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INTERVIEW/008: Ersatzteillager Mensch - Martina Keller zum Tabubruch in Belgien (SB)


"Die enge Kopplung von Tötung und Organentnahme finde ich sehr gefährlich."

Interview mit der Journalistin Martina Keller am 24. März 2012 in Essen-Steele



Martina Keller, Wissenschaftsjournalistin aus Hamburg, ist seit langem zu biomedizinischen Fragen publizistisch tätig. Zum Thema Gewebespende hat sie 2008 das Buch "Ausgeschlachtet. Die menschliche Leiche als Rohstoff" verfaßt. Am 23. März 2012 hielt sie auf der Essener Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert" das Eingangsreferat zum Thema "Die Kontroverse um den 'Hirntod' und internationale Entwicklungen im Transplantationswesen" [1]. Am darauffolgenden Seminartag ergab sich für den Schattenblick die Gelegenheit, Frau Keller einige anschließende Fragen zu stellen.

Martina Keller im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Martina Keller im Kulturzentrum GREND in Essen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: In Ihrem Vortrag gestern haben Sie gesagt, der Düsseldorfer Philosoph Dieter Birnbacher sei von einem Befürworter der Hirntod-These zu einem Kritiker geworden. 1998 soll Birnbachers These, bei einem Hirntoten sei die integrierende Funktion des Gehirns ausgefallen, weshalb man ihn nicht mehr als Organismus und damit lebenden Menschen bezeichnen könne, maßgeblich zur Legalisierung der Organentnahme beigetragen haben. 2007 stellte Birnbacher fest, daß bei der Organ-Explantation von Hirntoten die Organe "einem lebenden menschlichen Individuum entnommen" [2] werden. Dennoch hat er sich für die Beibehaltung des Hirntod-Konzepts sowie die Aufgabe der "Tote-Spender-Regel", derzufolge nur Toten Organe entnommen werden dürfen, ausgesprochen [3]. Ist es da nicht irreführend, ihn als einen Kritiker der Hirntod-These zu bezeichnen?

Martina Keller: Ich sehe es als einen Fortschritt an, daß jemand, der auch in der zentralen Ethik-Kommission der Bundesärztekammer sitzt, zur Kenntnis genommen hat und auch öffentlich dazu steht, daß der Hirntod mit dem Tod des Menschen in wissenschaftlicher - in biologischer und medizinischer - Hinsicht nicht gleichzusetzen ist. Daß das in der Öffentlichkeit kundgetan wird, ist schon ein Fortschritt, denn im Prinzip wird diese Frage totgeschwiegen. Die neue Diskussion, die es dazu in der Fachwelt schon lange gibt, wird der Bevölkerung von denen, die die Organspende in Deutschland organisieren, also der Deutschen Stiftung Organtransplantation oder auch der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, nicht mitgeteilt.

SB: Würden die Vorschläge von Prof. Birnbacher, das Hirntod-Konzept sozusagen mit pragmatischer Rechtfertigung beizubehalten und die Tote-Spender-Regel aufzuheben, nicht bedeuten, das Tötungsverbot aufzuheben?

MK: Ich denke, die Transplantationsmedizin steckt in einem Dilemma. Sie hat sich als ehernes Grundprinzip die Regel gegeben, keine überlebenswichtigen Organe von Toten zu nehmen, um eben zu verhindern, daß Menschen wegen ihrer Organe getötet werden. Wenn man jetzt konstatiert, daß Hirntote keine Toten und keine Leichen sind, wie sie sogar schon bezeichnet worden sind, dann werden in jedem Fall noch lebenden Menschen Organe entnommen. Das ist ein Dilemma, mit dem sich die Transplantationsmedizin jetzt auseinandersetzen muß. Aber auch die Gesellschaft müßte sich damit befassen.

SB: Wäre dieser Schritt, wenn erst einmal das Tötungsverbot durchbrochen ist, nicht ein Dammbruch für die ganze Gesellschaft?

MK: Das ist sehr heikel. Denn wenn man zum Beispiel wie Herr Birnbacher sagt: "Pragmatisch halten wir dennoch am Hirntod als Voraussetzung einer Organentnahme fest", dann ist das auf längere Sicht sicherlich eine wackelige Grenze. Mit welcher Begründung sollte man dann sagen: Okay, beim Hirntod, das sind zwar noch lebende, aber Patienten ohne Bewußtsein und ohne Perspektive, da dürfen wir das tun - bei einem anenzephalen Säugling, einem Koma-Patienten oder Demenz-Kranken im Endstadium dürfen wir das aber nicht tun? Da sehe ich eine große Gefahr. Man kann zwar nicht unbedingt von einer "Slippery Slope"-Argumentation sprechen, also einer abschüssigen Bahn, auf die man sich da begibt, aber ich finde, daß das eine reale Gefahr ist und eigentlich dagegen spricht, aus pragmatischen Gründen einfach zur Tagesordnung überzugehen.

