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INTERVIEW/012: Hirntod im Handel - Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie (SB)


Rechtfertigung der Hirntodkonzeption aus christlicher Sicht

Interview am 21. März 2012 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Prof. Dr. theol. Eberhard Schockenhoff lehrt an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für medizinische Ethik und Mitglied des Deutschen Ethikrates, als dessen Stellvertretender Vorsitzender er bis vor kurzem fungierte. Nach der öffentlichen Veranstaltung "Forum Bioethik: Hirntod und Organentnahme" des Deutschen Ethikrates beantwortete der Moraltheologe dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eberhard Schockenhoff
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Schockenhoff, die geplante Einführung der Entscheidungslösung zur Organspende zielt auf eine Steigerung der Verfügbarkeit von Spenderorganen ab. Kann man mit einer solchen Ausrichtung überhaupt noch von einer individuell unabhängigen Entscheidung sprechen, zumal ja ein gewisser moralischer Druck damit aufgebaut wird, daß 12.000 Menschen auf Spenderorgane warten?

Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff: Eine gesetzliche Regelung der Organspende muß zwei Kriterien erfüllen. Sie muß zunächst die Freiwilligkeit hinreichend deutlich machen, daß hier keine soziale Erwartung besteht, der man genügen muß, sondern auch Nichtspende moralisch achtenswert ist, zum Beispiel aus Rücksichtnahme auf die Angehörigen, und eine nichtdiskriminierte Möglichkeit bleibt. Eine moralische Verpflichtung besteht dazu, daß man eine wohlüberlegte Entscheidung trifft, die auch die existentielle Bedeutung des Ausgangs dieser Entscheidung für andere reflektiert, und daß diese Entscheidung konsistent sein muß, das heißt, sie sollte nach dem, was man in der Ethik die goldene Regel nennt, getroffen werden. Wenn ich in dem Fall, daß ich potentieller Organempfänger sein könnte, eigentlich erhoffe, daß mir dann, irgendwie durch eine unsichtbare Hand gesteuert, im rechten Augenblick ein Organ zur Verfügung steht, dann muß ich, damit meine Entscheidung in sich konsistent bleibt und nicht widersprüchlich wird, im umgekehrten Fall, daß ich durch einen Unfall oder ein Ereignis, das ich nicht vorhersehen kann, potentieller Organspender sein könnte, auch dazu bereit sein. Eine gesetzliche Regelung muß also einerseits allen Menschen den Freiraum für eine wohlüberlegte Entscheidung bieten und andererseits das in der Bevölkerung vorhandene Potential auch möglichst ausschöpfen, da man ja von Umfragen her weiß, daß dieses Potential viel höher ist als die Zahl der Organspenden bzw. Organausweise. Denn der Staat hat auch die Aufgabe, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu organisieren. Diese beiden unterschiedlichen Kriterien, Sicherung der Freiwilligkeit und Ausschöpfung des in der Bevölkerung vorhandenen Spendereservoirs, werden, wie ich glaube, gut durch diese Erklärungslösung im Lot gehalten und auf einen Kompromiß gebracht.

SB: Das Konzept der Nächstenliebe spielt eine große Rolle bei der Rechtfertigung der Organspende. Aus laienhafter Sicht verstehe ich Nächstenliebe in einem christlichen Sinne als einen bedingungslosen Akt des Gebens, doch wenn sich das in einem Abtausch von Geben und Nehmen bewegt, fällt es mir schwer, den ethischen Anspruch der Organspende mit der neutestamentarischen Nächstenliebe in Übereinstimmung zu bringen. Wie sehen Sie das als Moraltheologe?

