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VORTRAG/087: Vom Mannheimer Kreis zur DGSP - Ein Rückblick auf bewegte Zeiten (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 145 - Heft 3, Juli 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Vom Mannheimer Kreis zur DGSP
Ein Rückblick auf bewegte Zeiten

Von Renate Schernus



Dass ich heute dir zu Ehren, lieber Klaus, im Namen und für die DGSP sprechen darf, freut mich sehr. Durch das mir vorgegebene Thema wurde ich allerdings etwas überrascht, denn in den Jahren des sozialpsychiatrischen Aufbruchs, 1968 bis 1970, gehörte ich allenfalls zum interessierten Fußvolk. Damals arbeitete ich noch nicht im Kernbereich der Psychiatrie, sondern bei anfallskranken Kindern in Bethel.

Bis 1985 schaute ich gewissermaßen nur über den Zaun auf das, was sich in der Psychiatrie an sozialen und humanen Reformen anbahnte. Allerdings schaute ich nicht nur, sondern holte mir nach und nach über den Zaun hinweg fast alle Anregungen für meine Arbeit aus dieser Ecke. Von Neurologen und Epileptologen lernte ich damals zwar viel Wertvolles über Hirnfunktionen, die ganze Seite des subjektiven Erlebens, das Respektieren des Andersseins, das Verzichten auf schnelles Ändernwollen und die Einbeziehung des sozialen Kontextes, das kam alles über den sozialpsychiatrischen Zaun. Ab 1980 war Klaus Dörner in Gütersloh dann ja auch direkter Nachbar, und das Über-den-Zaun-Holen lag im wahrsten Sinne des Wortes noch näher.

In den 70er- und 80er-Jahren zeigten viele Medien und große Teile der Gesamtgesellschaft ein beachtliches, stark auch von Studenten getragenes, Interesse für psychisch erkrankte Menschen. Das hing - unter anderem - mit der 68er-Bewegung zusammen. Meiner Ansicht nach lassen sich die Anfänge der Psychiatriereform auch als eine Art psychiatrischer Jugendbewegung verstehen. Insbesondere junge Assistenzärzte drehten energisch am Rad der Psychiatriegeschichte, damals noch weit entfernt von der Heldenverehrung, die wir den inzwischen Ergrauten heute gerne entgegenbringen. Einer dieser Assistenzärzte war Klaus Dörner. Die Tatsache, dass in Heft 4/2012 der »Sozialpsychiatrischen Informationen«, das sich der Frage widmet: »Wie weiter mit der Psychiatrie?«, kaum ein Autor zu finden ist, der sich nicht durch irgendein Zitat von Klaus Dörner zu legitimieren sucht, scheint darauf hinzuweisen, dass wir uns die Zukunft der Psychiatrie - als einer wirklich sozialen - ohne seinen Einfluss kaum vorstellen können. Also ich glaube, dass sich nicht nur an dieser Stelle zeigt, dass Klaus Dörner sein »Maß an Bedeutung für andere« auch für die Psychiatrie-Profis bereits mehr als erfüllt hat. Was aber natürlich nicht unbedingt heißt, dass sie ihm in allem folgen.

»Mit Leidenschaft und Ungeduld« - eine Bewegung entsteht

Jetzt und hier soll ich aber etwas zu einem Stück sozialpsychiatrischer Historie sagen. Das werde ich einerseits brav versuchen, aber ich werde es nicht chronologisch tun. Ich schiebe die Würdigung des legendären, für die Psychiatriereform höchst wichtigen Jahres 1970 noch etwas auf und beginne mit der 5. Sozialpsychiatrischen Tagung des Mannheimer Kreises im Mai 1972.

Für diejenigen Zuhörer, die vielleicht nicht wissen, was der Mannheimer Kreis ist, eine kurze Erläuterung: Im Mannheimer Kreis sammelten sich ab 1970 die gesellschafts- und psychiatriekritischen Kräfte, die mit Leidenschaft und Ungeduld die längst fällige Reform der psychiatrischen Versorgung forderten.

Die 5. Sozialpsychiatrische Tagung fand in Bethel statt. Und die habe ich nun live in all ihren Facetten miterlebt. Sie ist aus mindestens zwei Gründen von besonderer Bedeutung. Es war die erste Tagung, die gemeinsam mit Patienten durchgeführt wurde. Von ihnen kamen die meisten Redebeiträge beim Abschlussplenum. Die Profis schienen weitgehend wie vor Schreck verstummt. Es war zweitens die Tagung, bei der durch die überraschend große Teilnehmerzahl unübersehbar deutlich wurde, dass hier eine Bewegung im Entstehen war. Zirka 50 Teilnehmer bei der ersten Tagung und über 1200 bei der fünften, das war ein gewaltiger Sprung.