SB: Wie schätzen Sie denn die Kräfte der Kritiker ein, dagegen Aufklärung zu betreiben, was von vielen schon seit langem versucht wird, wobei aber große Schwierigkeiten bestehen, zu diesen Fragen überhaupt eine Öffentlichkeit herzustellen?

MK: Es ist sehr schwer, da Öffentlichkeit herzustellen. Von denen, die in Deutschland die Organspende organisieren - der Deutschen Stiftung Organtransplantation oder auch manchen Mitgliedern der zentralen Ethik-Kommission der Bundesärztekammer -, wird wenig zur Aufklärung beigetragen. Die behaupten dann, es gäbe eigentlich keine neuen Fakten zum Hirntod. Es ist schwer, dagegen anzukommen, aber ich glaube, die Diskussion, die in der Fachwelt spätestens seit 2008 geführt wird, als der amerikanische Bioethikrat die Hauptargumentation für die Gleichsetzung "hirntot gleich tot" verworfen hat, wird sich nicht mehr lange vor der Welt verbergen lassen. Ich denke, das wird jetzt langsam zum Thema und muß auch zum Thema werden. Diese bisherige Strategie wird der Organtransplantation eher schaden, weil sie nicht gerade dazu angetan ist, Vertrauen zu schaffen.

Martina Keller während des Interviews - Foto: © 2012 by Schattenblick

Tabubruch in Belgien - Euthanasie und Organentnahme auf eigenen Wunsch
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: In Ihrem Vortrag haben Sie auch von acht Euthanasie-Fällen in Belgien berichtet, bei denen Menschen auf ihren eigenen Wunsch hin getötet wurden. Anschließend wurden ihnen, auch auf ihren Wunsch hin, Organe entnommen. Sie galten als schwerstbehindert, vielleicht depressiv, aber nicht sterbend. Ist das ein Dammbruch? Kann man Belgien als einen Prototyp für eine solche Entwicklung in ganz Europa und auch Deutschland ansehen?

MK: Das hoffe ich nicht. Es ist aber ein Tabubruch. Belgien ist ein Land, das Tötung auf Verlangen gesetzlich erlaubt. Es gibt wenige Länder in Europa, die das so handhaben. Die Niederlande und Luxemburg haben auch so ein Gesetz [4]. Das ist eine Schranke, die andere Länder nicht so leicht überwinden und bei Seite schieben werden. Diese enge Kopplung von Tötung und Organentnahme finde ich sehr gefährlich. Ich habe auch bei diesem einen Fall, den ich sehr intensiv recherchiert habe, festgestellt, daß die Interessentrennung, die da unbedingt sein müßte, eigentlich kaum gelingt.

Diese Frau hatte erst einmal diese Idee. Aber dann war da eigentlich niemand, der wirklich mit genügend Expertise, um ihren Sterbewunsch auch noch einmal zu hinterfragen, hingeguckt hätte. Ich weiß nicht, inwiefern es dabei eine Rolle gespielt hat, daß sie dann auch noch Organe spenden wollte. Ich hatte in diesem Fall den Eindruck, daß das irgendwann so eine Eigendynamik entwickelte. Man wollte diese Grenze brechen, und dann war da niemand, der noch an ein Halten gedacht hätte. Das ist jetzt meine Interpretation. Ich finde, man muß sich das im Einzelnen sehr genau ansehen, aber das würde jetzt zu weit führen, wenn ich diese Geschichte noch einmal in allen Einzelheiten nacherzähle. Man kann sie ja nachlesen [5].

Ich halte es für sehr gefährlich, Euthanasie und Organspende so eng miteinander zu verknüpfen. Auch die Art der Todesfeststellung ist in diesem Zusammenhang, wie ich finde, sehr erschreckend. Man hat dort einfach zwei Mediziner nach Aussetzen des Herzschlags den Tod konstatieren lassen. Eine Frist des Abwartens war in diesem Protokoll, bei diesem Vorgehen nicht vorgesehen. Faktisch sind vielleicht nur wenige Minuten vergangen zwischen dem letzten Herzschlag und dem Einschreiten des Transplantationsteams, was ich auch sehr bedenklich finde.

