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STUDIE/051: Die Psychiatrie - ein Ort des Grauens? (Thieme)


Thieme Verlag / FZMedNews - Mittwoch, 3. März 2010

Die Psychiatrie - ein Ort des Grauens?


fzm - Vor 35 Jahren kam der Film "Einer flog über das Kuckucksnest" in die Kinos. In diesem Oscar-prämierten Filmepos wird die Psychiatrie als ein Ort des Schreckens dargestellt - ein Ort, an dem Menschen mit Medikamenten ruhig gestellt und mit Elektroschocks eingeschüchtert werden. Zu Unrecht, wie eine in der Fachzeitschrift "Psychiatrische Praxis" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2010) veröffentlichte Studie des Psychiaters Raoul Borbé von der Universität Ulm belegt. Zwangsmaßnahmen spielen aus Sicht der Patienten heute eine untergeordnete Rolle. Dem Personal in psychiatrischen Kliniken gelinge es, weitgehend auf Zwang und Drohung zu verzichten.

Gemeinsam mit einem Forscherteam wollte Borbé herausfinden, wie sich Patienten bei Ankunft in der Psychiatrie fühlen. Die zentrale Frage lautete: Wie ist der erste Eindruck in der Psychiatrie? Der Befund: Die 72 befragten Patienten waren mit der Atmosphäre in der Psychiatrie ganz zufrieden. Sie fühlten sich mehrheitlich würdevoll behandelt, nahmen das Personal als freundlich und kompetent wahr und fanden die Räume sauber. Borbé spricht von einer "deutlich positiven Grundtendenz".

Bislang wurden, so Borbé, nur "ideologische Debatten" geführt. Auf der einen Seite standen die Psychiatrie-Kritiker, auf der anderen Seite die Befürworter. Kurioserweise kam niemand auf die Idee, die Betroffenen selbst einmal zu befragen. Das soll nun nachgeholt werden. Die bisherigen Ergebnisse von Bourbé und seinem Team sind Teil einer geplanten umfassenderen Befragung in deutschen Psychiatrien, die von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gefördert wird.

Neben klassischen Interviews arbeiten die Wissenschaftler auch mit so genannten "Fokusgruppen". Dabei diskutieren Psychiatriepatienten in kleiner Runde über ihre Erfahrungen. Zwei Erkenntnisse konnte Borbé dabei gewinnen: Zum einen finden es die Psychiatrieinsassen besser, wenn Ärzte keine weißen Kittel tragen. Zum andern plädieren sie für ein Patenmodell: "Erfahrene" Patienten sollen Neuankömmlingen mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Noch lässt sich aber kein abschließendes Urteil fällen, wie sich Psychiatrie-Patienten fühlen. Die bisherigen Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Von 187 ausgewählten Personen wollten nur 72 an der Befragung teilnehmen. 12 Prozent verweigerten die Teilnahme. 24 Prozent wurden von den Wissenschaftlern ausgeschlossen. Es handelte sich hierbei um chronisch Kranke mit fünf oder mehr bisherigen Klinikaufenthalten, bei denen ein Gewöhnungseffekt an die Aufnahme postuliert wurde.


R. Borbé et al.:
Subjektives Erleben der Aufnahmesituation in einer psychiatrischen Klinik aus Sicht der Patienten.
Psychiatrische Praxis, 2010; 37 (1): S. 20-26


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Quelle:
FZMedNews - Mittwoch, 3. März 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2010