Um diese bewegten Zeiten herum entstanden viele aufmüpfige, inzwischen weitgehend vergessene Patientenzeitungen, so auch in Bethel. In Nummer sieben der Betheler Zeitung »Der Drücker« finden sich wortgetreue Notizen von den Beiträgen der so genannten Langzeitpatienten beim Abschlussplenum der 5. Tagung des Mannheimer Kreises. Da dir, lieber Klaus, das Ergehen von chronisch erkrankten Menschen ein Herzensanliegen ist, scheue ich mich nicht, sie hier für einen Moment in den Mittelpunkt zu stellen und einige ihrer Beiträge gekürzt, aber unfrisiert, zu zitieren. Diese Beiträge geben meines Erachtens etwas von der Aufbruchstimmung unter den Patienten wieder. Denn Letztere waren keineswegs nur unbeteiligte Objekte wilder Profi-Reformer, sondern mitagierende Subjekte. Und ich finde, das wird wenig thematisiert. Heute ist es unter anderem vielleicht auch eine »fabelhafte Gelegenheit«, auf ihre Stimmen nochmals zu hören.

Patientenstimmen aus den Siebzigern

Ich zitiere: »Diese Tagung hat uns Auftrieb gegeben, weil endlich mit den Patienten geredet wurde und nicht nur über sie.« - »Hier haben sich sympathische Leute getroffen, die sich vorurteilsfrei mit unseren Problemen auseinandersetzen. Der Kontakt zwischen Patienten und Pflegern sollte ein Kontakt zwischen Gleichberechtigten sein.« - »Die Entlassungssituation ist so schlecht, weil die Gesellschaft über die Krankheiten nicht positiv genug aufgeklärt ist.« - »In den Häusern müssen Gruppengespräche und Rollenspiele stattfinden. Wir sind krank, aber nicht blöde.« - »Wir brauchen Psychologen und Einzeltherapeuten, die für uns Verständnis haben.« - »Gespräche dürfen nicht hinter dem Rücken der Patienten geführt werden, sondern mit ihnen gemeinsam.« - »Studenten und andere sollen von außen zu uns kommen, um mit uns zusammen zu arbeiten und uns kennen zu lernen. Das Wort 'Patient' sollte ganz fallen gelassen werden.« - »Wir wollen nicht wie im Kindergarten geführt werden.« - »Patienten sind doch Menschen wie alle anderen.« - »Die Arbeit der Patienten wird abgewertet.« - »Wir brauchen mehr Taschengeld.« - »Es gibt viel zu wenig Mitarbeiter.«

Ein Patient sagte, er wolle lieber 20 DM für den Mannheimer Kreis spenden als für die Innere Mission. Jemand wagte zu ergänzen: »Es wird zu schwarzgemalt. Es gibt hier auch Personen, die sich uns sehr zuwenden.«

Es wurde kritisiert, dass zu wenige Anstaltsärzte beteiligt waren. Und wörtlich: »Kommen Sie als Gäste bitte öfter, um zu sehen, was hier passiert ...«

Schließlich heißt es: »Aber später kam die Traurigkeit dazu. Dass nun alles vorbei sein sollte. Morgen würden die Gäste wieder abfahren, und was dann? [...] Jetzt werden wir abwarten, was nun aus all den guten Ideen wird, die wir da gemeinsam erarbeitet haben.« Warten mussten sie - jedenfalls in Bethel - noch fast zehn Jahre.

Über die Mitarbeit bei der erwähnten Zeitung bekam ich - obgleich eigentlich bei anfallskranken Kindern eingesetzt - um 1970 bereits die ersten konkreten Kontakte zur Psychiatrie. Die Zeitung erfreute sich der Protegierung durch den Arzt Dr. Schimanski. Ich weiß nicht, ob du, Klaus, ihn überhaupt kennen gelernt hast. Schon sein Name war gleichsam Programm. Dr. Schimanski war ebenso aufmüpfig und originell wie sein gleichnamiger Fernsehheld. Ein Enfant terrible für alle eher konservativen Mitarbeiter, insbesondere für seine ärztlichen Kollegen. Ebenso war der Name der Zeitung, »Drücker«, Programm. Als »Drücker« bezeichnete man die klobigen Drei- oder auch Vierkantschließer, mit denen sich geschlossene Stationen auf- oder zuschließen ließen.