ES: Die Organspende selber ist nicht ein Akt von Geben und Nehmen, sondern der postmortale Spender ist bereit, nach seinem Tod im Geist der Liebe, der Humanität und Mitmenschlichkeit einem ihm unbekannten Menschen zu helfen, daß dieser die Gesundheit wiedererlangt oder zumindest die Chance zu einem Dasein mit guter Lebensqualität erhält. Da gibt es keine Rekompensation oder Gegenleistung. Die Überlegung, ob er zu einem solchen Akt der Solidarität und Liebe bereit ist, sollte nach der goldenen Regel angewendet werden, die auch Jesus in der Bergpredigt, aber ins Positive gewendet, vorführt. Er sagt nicht, wenn du mir gibst, dann gebe ich dir auch, sondern er sagt, alles, was ihr von den anderen erhofft, daß sie euch tun, was ihr euch wünscht im Fall, daß ihr in Not seid, das seid bereit, erstinitiativ ihnen zu geben. Man kann das in der Moralphilosophie auch den Platztausch nennen. Ich tausche mit dem anderen und betrachte mit meinen Augen die Auswirkungen meiner Handlungsweisen für ihn. Und wenn ich diesen Rollenwechsel vornehmen kann und, wie Jesus das sagt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, mit den Augen des Bedürftigen auf mich und meine Handlungsmöglichkeiten schaue, dann habe ich einen Fingerzeig, einen Hinweis, wie ich mich richtig entscheiden kann.

SB: Die Bergpredigt ließe sich vielleicht auch im Sinne einer radikalen Einseitigkeit verstehen, indem Jesus die Bedingungslosigkeit des Gebens unter allen Umständen umsetzt. Das Thema Nächstenliebe wird seit der Havard-Regelung von 1968 immer wieder angesprochen und stellt ein starkes Motiv für die Begründung zur Organspende dar. Allerdings erscheint es mir problematisch, wenn von den Lebenden mehr oder minder mit einem moralischen Druck eingefordert wird, im postmortalen Zustand zu spenden.

ES: Was einer Handlung einen moralischen Wert verleiht, ist, daß der andere sich aus freien Stücken dazu bestimmt hat. Das gilt auch für einen Akt, der aus Nächstenliebe geschieht. Wenn das nicht die freie Selbstverfügung dessen, der ihn setzt, wäre, dann hätte das moralisch keinen Wert. Auf der anderen Seite haben wir die Debatte, ob das dann nicht eine Pflicht zur Nächstenliebe wäre, wenn man die Organspende aus dem Geist der Liebe heraus begründet. Ich glaube, die Liebe ist zwar ein allgemeines Gebot, das für alle verbindlich ist, aber die konkreten Arten und Weisen, wie man aus Liebe handelt, hängen natürlich sehr stark von situativen Gegebenheiten ab, und dazu gehört zum Beispiel auch, daß ich zu ergründen versuche, was eine Organspende für meine Angehörigen bedeutet und ob sie das auch mittragen können. Deshalb kann es auch eine moralisch nicht diskriminierte Möglichkeit bleiben, daß man Nichtspender ist. Das können moralisch achtenswerte Motive sein, vor allem aus Rücksichtnahme auf die Angehörigen. Nicht moralisch achtenswert wäre es, wenn man es aus Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal schwerkranker Menschen tut oder einfach sagt, ich möchte nicht an den Tod denken und daher verdränge ich die Entscheidung einfach. Ich glaube, die Verpflichtung, eine wohlüberlegte Entscheidung zu fällen, läßt sich sehr gut begründen.

SB: In der Veranstaltung wurde mehrfach betont worden, daß ein Organismus keinen Schmerz empfinden könne, wenn der Hirntod diagnostiziert wurde. Das ist eine Meinung, die in Fachkreisen durchaus kontrovers betrachtet wird, zumal niemand wissen kann, was mit einem Hirntoten oder sterbenden Menschen wirklich passiert, da es sich, wie es ja auch als Bedingung für die Diagnose Hirntod gesetzt wurde, um einen unumkehrbaren Prozeß handelt. Wie läßt sich die Behauptung, daß kein Schmerz empfunden wird, mit der Ansicht der Kritiker der Hirntoddiagnostik vereinbaren, die spontane Körperreaktionen bei der Organentnahme als Schmerzerfahrungen deuten?

