gleich nachdem diesem Wunsch stattgegeben worden war, bereute er die Entscheidung und ergriff nach Öffnung der Grenzen die Gelegenheit, wieder mit seiner alten Identität als Mann in seine Heimat zurückzukehren. Die Therapie bei diesem Patienten konnte Preuss zufolge nach 13-jähriger Odyssee erst dadurch zu einem guten Ende geführt werden, dass in jahrelangem gemeinsamem Ringen ein gegenseitiges Verständnis und Wissen um die jeweils sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründe von ostdeutschem Patienten und westdeutschem Therapeuten erarbeitet wurde.

Flucht in den Erfolg verhindert das Ankommen

Dass auch Brüche in der Biografie vor dem Hintergrund der massiv veränderten gesellschaftlichen Realität der "neuen Bundesländer", letztlich den Durchbruch zu einer tief greifenden Selbstbesinnung, Neuorientierung und letztlich einer gelungenen Lebensgestaltung bahnen können, bestätigte eine Fallgeschichte, die Prof. Dr. Jörg Frommer, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Magdeburg, vorstellte. Frommer berichtete von einem Ostdeutschen, der sich zunächst scheinbar perfekt an die wirtschaftlichen Gegebenheiten nach der Wende anpasste und großen Erfolg als international aktiver Geschäftsmann verbuchte. Nach einiger Zeit folgte eine Phase des beruflichen Scheiterns, des finanziellen Ruins, des Verlusts sozialer Kontakte, der Beziehungskrise und Depression, was den Patienten schließlich dazu veranlasste, sich in Psychotherapie zu begeben. Erst dadurch konnte allmählich ein Prozess der Verarbeitung und des wirklichen Ankommens in der neuen gesellschaftlichen Realität angestoßen werden. Einer solchen schmerzhaft irritierenden aber zugleich heilsamen und Identitäts-stiftenden Auseinandersetzung hatte sich der Patient zu seiner "erfolgreichen" Zeit durch oberflächliche Anpassung an jene globalisierte, hektische und menschlich unverbindliche Geschäftswelt entzogen, die ihm letztlich sehr fremd geblieben war.

Eine andere, häufig beobachtete Reaktion auf die existenzielle Verunsicherung, die die Wende für viele Ostdeutsche bedeutete, ist Frommer zufolge die Verbitterung. Nicht selten trete diese in ähnlicher Weise in Erscheinung wie eine posttraumatische Belastungsstörung, wie sie etwa bei Menschen auftreten können, die Krieg oder Katastrophen erlebt haben. Manche Psychotherapeuten sprechen dem entsprechend sogar von einer posttraumatischen Verbitterungsstörung.

Missverständnisse im Einigungsprozess angelegt

Fundamentale Probleme und tief sitzende Missverständnisse zwischen West- und Ostdeutschen seien, so der Historiker Prof. Andreas Rödder, Mainz, bereits im Einigungsprozess selbst angelegt. Rödder sprach von einem "vielfach gespaltenen kollektiven Gedächtnis der deutschen Wiedervereinigung" die das Verhältnis zwischen Ost und West, aber auch innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft, bis heute belasten. Zu dieser Entwicklung hätten vor allem die unterschiedlichen Haltungen beigetragen, mit denen Ost- und Westdeutsche in den Einigungsprozess gegangen seien. "Für die Westdeutschen im Vollgefühl der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte war die Ordnung der Bundesrepublik das Maß der Dinge", erklärte Rödder. Mit diesem Überlegenheitsgefühl sei eine Blindheit gegenüber den kulturellen Eigenheiten und Prägungen der Ostdeutschen einhergegangen. Für die Ostdeutschen wiederum bedeutete die Wende ein Modernisierungsschock. "Die gesamten Lebensumstände der Menschen wurden erschüttert, bisherige Sicherheiten gingen verloren und das bislang Gültige - ob gut oder schlecht - verlor seinen Wert", führte Rödder aus.

Übersteigerte Erwartungen an die neue Gesellschaftsordnung seien oft gepaart gewesen mit einem tief sitzenden und historisch bis in die Nachkriegszeit zurückreichenden Gefühl der Benachteiligung. Das alles habe vermutlich dazu beigetragen, dass Ostdeutsche heute nicht ungebrochen stolz und selbstbewusst sein können, angesichts des zweifellos mutigen und historisch herausragenden Beweises von Zivilcourage und Freiheitswillen, mit denen sie vor über 20 Jahren, so Rödder, "dem diktatorischen Staat die Macht entrissen haben".



Nähere Informationen:

Dr. med. Thomas Bißwanger-Heim, Pressereferent DGPM
E-Mail pressereferent@dgpm.de
oder bei
Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann,
Chefarzt Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, HELIOS Kliniken Schwerin
Vorsitzender des DGPM Landesverbands Mecklenburg-Vorpommern
Wismarsche Str. 393-397, 19055 Schwerin
E-Mail: jochen.buhrmann@helios-kliniken.de

Internet: http://www.dgpm.de/index.php?id=mecklenburg-vorpommern

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Quelle:
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)
Presseinformation vom 7. Juli 2010
Pressereferent DGPM, Dr. med. Thomas Bißwanger-Heim
Gerstenhalmstr. 2, D-79115 Freiburg
Telefon: 0761 / 488 2 777, Fax: 0761 / 488 2 778
E-Mail pressereferent@dgpm.de
Internet: www.dgpm.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010

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