Ich habe mal ein urzeitliches Relikt mitgebracht. Gleich in der ersten Nummer wurde deutlich, dass der kritische Impuls des Blattes sich keineswegs nur gegen geschlossene Räumlichkeiten richtete, sondern die Anstalt als System ins Visier nahm. Ich zitiere aus einer der ersten Nummern des »Drückers«: »Die Mauer, die die Anstalt umgibt, ist viel [...] schwerer zu durchdringen als die Hindernisse, die eine geschlossene Abteilung bietet: Hier öffnen sich die Patienten mit schöner Regelmäßigkeit die Türen mit Löffeln oder Zahnbürsten. Welchen Drücker gibt es für den Weg nach draußen oder wenigstens welche Zahnbürste?«

Das war zirka zehn Jahre vor der Sternfahrt nach Bonn mit der Forderung nach Auflösung der Großkrankenhäuser, bei der du, Klaus, dann 1980 gemeinsam mit dem Vorstand der DGSP in besonderer Weise mitgewirkt hast.

Die Patienten begannen diese wildwüchsige Zeitung als Forum für eine unzensierte Selbstartikulation zu nutzen. Dass das überhaupt möglich und nicht mehr zu unterdrücken war, war dem neuen Geist, der überall wehte, zu verdanken. Hier noch ein Zitat aus dem »Drücker«, aus dem deutlich wird, dass es nicht nur um die damals katastrophalen räumlichen und personellen Bedingungen ging, sondern auch um mangelnden Respekt vor legitimen menschlichen Bedürfnissen der Patienten. Herr A. schreibt: »Meine Braut [...] ist ebenfalls Patientin, muss aber nach Einbruch der Dunkelheit abends im Hause sein, und das schon ziemlich früh, was soll dieser Unsinn? [...] Es liegt nicht daran, um wie viel Uhr man die Leute einsperrt, sondern an der Vernunft jedes Einzelnen.«

Zum gleichen Thema Frau B.: »Warum werden uns Frauen nicht auch mehr Freiheiten gelassen? Wir haben noch niemanden gebissen, sollen wir hier denn ein Klosterleben führen?«

»Erstmals Bestecke statt Löffeln«

Die 5. Mannheimer-Kreis-Tagung brachte letztendlich die öffentliche und innerbetriebliche Auseinandersetzung mit den sozialpsychiatrischen Anliegen ein großes Stück voran, dies nicht nur in Bethel. Die Tagungen des Mannheimer Kreises wurden ja genau deshalb so oft wie möglich mitten ins Herz der großen Landeskrankenhäuser bzw. Anstalten verlegt, um die Reformimpulse zu transportieren. Veränderungen wurden mindestens genauso sehr durch die Vorbereitungen auf die Tagungen bewirkt wie durch den Ablauf der Tagungen selbst. Viele fürchteten sich vor der Invasion der eloquenten »Roten«. Nicht zuletzt deshalb wurden im Vorfeld Vorbereitungsgruppen aus Mitarbeitern und Patienten gebildet, in denen unter anderem darüber diskutiert wurde, was Sozialpsychiatrie - ein damals für viele unbekannter Begriff - eigentlich bedeutete. Die gerade neu entdeckten Rollenspiele wurden bei alledem eifrig benutzt, sei es, um gesellschaftlich stigmatisierende Situationen nachzuspielen, sei es, um den Dialog mit marxistisch geschulten Radikallinken, von denen es im Mannheimer Kreis nicht wenige gab, schon einmal zu üben.

Dass die Tagungsteilnehmer die Heime und Stationen nicht nur besuchen, sondern dort auch gemeinsam mit Patienten essen wollten, bewirkte, dass man die bisherige Praxis, bis hin zum »Outfit« der Einrichtungen, schon lange vor der Tagung mit den Augen der von außen kommenden und eben all dies beobachtenden Gäste zu sehen begann. So kamen zum Beispiel in manchen Häusern, in denen Gabeln und Messer seit Jahren als zu gefährlich für die Benutzung durch Patienten angesehen wurden, erstmals Bestecke statt Löffeln auf den Tisch. An manchen Stellen verschwanden überflüssige Gitter, und Bilder wurden aufgehängt.

