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ORGANSPENDE/003: Medizin - Forschung verschiebt die Grenzen ... (SB)


"Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt."
(Aus der 4. Fortschreibung der Richtlinie "zur Feststellung des Todes", die das Bundesministerium für Gesundheit am 30. März 2015 in Anlehnung an § 3 Abs. 2 Transplantationsgesetz veröffentlicht hat.)



Wenige Minuten nach einem Herzstillstand nimmt ein Gehirn, das nicht mehr durchblutet wird, unumkehrbaren Schaden, lautet die auf zahllose Erfahrungen gestützte Lehrmeinung. Das galt zumindest bisher. Nun berichten US-Forscher, daß sie Nervenzellen in einem Schweinegehirn vier Stunden nach dem Tod des Tieres mittels der innovativen Apparatur BrainEx und einer speziellen Nährlösung zu Signalen und Stoffwechselvorgängen, die sechs Stunden lang bis zum Abschalten des Geräts liefen, angeregt haben [1]. Mehrere Mediziner und Wissenschaftler in Deutschland behaupten nun, daß mit diesem überraschenden Studienergebnis das Hirntodkriterium zur Organentnahme nicht berührt sei, denn es sei ja keine "Gesamtfunktion" des Gehirns wiederhergestellt worden. Damit beziehen sie besorgt Stellung insbesondere gegenüber US-Kollegen, die Kritik am Hirntodkonzept üben, aber zugleich das Konzept des Herzkreislaufstillstands bevorzugen, das mit einer vergleichsweise größeren Unsicherheit behaftet ist.

Ungeachtet dieser Debatte wird im folgenden die Frage aufgeworfen, ob nicht aufgrund der aktuellen Studienergebnisse der Hirntod als Kriterium der Organentnahme sehr wohl einer Überprüfung bedarf. Denn erstens hatten die Forscher der Nährlösung, mit der das Gehirn durchströmt wurde, eigens Mittel beigefügt, die intensivere Hirnaktivitäten wie das Abfeuern von Aktionspotentialen unterbinden sollten. Diese konnten demnach gar nicht erst entstehen. Zweitens ist zu fragen, ob sich die "Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms", auf die im Eingangszitat Bezug genommen wird, nicht aus Unterfunktionen zusammensetzt. Sicherlich fährt ein Auto nicht allein deshalb, weil ein Zündfunke entsteht. Aber ohne diesen Zündfunken wäre wiederum das Gesamtsystem fahruntauglich. Heißt das nicht, daß eine Reaktivierung von Unterfunktionen der Beginn der Wiederherstellung jener Gesamtfunktion sein könnte? Müßte nach diesen Experimenten nicht ein Teilaspekt neu bewertet werden und damit eben auch "das Gesamte"?

Die Forschergruppe um Erstautor Zvonimir Vrselja von der Yale School of Medicine in New Haven, US-Bundesstaat Connecticut, hatte sich rund 300 abgetrennte Schweineköpfe aus einem benachbarten Schlachthof besorgt. Aus 32 Köpfen wurden die Hirne herausgenommen und in eine Apparatur namens BrainEx gelegt und dabei auch an Katheter angeschlossen. Darüber wurde aufgewärmtes, künstliches Blut, das Sauerstoff und Nährstoffe enthielt, durch Venen und Arterien des Gehirns gepumpt.

In Folge dessen regenerierten einige Grundfunktionen von Nervenzellen. Diese verbrauchten Zucker zur Energiebereitstellung und erzeugten Kohlenstoffdioxid, das aus der Zelle ausgeschieden wurde. Der Zerfall der Nervenzellen wurde aufgehalten. Das Immunsystem schien ebenfalls anzusprechen. Darüber hinaus konnten in Proben von Nervenzellen, die dem Gehirn entnommen worden waren, Signale angeregt werden. Bei den Vergleichsgehirnen, die keine nährstoff- und sauerstoffreiche Perfusionsflüssigkeit erhielten, fand all das nicht statt; sie starben ab. Ein Bericht über die Experimente erschien am 17. April 2019 im Wissenschaftsjournal "Nature", wo auch eigens hierzu abgefaßte Kommentare und Einschätzungen veröffentlicht wurden. [2]

Das kritisierte Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, am 18. April auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Aus einer "höchst anspruchsvollen Studie zum Aufflackern von Lebensspuren auf zellulärer Ebene" habe die "Nature"-Redaktion eine sensationsheischende Story "gebastelt". Daß nun das Hirntodkonzept in Zweifel gezogen wird, sei nicht anders zu erwarten und zulässig, Zweifel sei der Antrieb der Wissenschaft. Aber: "Das Hirntodkriterium grundsätzlich und nicht nur mit Blick auf eingesetzte Testverfahren in Frage zu stellen, scheint mir nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht richtig zu sein. Zielte es ja nie auf zelluläre, sondern die funktional-systemische Ebene". [3]