ES: Das ist natürlich eine spezifisch neurologische Frage, aber nach allem, was Neurologen darüber veröffentlichen, können sie die Vorgänge des Schmerzempfindens sehr gut rekonstruieren. Aufgrund der bildgebenden Verfahren können sie das heute sogar wesentlich besser als noch vor 20 Jahren. So kann man zum Beispiel den Sauerstoff-, den Glukoseverbrauch im Gehirn messen und sichtbar machen. Wenn man das Gleiche bei Hirntoten versucht, sieht man gar nichts, während man bei schwer Geschädigten oder Wachkomapatienten, die ja ganz andere Krankheitsbilder darstellen, immerhin rudimentäre Aktivitäten nachweisen kann. Daraus läßt sich schlußfolgern, daß Wachkomapatienten irgendwelche Empfindungen haben müssen, aber bei Hirntoten sieht man gar nichts. Natürlich kann man letztlich mit Gewißheit immer nur etwas sagen, was man auch wiederholen kann, was sich aus einem Experiment vergleichbar ableiten läßt. Das kann man natürlich bei Toten nie, weil man sich in diese Situation nicht hineinversetzen kann. Aber nach allem, was wir begründet äußern können, wenn wir uns auf empirische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützen, ist das eine verläßliche Aussage.

SB: Frau Förderreuther hat in ihrem Vortrag gesagt, daß ein Organismus mehr ist als die Summe seiner Teile. Das war allerdings bezogen auf ein hierarchisches Modell des Organismus mit dem Gehirn als integrativer Steuerungszentrale und Sitz des Bewußtseins. Interpretiert man ihre Aussage in einem anderen Sinne, dann könnte dieses Mehr als die Summe seiner Teile vielleicht ganz woanders angesiedelt sein, wo wir es nicht vermuten, bevor wir nicht selber in diesem Zustand sind.

ES: Wenn Hirntote nicht künstlich beatmet werden, führt das in sehr kurzer Zeit zum Aussetzen der Herztätigkeit und zu dem, was wir früher als die Todesbestimmung mit Hilfe des Herztodes genannt haben. Es ist ja nicht so, daß das ein lange andauernder stabiler Zustand wäre. Nimmt man das ernst, dann hat man eigentlich einen Hinweis darauf, daß der Organismus das ohne die Integrationsleistung des Gehirns nicht lange selbsttätig aufrechterhalten kann. Und deshalb ist aus meiner Sicht ganz wesentlich, daß die Integrationsfähigkeit des Organismus, die normalerweise vom Gehirn und den anderen Instanzen, die von ihm abhängig daran mitwirken, geleistet wird, eine intensive Aktivität dieses Organismus voraussetzt. Wenn das nicht mehr selbsttätig geschehen kann und irreversibel zerstört ist, dann kann es maschinell offenbar auf einem gewissen Niveau weiter aufrechterhalten werden, aber diese maschinelle Substitution irreversibel ausgefallener Vermögen, die kann man, glaube ich, nicht als Lebendigsein einer Person, eines Menschen ansehen.

SB: Da stellt sich die Frage, wieso eine solche Intervention durch Maschinen überhaupt eingesetzt wird, wenn man einmal vom Nutzen der Organspende absieht?

ES: Der Hirntote, den wir vor Augen haben, ist eigentlich nicht derjenige, der beatmet wird, denn er wird ja nur wegen der Organspende beatmet. Wenn es diesen Nebenzweck nicht gäbe, dann wäre die Person des Hirntoten ohnehin schon tot. Eine intensivmedizinische Behandlung hat normalerweise den Zweck, daß man Zeit für eine Therapie des Patienten in seiner Grunderkrankung gewinnt, und dadurch ist sie auch gerechtfertigt. Im Fall der Organspende ist der Grund für die Aufnahme und Fortsetzung der künstlichen Beatmung, daß man die Organe in einem transplantationsfähigen oder möglichst optimalen Zustand erhalten möchte. Unter der Voraussetzung, daß der Hirntod tatsächlich ein reales Zeichen des Todes ist, erscheint mir das dann auch legitim, daß man den Körper des Verstorbenen noch so lange beatmet, bis man die Organe entnehmen kann. Das ist durch den medizinischen Nutzen für den Empfänger und durch die Willensbestimmung des Organspenders legitimiert.