Während bei den Patienten die »lebhafteste Resonanz aufkam« (Alex Funke), erwies es sich in Bethel - ähnlich wie in vielen der damaligen Kliniken und Anstalten - als äußerst schwierig, den Chefarzt der Psychiatrischen Klinik einzubinden. Damals wurden zur Einleitung von strukturellen Veränderungen berufsübergreifende und auch die Patienten mit einbeziehende Planungsgespräche eingesetzt. Den Vorschlag, bei diesen Gesprächen die akademischen Titel der Einfachheit halber wegzulassen, konterte selbiger Chefarzt mit der ironischen Bemerkung: »Dann können wir ja auch gleich Du und Genosse sagen.« Wie viele der damaligen konservativen Ärzte glaubte er, die ärztliche Letztverantwortung auf ganzer Linie verteidigen zu müssen. Lapidar teilte er mit: »Primäre Bezugsperson sollte der Psychiater bleiben.«

»Man stritt mit riskantem Mut zur Einseitigkeit«

Hinter solchen konservativ-hierarchischen Einstellungen konnten sich noch für einige Jahre reformunwillige Ärzte und von diesen abhängige, autoritätsgläubige Mitarbeiter verstecken.

Übrigens wurde der Begriff der »therapeutischen Gemeinschaft«, der in dieser Zeit eine große Rolle spielte als Kampfbegriff, als Gegenbegriff zu den in den Institutionen eingeschliffenen Hierarchien benutzt. Damit wurde auch die Gleichberechtigung im therapeutischen Team eingeklagt. In Bethel versuchten Mitarbeiter, mit diesem Begriff positiv an der diakonischen Tradition anzuknüpfen. So heißt es in einem Vorbereitungspapier für die 5. Mannheimer-Kreis-Tagung: »Für den diakonischen Auftrag [...] erscheint der Gedankengang wichtig, dass die therapeutische Gemeinschaft ihrem Wesen nach eine eminent diakonische Aufgabe ist.«

Jedoch nicht nur von konservativer Seite wurden Blockaden errichtet. Der leider im Mai 2013 verstorbene Psychiater Mark Richartz weist in einem Protokoll von 1970 auf gewisse linksideologische Ausschweifungen hin, die der Sache genauso wenig dienten: »Gerade die radikaldemokratischen, sozialistischen und/oder emanzipatorischen Forderungen werden immer wieder in einer Weise vorgetragen, die besonders die minderprivilegierten Mitarbeiter in der Psychiatrie in eine Abwehrhaltung drängt, die sie gegen eine sinnvolle Politisierung eher zu immunisieren droht.«(1)

An heftige Auseinandersetzungen zwischen eher pragmatisch orientierten Kollegen, die aber meist den Vorteil praktischer Erfahrung hatten, und eher linksakademisch orientierten Kritikern, von denen einige noch nie einen psychisch erkrankten Menschen kennen gelernt hatten, kann ich mich auch aus den Folgejahren noch gut erinnern. Man stritt damals gekonnt, gerne, heftig und mit riskantem Mut zur Einseitigkeit.

Versprengte Pioniere und die DGPN

Jetzt aber zurück zur Chronologie und den eigentlichen Anfängen. Bei Klaus Dörner, wie könnte es anders sein, begann es mit Reisen, und zwar im Jahr 1968. Ich nehme an, dass er damals noch nicht mit dem Zug kam, sondern mit seinem klapprigen R4. Der Bericht über diese Reisetätigkeit findet sich bei der 'Edition Das Narrenschiff' unter dem Titel: »Anfänge der Sozialpsychiatrie - Bericht über eine Reise durch die sozialpsychiatrischen Pioniereinrichtungen der Bundesrepublik im Jahre 1968«.(2) Bevor also eine Bewegung entstand, gab es diese einzelnen noch versprengten Pioniere. Das Aufspüren von Pionieren ist ja bekanntlich bis heute eine von Klaus Dörners Hauptbeschäftigungen. Soweit ich das als damalige Zaunguckerin mitbekommen habe, fand dann der erste öffentlichkeitswirksame Paukenschlag, der die Pioniere zusammenrief und durch den deutlich wurde, dass es Menschen gab, die entschlossen waren, gemeinsam etwas zu bewegen, nicht in Mannheim, sondern in Hamburg statt, und zwar im April 1970 mit einer von Klaus Dörner und Ursula Plog organisierten Tagung unter dem Titel: »Die Rückkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft«. Wen das nicht an die UN-Behindertenrechtskonvention erinnert, hat irgendetwas nicht verstanden.