Doch abwegig ist es sicherlich nicht, weitere Fragen zu stellen. Denn daß ein Gehirn nach Beendigung des Herzschlags weiter funktioniert, wenn es gekühlt wird und apparativ mit Blut durchströmt wird, konnte schon vor sehr langer Zeit im Tierexperiment vorgeführt werden. Ebenfalls weiß man, daß Nervenzellen, die einem Gehirn längere Zeit nach dem Tod entnommen wurden, normale Aktivitäten wie beispielsweise die Proteinsynthese zeigen. Zudem hat der maßgeblich an der aktuellen Studie beteiligte Forscher Nenad Sestan bereits im vergangenen Jahr auf einem Workshop der National Institutes of Health über seine Experimente mit BrainEx und Schweinegehirnen, die 36 Stunden am Leben erhalten worden waren, berichtet. [4]

Dessen selbstverständlich gewahr wollte die Forschergruppe diesmal herausfinden, ob ein ganzes Gehirn Stunden nach dem Tod wiederbelebt werden kann. Zwar lautete die Fragestellung ausdrücklich nicht, ob die "Gesamtfunktion" wiederherstellbar ist, aber man hat durchaus komplexe Strukturen in den Blick genommen. Wie gesagt, die Gehirne waren also regelrecht gedämpft worden. Damit wollte man verhindern, daß sie Schaden nehmen, wenn die Neuronen anfangen, Signale auszusenden. Aber man wollte auch aus ethischen Gründen keine Situation herstellen, in der ein Schweinegehirn anfängt, Wahrnehmungen zu verarbeiten. Während der sechsstündigen Experimentierzeit wurde die elektrische Aktivität der Gehirne durchgängig überwacht. Hätten diese sich trotz der chemischen "Sicherheitsmaßnahme" in Richtung einer stärkeren Kommunikation entwickelt, wäre der Nährlösung ein Anästhetikum zugefügt worden, um die Organe zu betäuben.

Zu keinem Zeitpunkt also beobachtete das Forscherteam elektrische Signale von einer Hirnregion zu einer anderen oder koordinierte elektrische Muster, die das gesamte Gehirn einbezogen hätten. Somit entsprach es keinem Organ, das Wahrnehmungen verarbeitet oder gar ein Bewußtsein entwickelt. Um ein Bewußtsein zu wecken, so die Forscher, hätte es vermutlich entweder eines starken elektrischen Schocks bedurft oder aber einer über jene sechs Stunden hinausgehenden Tätigkeit, damit die Nervenzellen ausreichend Zeit gehabt hätten, sich zu regenerieren.

Der Bioethiker Stephen Latham, der ebenfalls zu dem Yale-Team gehört, sagte laut einem in derselben "Nature"-Ausgabe veröffentlichten Kommentar mit Blick darauf, daß hier ein Gehirn möglicherweise hätte Bewußtsein zeigen können: "Es gibt nicht wirklich einen Überwachungsmechanismus, der sich um die möglichen ethischen Folgen der Bewusstseinsbildung in etwas sorgt, das kein lebendes Tier ist." [5]

Latham könnte sich vorstellen, daß eines Tages solche Forschungen dennoch gerechtfertigt werden, beispielsweise dann, wenn Tests mit Medikamenten gegen degenerative Gehirnerkrankungen an Organen und nicht an Menschen durchgeführt werden sollen. Lance Becker, Spezialist für Notfallmedizin am Feinstein Institute for Medical Research in Manhasset, New York, vergleicht die Studie mit einer "Handgranate inmitten der verbreiteten Glaubensvorstellungen" zu der Frage, was Gehirne vermögen. Die Fähigkeit, sich zu erholen, sei weitgehend unterschätzt worden, so Becker.

Einen direkten Bezug zur Organentnahme nahm Stuart Youngner, Bioethiker an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio. Er spekulierte: "In einigen europäischen Ländern verwenden Notfallhelfer, die eine Person nach einem Herzinfarkt nicht wiederbeleben können, manchmal ein System, das Organe für die Transplantation konserviert, indem sie sauerstoffhaltiges Blut durch den Körper - aber nicht durchs Gehirn - pumpen. Wenn eine Technologie wie BrainEx weithin verfügbar wird, könnte die Fähigkeit, das Fenster für die Reanimation zu verlängern, den Pool der förderfähigen Organspender verkleinern."