SB: Frau Förderreuther hat erklärt, sie respektiere religiöse Überzeugungen in Bezug auf den Hirntod, die anderer Art sind als ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie besteht aber letztlich darauf, daß diese handlungsleitend sind. Nun gibt es auch in der katholischen Kirche durchaus Bischöfe, die das Hirntodkriterium als Tod des Menschen ablehnen. Wo bleiben die Menschen mit einem solchen Glaubensbekenntnis im Verhältnis zur Naturwissenschaft, die letztlich über die Bestimmung von Tod und Leben entscheidet?

ES: Man kann nicht sagen, daß das Christentum das Hirntodkriterium aus religiöser Überzeugung grundsätzlich ablehnt. Ich kann nur als katholischer Theologe sprechen. In der Lehrmeinung der katholischen Kirche gibt es dazu keine offizielle religiöse Stellungnahme, aber die Päpstliche Akademie der Wissenschaften hat eine Erklärung abgegeben, in der das akzeptiert wird, und es gibt auch Äußerungen der Päpste in Reden, die das als eine wohlbegründete medizinische Konzeption ansehen. Wenn jemand das aus persönlichen Gründen ablehnt, und es gibt auch einzelne Bischöfe, die dem kritisch gegenübertreten, dann ist das ihr privates Urteil, das auch ernst zu nehmen ist, aber sie vertreten in diesem Punkt nicht Lehrmeinungen der katholischen Kirche. Wenn ein einzelner aufgrund seiner religiös motivierten Überzeugung zu dem Ergebnis gelangt, daß er das Hirntodkriterium ablehnt, dann darf er für sich eben nicht einen Organspendeausweis beantragen und wird vielleicht auch darauf drängen, daß seine Angehörigen das nicht tun. In diesem Sinne ist dem selbstverständlich Rechnung zu tragen und ist das auch zu respektieren.

SB: Sind Sie sich sicher, daß diese Freiwilligkeit immer gegeben sein wird? Es hat ja in der Geschichte bereits Übertretungen in diese Richtung gegeben, und es wird heutzutage zum Beispiel von englischen Bioethikern die Forderung nach einer Vergesellschaftung des Körpers aufgestellt.

ES: Das lehne ich ganz strikt ab. Deshalb ist eine Widerspruchsregelung aus moralischer Sicht sehr problematisch. Die Selbstverfügung des einzelnen über die Organe seines Körpers nach seinem Tod ist in moralischer Hinsicht die Legitimation, die die ganze Organspende trägt. Es stimmt, in England haben wir eine ganz andere ethische Sichtweise, die sehr viel stärker durch utilitaristische Traditionen bestimmt wird. Da gilt die Nutzensumme für die Allgemeinheit als das entscheidende ethische Kriterium. Wenn man das auf die Organspende anwendet, dann würde das bedeuten, daß der Körper des Verstorbenen an die Gesellschaft zurückfällt. Wenn man das noch weiter denkt, dann wären wir zu Lebzeiten nur vorübergehend freigesetzte Körper, die uns aus dem Gesamtkörper der Gesellschaft übertragen werden. Danach fallen sie in die Dispositionsbefugnis der Gesellschaft zurück. Das ist mit einem freiheitlichen Menschenbild, wie wir das auch in unserer Verfassung grundgelegt haben, nur schwer vereinbar. Deshalb bin ich auch froh, daß wir die Widerspruchsregelung bei uns nicht haben.