Erst die Nachfolgetagung im Mai desselben Jahres, die von Niels Pörksen organisiert wurde und die wohl noch deutlicher überregional war, fand dann in Mannheim statt. Dazu wird, denke ich, Niels Pörksen nachher noch selbst etwas sagen.

Ein Kuriosum, das mit der Geburt der DGSP zu tun hat, möchte ich jedoch noch erwähnen. Hier folge ich einer Darstellung von Manfred Bauer. Dass es nicht beim Mannheimer Kreis geblieben sei, sondern dass aus dem Kreis der Beteiligten heraus die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie gegründet wurde, sei in gewisser Hinsicht der etablierten und damals sehr konservativen Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN) zu verdanken, also der Vorgängerin jener stolzen Gesellschaft, die heute ein P mehr im Namen trägt.

Das kam so: Im Oktober 1970 fand in Bad Nauheim auch ein Kongress der DGPN statt, bei deren Mitgliederversammlung der neue Präsident gewählt werden sollte. Die jungen, reformorientierten Psychiater hatten sich untereinander verständigt, massenhaft in die DGPN einzutreten, um Caspar Kulenkampff, der für sozialpsychiatrische Reformen stand, zu wählen. Obwohl Kulenkampff bei der Wahl die meisten Stimmen erhalten hatte, wurde seine Präsidentschaft durch einen Schachzug des amtierenden Präsidenten der DGPN verhindert. Letzterer argumentierte: Die Stimmberechtigung der Mitglieder sei vor der Wahl nicht überprüft worden, und so wurde diese für ungültig erklärt. Der Verdruss über diesen Coup habe den letzten Ausschlag dafür gegeben, eine eigene, deutlich alternative Gesellschaft zu gründen. So gesehen hat die DGSP, zwar ihre Wurzeln im Mannheimer Kreis, ihre Geburt aber letztlich der DGPN zu verdanken. Die Gründung der DGSP fand dann kurz nach der zweiten Mannheimer-Kreis-Tagung ebenfalls noch 1970 in Hannover statt, natürlich unter wesentlicher Beteiligung von Klaus Dörner, der im neu gegründeten Vorstand als dritter stellvertretender Vorsitzender gewählt wurde. Der erste Vorsitz ging an eine Sozialarbeiterin, Frau Schmidt-Ganthe. Und noch weitere vier Vorstandsmitglieder kamen aus nichtärztlichen Berufsgruppen. Das allein schon war ein Aufsehen erregendes Qualitätsmerkmal dieser neuen Gesellschaft.

Ich vermute, dass es kein Jahr in der neueren Psychiatriegeschichte gibt, in dem so viele auf Reformen ausgerichtete Tagungen stattfanden wie 1970. Sie alle zu erwähnen würde hier den Rahmen sprengen. Lediglich die wichtige Loccumer Tagung sei genannt, bei der bereits die Grundlage für die Psychiatrie-Enquete gelegt wurde.

»Ethische Besinnung - auch heute wichtig«

Lieber Klaus, liebe Damen und Herren, da noch eine ganze Reihe Rednerinnen und Redner vorgesehen sind, habe ich mich kurz gefasst. Außerdem sind noch viele Kolleginnen und Kollegen hier, die die Anfänge der Sozialpsychiatrie selbst miterlebt, mitgestaltet und mit angetrieben haben und die die Begrenztheit meiner Perspektive ergänzen können.