SB: Zwischen einzelnen Ländern - Sie schilderten neben Deutschland die Lage in den USA, Spanien und Italien - gibt es gewisse, zum Teil auch ganz erhebliche Unterschiede, dennoch scheint übergreifend die Tendenz erkennbar zu sein, eine Tötung zum Zweck des Überlebens anderer zu legalisieren. Könnte man dies vielleicht in einem geschichtlichen, ursprünglichen Sinne als einen Akt des "Kannibalismus" bezeichnen? Wenn man sich den Akt der Organentnahme vergegenwärtigt, so wie er geschildert wird, erschiene dies in Hinsicht auf Brutalität und Grausamkeit noch nicht einmal als absolut unangemessen, auch wenn dies heute natürlich in einem vollkommen anderen Kontext steht.

MK: Das verstehe ich. Dennoch zögere ich, diesen Ausdruck selber in den Mund zu nehmen, weil man der kritischen Aufklärung über diese Dinge keinen Gefallen tut, wenn man mit solchen, ganz starken Begriffen arbeitet. Ich finde, es ist sehr erschreckend, was da passiert ist, und ich setze mehr darauf, die Menschen, die das vielleicht lesen, durch eine genaue Schilderung das spüren oder dann selber dazu eine Haltung entwickeln zu lassen. Ich mag diese ganz starken Begriffe nicht. Damit hantiere ich nicht, obwohl ich verstehe, daß da so eine Assoziation entstehen kann.

SB: Würden Sie eine Prognose wagen, gesetzt den Fall, die Transplantationsbetreiber könnten ihre Vorstellungen durchsetzen, wie die Entwicklung in den nächsten drei, fünf oder vielleicht zehn Jahren weitergehen und zu welchen Ergebnissen sie dann noch führen könnte?

MK: Nein, eine Prognose kann ich da nicht wagen. Ich frage mich allerdings, ob das, was jetzt in Deutschland gerade beschlossen wird, nämlich eine noch stärkere, fast penetrante "Information" der Bevölkerung - wobei Information vielleicht auch schon das falsche Wort ist, weil es bislang eher Kampagnen pro Organspende und keine wirklich ausgewogenen Informationen gegeben hat -, tatsächlich zu gut fundierten Entscheidungen führt. Ich bezweifle, daß ein Mehr von dem Gleichen, das wir bislang hatten, die Bereitschaft zur Organspende erhöhen wird, weil man schon merkt, welches Interesse dahinter steht. Ich glaube, daß sich mancher da auch getäuscht fühlt, weil der große moralische Druck, der da aufgebaut wird, und auch diese Informationen, die Ambivalenzen völlig ausblenden, nicht unbedingt dazu angetan sind, mehr Vertrauen zu schaffen. Das aber wäre erforderlich, wenn man die Organtransplantation fördern will.

SB: Eine letzte Frage noch: Vorhin haben Sie gesagt, Journalisten hätten den Auftrag, sich mit nichts gemein zu machen. Bricht sich da Ihr Engagement auf Seiten der Transplantationskritiker nicht auch ein bißchen mit Ihrem Berufsverständnis?

MK: Ich meine nicht, daß man als Journalist keine Haltung haben kann, aber ich versuche, keine ideologischen Texte zu schreiben. Es ist mir ein großes Anliegen, eine kritische Recherche zu machen. Das ist sehr wohl der Auftrag von Journalisten, aber nicht, vorgefaßte Meinungen oder Wertungen zu transportieren. Das ist etwas, hoffe ich, was man bei meinen Texten immer noch selber machen kann.

SB: Ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch.

Martina Keller mit SB-Redakteurin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kritische Recherche als journalistisches Anliegen - Martina Keller mit SB-Redakteurin
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:

[1]‍ ‍Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> MEDIZIN -> REPORT (05.04.2012):
BERICHT/006: Ersatzteillager Mensch - Essener Gespräche (SB)
http://schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0006.html

[2]‍ ‍Dieter Birnbacher, Der Hirntod eine pragmatische Verteidigung, in: B. Sharon Byrd/Joachim Hruschka/Jan C. Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik, Berlin 2007, S. 474f., zitiert aus [3]

[3]‍ ‍Wie tot sind Hirntote? Alte Frage - neue Antworten. Von Sabine Müller, 9.5.2011, aus: APuZ, Aus Politik und Zeitgeschichte, 20-21/2011, 16. Mai 2011, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb:)
http://www.bpb.de/apuz/33311/wie-tot-sind-hirntote-alte-frage-neue-antworten?p=all

[4]‍ ‍Diese gesetzlichen Regelungen sind neueren Datums. In Belgien und den Niederlanden gibt es die Gesetze, die unter bestimmten Bedingungen eine Tötung auf Verlangen erlauben, seit 2002, in Luxemburg seit 2009.

[5]‍ ‍Sterbehilfe - Carine, 43, lässt sich töten. Von Martina Keller, 24.10.2011,Quelle: DIE ZEIT, 20.10.2011 Nr. 43,
http://www.zeit.de/2011/43/DOS-Euthanasie/komplettansicht

24.‍ ‍April 2012