Und die Erklärungsregelung wäre eben etwas, was den Kern der Zustimmungsregelung sogar noch stärker zur Geltung bringen würde als wir es bisher haben. Denn bisher sind die Angehörigen der Adressat eines unausgesprochenen Wunsches oder einer Erwartung. Sie haben den Schwarzen Peter und müssen sich entscheiden. Deshalb wäre es eigentlich besser, wenn man eher einen gewissen Druck aufbaut, damit die Menschen in regelmäßigen Abständen zu einer wohlüberlegten Entscheidung aufgefordert werden. Klar ist, es muß dabei vorausgesetzt sein, daß sie nicht unter der irrigen Annahme sich entscheiden, sie könnten medizinische Nachteile haben, wenn sie gegen die Organspende optieren. Die medizinische Versorgung und Behandlung muß völlig unabhängig davon sein, ob ich nun Organspender bin oder nicht.

SB: Wir hatten heute abend schon in Ansätzen eine Diskussion - die insofern mit dem Besuch von Herrn Shewmon zu tun hat, als die Debatte zum Thema Hirntod in den USA vielleicht etwas weiter ist als in Deutschland - darüber, welche Konsequenzen es hätte, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, daß der Hirntod nicht der Tod des ganzen Menschen ist. Dazu wurde jüngst im Fernsehen ein Chirurg befragt, der die Meinung vertrat, daß man Menschen im Zweifelsfall unabhängig von der Feststellung ihres Todes bei Zustimmung der Angehörigen explantieren sollte. Wie kann man also garantieren, daß sich die ethische Rutschbahn nicht irgendwann verselbständigt?

ES: Das ist ja gerade die Funktion, die dieser Regel zukommt, daß eine zweifelsfreie Todesfeststellung die moralische Voraussetzung für die Legitimität der Organentnahme ist, die sogenannte dead donor rule. Sie haben gesagt, daß die Debatte in den USA weiter fortgeschritten sei. Dort ist die Debatte sozusagen wieder aufgeflackert, aber in dieser auch heute abend zur Sprache gekommenen Stellungnahme des President's Council on Bioethics, der dem Deutschen Ethikrat entspricht, werden zwar viele neue empirische Beobachtungen aufgeführt, aber dann versucht jedenfalls die Mehrheit in dieser Stellungnahme zu begründen, warum man trotz dieser Erkenntnisse das Hirntodkriterium als wohlbegründet ansehen kann. Man möchte dafür eine neue Begründung geben.

Es wird hervorgehoben, wie wichtig die dead donor rule ist, und zwar nur dann, wenn wir es mit einer zweifelsfrei festgestellten Todesursache zu tun haben. Mit Eintritt des Todes ist die Organentnahme legitim. Das ist aus meiner Sicht ein starkes Gegenargument gegen diese Lösung, die sich als vorsichtiger und zurückhaltender ausgibt, tatsächlich aber sehr viel weiter geht. Dort wird gesagt, wir wissen nicht, ob ein Organspender tot ist, wir können nur sagen, er ist irreversibel sterbend oder befindet sich in einem Zwischenzustand. In gewisser Hinsicht wirkt er wie tot, in anderer Hinsicht wirkt er lebendig. Ich glaube, daß damit die klare Bedingung, unter der die Organspende überhaupt nur geschehen kann, tatsächlich aufgeweicht würde. Dann müßten wir Sorge haben, daß der Druck sehr viel größer wird, daß sich zum Beispiel im Zusammenhang mit einem ärztlich assistierten Suizid die Frage nach der Organentnahme stellen könnte. Mit Blick darauf könnte auch die Frage nach Behandlungsabbruch nicht mehr auf die Eigenperspektive des Betreffenden, sondern auf eine mögliche Organentnahme gerichtet sein, dann könnte man auch in der Perinatalmedizin die Behandlung von Ungeborenen oder Frühgeborenen einstellen. Da sind viele Verknüpfungen denkbar, die tatsächlich eine schiefe Ebene begründen würden. Und deshalb meine ich, daß die Organspende aus ethischen Gründen unter zwei Voraussetzungen gerechtfertigt ist, erstens, daß der Tod zweifelsfrei festgestellt ist, und zweitens, daß der Organspender selbst zu Lebzeiten eine entsprechend wohlüberlegte Entscheidung gefällt hat.