Nur eins noch will ich hinzufügen. Bei dir, Klaus, und bei den meisten, die in den 70er-Jahren wesentlich an der Entwicklung der Psychiatrie als einer sozialen beteiligt waren, stand das Erschrecken über die Verstrickung der Psychiatrie in die Krankenmorde während der NS-Zeit immer als Beunruhigung und auch als Wachsamkeit für die notwendige ethisch-moralische Fundierung unseres Tuns im Hintergrund. Es war für die Anfänge der Psychiatriereform wichtig und bleibt auch heute wichtig, dass neben dem Willen zu organisatorischen und strukturellen Veränderungen die ethische Besinnung tritt, z.B. die Auseinandersetzung damit, dass das Gutgewollte eine schillernde Tendenz hin zum Negativen hat. Nur diese Besinnung kann ein Überhandnehmen technokratischer Elemente, die bei gesellschaftlichen Reformen anscheinend nie zu verhindern sind, abmildern. In diesem Sinne ist für mich das Buch »Der Krieg gegen die psychisch Kranken« (1980), das von Klaus Dörner maßgeblich verfasst und zusammengestellt wurde, besonders wichtig gewesen. Sein Untertitel lautet: »Nach 'Holocaust': Erkennen - Trauern - Begegnen«. In diesen drei Worten findet sich das, was ich meine, in verdichteter Form. Die Psychiatrie, die wir noch in den 70er-Jahren vorfanden, machte zwischenmenschliche Begegnung, Dialog, geschweige denn eine sorgfältige gemeinsame Suche nach angemessener Lebensgestaltung nahezu unmöglich. Dies und die historische Last der Patientenmorde mussten erkannt, mussten betrauert werden. Endlich konnte der moralische Anspruch der Menschen, für deren ins Abseits gedrängte Existenz jahrelang Blindheit herrschte, in aller Schärfe wahrgenommen werden. Und insofern kann man die drei Worte auch umgekehrt lesen: Begegnen - trauern - erkennen, was zu tun ist. Begegnen ist der Dreh- und Angelpunkt, auch wenn wir dem Anspruch, der darin liegt, nie ganz gerecht werden können. Ob Reformen in ihrem Prozess und in ihrer Konsequenz »Ermöglichungsräume« (Fabian Kessl) für Begegnungen öffnen und offenhalten, das hat der wichtigste Impuls zu bleiben, nicht irgendwelche perfekten sozialtechnischen Vorgehensweisen.

Dass der seit 1975 vorliegende »Bericht der Sachverständigenkommission zur Lage der Psychiatrie in Deutschland« (Psychiatrie-Enquete) schließlich am 11. Oktober 1979 ernsthaft und unter Bezugnahme der meisten Abgeordneten auf die Ermordung kranker und behinderter Menschen diskutiert wurde, ist wesentlich der Denkschrift der DGSP zum 1. September 1979 »Holocaust und die Psychiatrie - oder der Versuch, das Schweigen in der Bundesrepublik zu brechen« zu verdanken, eine Denkschrift, die Klaus Dörners Handschrift trägt und in der die Auseinandersetzung mit dieser auf der Psychiatrie lastenden Thematik im Vordergrund steht.

Meines Erachtens sind die Fragen von damals - wenn auch heute in einem anderen Kontext - wieder höchst aktuell. In welche Helferideologien sind wir heute verstrickt? Wie beeinflusst gesellschaftlicher Kontext unser heutiges Handeln? Wie sehr lassen wir technokratische Lösungen wuchern? Was immunisiert uns heute gegen eine sinnvolle Politisierung? Oder vielleicht heißt die Frage heute eher: Was lähmt uns, gegen die »Doppelzange aus Markt und Bürokratie« (Klaus Dörner) anzugehen? Da dies aber heute und hier nicht mein Thema ist, möchte ich mit diesen offenen Fragen jetzt einfach schließen. Sie zeigen immerhin, dass wir die von Klaus Dörner mitbegründete DGSP, in der er bis 1980 im Vorstand mitgewirkt hat, auch heute noch dringend brauchen. Und, falls es jemand noch nicht wissen sollte, seit Gründung der DGSP-Stiftung im Jahr 2007, arbeitet Klaus Dörner dort im Beirat mit. Es gibt also nicht nur historische, sondern auch heutige Gründe, dir, lieber Klaus, bei dieser fabelhaften Gelegenheit einen großen DGSP-Dank auszusprechen.


Renate Schernus, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, langjährige Mitarbeiterin in den von Bodelschwinghschen Stiftungen, lebt in Bielefeld. Sie ist Mitinitiatorin der 'Soltauer Impulse für Sozialpolitik und Ethik'. Bei dem Artikel handelt es sich um ihren Vortrag auf dem Symposium zum 80. Geburtstag von Klaus Dörner am 2. Dezember 2013 in Gütersloh.
E-Mail: renate.schernus@t-online.de


Anmerkungen:

(1) Soziale Psychiatrie 4/1995.
(2) Dörner, K./Plog, U. (1999): Anfänge der Sozialpsychiatrie - Bericht über eine Reise durch die sozialpsychiatrischen Pioniereinrichtungen der Bundesrepublik im Jahre 1968. Eine psychiatriegeschichtliche Dokumentation. Bonn: Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 145 - Heft 3, Juli 2014, Seite 4-7
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2014