Diese hier beispielhaft zitierten Einschätzungen greifen vielleicht weit voraus, aber von einem Ausgangspunkt aus, der solche Mutmaßungen durchaus hergibt. Geht es doch darum, in intakten Säugetiergehirnen mehrere Stunden nach dem Tod physiologische und zelluläre Funktionen wiederherzustellen. Dahinter steckt die Idee, "Therapien für Hirnverletzungen durch Sauerstoffmangel zu entwickeln und sogar die Untersuchung intakter menschlicher Gehirne zu ermöglichen". [6]

Im Zusammenhang mit der aktuellen Studie sollte auf keinen Fall unerwähnt bleiben, daß das Hirntodkonzept ausgerechnet von jenen interessierten Kreisen kritisiert wird, die statt dessen den Stillstand des Herzkreislaufsystems zur Bestimmung des Todeszeitpunkts bevorzugen. Diese Definition ist sogar noch fragwürdiger, denn dabei wird eine willkürliche Grenze festgelegt, bis wann notfallmedizinische Maßnahmen und ab wann nur noch Maßnahmen zum Erhalt der Organe, nicht aber des Menschen angewendet werden. Beispielhaft sei hier aus den Empfehlungen eines Ausschusses von US-Experten zur Bestimmung des Todeszeitpunkts für Organspenden aus dem Jahr 2014 zitiert:

"Ein Hindernis für die Umsetzung von Programmen zur unkontrollierten Organspende nach der Bestimmung des Herzkreislaufstillstands ist der fehlende Konsens über den genauen Zeitpunkt des Todes. (...) Wir kamen zu dem Schluß, daß der Tod durch den Nachweis der dauerhaften oder irreversiblen Einstellung von Kreislauf und Atmung bestimmt werden kann. Die Kreislaufunumkehrbarkeit kann vermutet werden, wenn die optimalen kardiopulmonalen Reanimationsbemühungen die Zirkulation nicht wiederhergestellt haben und danach mindestens eine 7-minütige Zeitspanne verstrichen ist, in der eine Autoreszenz zur Wiederherstellung der Zirkulation stattfinden konnte. Wir raten von der Verwendung postmortaler Organunterstützungstechnologien ab, die die Zirkulation von warmem, sauerstoffhaltigem Blut wiederherstellen, da sie das Risiko bergen, die erforderlichen Bedingungen, unter denen der Tod erklärt wurde, rückwirkend zu invalidieren. [7]

Das geht so weit, daß Mediziner mitunter Maßnahmen ergreifen, durch die der Blutfluß zum Gehirn gezielt künstlich unterbrochen wird, damit es zu keiner unerwünschten Wiederbelebung dieses Organs kommt, wo man doch schon den Tod festgestellt hat und alles für die Organentnahme in Stellung gebracht wurde ...

Die Crux in letzterem Zitat ist der Begriff "optimal". Wer bestimmt das Optimum? Vor dem Hintergrund welcher Interessen? Kommen hier Verwertungsinteressen ins Spiel, die mit dem Bemühen, ein Menschenleben zu retten, nichts zu tun haben? Nach welchen Kriterien wird festgelegt, wann kardiopulmonale Reanimationsbemühungen ihr Optimum erreicht haben? Um es überspitzt zu sagen: Könnte das Optimum nicht erst dann erreicht sein, wenn sich Leichenflecken bilden und die Organe nicht mehr transplantierbar sind?

Zurück zur aktuellen Studie: Die Bemühungen seitens deutscher Medizinexperten, für die hier Peter Dabrock stellvertretend genannt wurde, um eine aus ihrer Sicht korrekte Einordnung und Darstellung der Studienergebnisse und das Verwerfen von Spekulationen in den Kommentaren von "Nature" sind verständlich, wenn man bedenkt, aus welcher "Ecke" sie möglicherweise stammen. Dennoch ist zu fragen: Empfindet ein hirntotes Säugetier wie der Mensch nur dann einen Schmerz, wenn jene Gesamtfunktion mittels einer Meßapparatur angezeigt werden kann? Würde für die Schmerzempfindung vielleicht schon eine Teilfunktion genügen? Oder spielt sich Schmerz womöglich jenseits solcher diagnostischen Verfahren ab? Diese Frage läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Warum das so ist, hat vielleicht damit zu tun, daß bestimmte Vorstellungen fest etabliert sind. Die werden jedoch von der hier besprochenen Studie berührt.


Fußnoten:

[1] https://www.nature.com/articles/s41586-019-1099-1

[2] tinyurl.com/yyo7xhgg

[3] https://twitter.com/just_ethics/status/1118939713132531713

[4] https://www.technologyreview.com/s/611007/researchers-are-keeping-pig-brains-alive-outside-the-body/

[5] https://www.nature.com/articles/d41586-019-01216-4

[6] https://www.nature.com/articles/d41586-019-01169-8

[7] https://doi.org/10.1016/j.annemergmed.2013.05.018

23. April 2019


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