SB: In einer globalisierten Welt sind wir natürlich auch in der nationalen Rechtsprechung nicht ganz isoliert. So wird in der Stellungnahme des President's Council on Bioethics in Anbetracht der Fragwürdigkeit der Hirntodkonzeption die Forderung erhoben, den Tod des Menschen über seine Interaktionsfähigkeit mit der Umwelt zu definieren. Dazu gibt es drei Kriterien, die geradezu einen anthropologischen Paradigmenwechsel einleiten. Was sagen sie zu einer solchen Entwicklung?

ES: Es gibt in den USA und in Großbritannien Entwicklungen, die schon viel weiter gegangen sind, etwa auf dem Gebiet der Leihmutterschaft, wo wir in Deutschland vor 30 Jahren in einem breiten gesellschaftlichen Konsens die Entscheidung gefällt haben, daß wir diese Entwicklung aus guten moralischen Gründen bei uns nicht wollen. Sowohl im Blick auf die Hirntodfeststellung und die befürchtete Aufweichung hin zu Teilhirntodkriterien als auch im Prinzip auf Phänomene wie Leihmutterschaft, Samenspende usw. haben wir diesen Konsens in den letzten 40 Jahren aufrechterhalten können, und deshalb scheint mir, daß wir uns auch als einzelnes nationales Land tatsächlich gegen die Einflüsse aus den USA oder Großbritannien behaupten können, solange dieser breite gesellschaftliche Konsens besteht. Natürlich muß man die Gründe, die man dafür hat, immer wieder plausibel machen, aber das ist bislang gelungen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Anforderungen an die Hirntodfeststellung bei uns in Deutschland irgendwie aufgeweicht worden wären.

SB: Bei der Transplantationsmedizin handelt es sich um eine Form von Hochleistungsmedizin mit sehr hoher Mittelaufwendung. Gleichzeitig gibt es sogar in Deutschland Menschen, die keine angemessene medizinische Versorgung erhalten. Weltweit hat man es mit einer ungeheuren medizinischer Unterversorgung zu tun. Wie rechtfertigt sich eigentlich, aus christlich-ethischer Sicht, ein solch groteskes Mißverhältnis?

ES: Daß wir mit dem, was bei uns eine Organtransplantation kostet, einem vielfachen mehr an Menschen die medizinische Grundversorgung in den armen Ländern gewährleisten könnten, ist eine der Verrücktheiten unseres weltweiten Wirtschafts-, Sozial- und Medizinsystems. Natürlich kann man das aus der individuellen Handlungsperspektive nicht lösen. Was man allerdings sagen kann, ist, daß wir als reiche Länder die Verpflichtung haben, den armen Ländern in der Entwicklungszusammenarbeit zum Aufbau eines besseren medizinischen Systems der Basisversorgung ihrer Bevölkerung zu helfen. Daß der einzelne, wenn er sich als Christ versteht, die Verpflichtung hat, mit dem, was für ihn Überfluß ist, anderen zu helfen, ist eine moralische Forderung, die nicht nur das Geben von Almosen meint, sondern ein Problem struktureller Gerechtigkeit darstellt, zu dem der einzelne aber auch mit seinen Mitteln beitragen kann. Natürlich haben wir als forschungsstarke Länder auch eine Verpflichtung dazu, die medizinische Forschung in die Richtung zu lenken, die nicht nur unseren Wohlstandskrankheiten zugute kommt. Und deshalb ist eben auch staatliche Forschungsförderung wichtig. Das darf man nicht nur den Pharmakonzernen überlassen. So könnte man mit dem, was Sie diese große Diskrepanz nennen, die tatsächlich erschreckend ist und die man eigentlich moralisch nicht rechtfertigen kann, vielleicht in individuellen Verantwortungskreisen umgehen.

SB: Herr Schockenhoff, vielen Dank für das Gespräch.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eberhard Schockenhoff mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

8.‍ ‍Mai 2012