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INTERVIEW/031: Der Entnahmediskurs - Vertrauen auf das Recht, Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Gutmann (SB)


Interview am 14. September 2013 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld



Der Jurist, Politikwissenschaftler und Philosoph Prof. Dr. Thomas Gutmann, M.A., ist seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. Thomas Gutmann
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf der Tagung "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" in Bielefeld hielt Thomas Gutmann einen Vortrag zum Thema "Playing Dumb (The Dead Donor Rule)". Wie er eingangs feststellte, sei aus rechtlicher Sicht ein klares Todeskriterium unverzichtbar, wofür ihm der vollständige Hirntod am besten geeignet erscheine. Hingegen könne man nicht die Organentnahme nach Herz-Kreislauf-Stillstand (DCD) praktizieren und zugleich die Totespenderregel (DDR) aufrechterhalten, ohne sich dumm zu stellen. In Deutschland ist DCD gegenwärtig nicht möglich, da das Transplantationsgesetz eine Organentnahme für unrechtmäßig erklärt, sofern nicht zuvor das Erlöschen aller Hirnfunktion einschließlich des Stammhirns gemäß dem Stand ärztlichen Wissens nachgewiesen ist.

Der deutsche Weg halte sich also an das Kriterium des vollständigen Hirntods und die Totespenderregel, während DCD verboten bleibt. Letzteres habe allerdings seinen Preis, da man möglicherweise bis zu 70 Prozent potentielle Spender verliere, während Patienten auf den Wartelisten sterben. Daher müsse man darüber nachdenken, ob, und wenn ja wie, DCD gerechtfertigt werden kann. Wollte man die Voraussetzungen auch in Deutschland ändern, wäre denkbar, DCD dann für zulässig zu erklären, wenn auch sämtliche Hirnfunktionen einschließlich des Stammhirns erloschen sind. Allerdings wird sehr kontrovers diskutiert, nach welcher Zeitspanne das der Fall ist. Während das Maastricht-Protokoll dafür 10 Minuten nach ununterbrochenem Ausbleiben der Herz- und Kreislauffunktionen ansetze, forderte die Bundesärztekammer 1998 mindestens 12 Stunden oder auch bis zu 3 Tage. Dieser Auffassung zufolge werden in Belgien, Großbritannien, der Schweiz und den USA Menschen zum Zweck der Organentnahme getötet. Aus diesem Grund dürfen keine Organe von solchen Spendern deutschen Patienten implantiert werden.

Aus Sicht der Transplantationsmedizin sind selbst 10 Minuten zu lang, und so wartet man in den USA selten länger als 2 bis 5 Minuten, wobei auch diese Zeitspanne immer weiter verkürzt wird. Diese Praxis gibt zwangsläufig zu Befürchtungen in der Öffentlichkeit Anlaß, daß eine mögliche Wiederbelebung unterlassen wird. Der amerikanische Mainstream der Transplantationsmedizin gebe also vor, sich an die DDR zu halten, kümmere sich jedoch de facto nicht darum und führe DCD durch.

Nach amerikanischem Standard ist es ethisch und rechtlich statthaft, Organe zu entnehmen, wenn der permanente Stillstand (wird nicht zurückkehren) des Kreislaufs und der Atmung postuliert wird, bevor tatsächlich irreversibler Stillstand (kann nicht zurückkehren) eingetreten ist. Damit würden Normen nach Maßgabe eigenen Interesses geschaffen, da mit Hilfe der normativen Reinterpretation - Permanenz - von Irreversibilität Menschen für tot erklärt werden, obwohl viele von ihnen erfolgreich ins Leben zurückgebracht werden könnten. Es handle sich um eine moralische Fiktion zu dem Zweck, die Totespenderregel symbolisch aufrechtzuerhalten, während die gängige Praxis dagegen verstößt, so der Referent.

Als eine weitere mögliche Option schlug Gutmann vor, die Organspende vom Todeskonzept zu trennen und sie auf die Autonomie am Lebensende zu gründen. Man dürfe Sterbenden Organe entnehmen, weil sie dem zugestimmt haben. Alle westlichen Rechtssysteme könnten gute Gründe anführen, dem Individuum uneingeschränkte Entscheidungsautonomie zu garantieren, ohne eine Debatte über freiwillige Euthanasie loszutreten. Es könnte durchaus ethisch und legal angemessen sein, Organe zu entnehmen, wenn der permanente Kreislauf- und Atemstillstand vor dem irreversiblen eingetreten ist. Da die Entscheidung, Organspender zu werden, ohnehin finaler Art sei, bleibe es eine offene Frage, ob in einem Rahmen pluralistischer Werte der Weg des amerikanischen Mainstreams, DCD anzuwenden, nicht die insgesamt beste Lösung sei.

Der Schattenblick nahm die Gelegenheit wahr, Thomas Gutmann nach seinem Vortrag einige Fragen zu stellen.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Beim Vortrag
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Gutmann, Sie haben in Ihrem Vortrag dafür plädiert, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu sagen. Wie weit müßte man dabei gehen und warum wäre das aus Ihrer Sicht ein Lösungsweg?

Thomas Gutmann: Ich habe in meinem Vortrag darüber gesprochen, daß eine Politik, die den Leuten die Wahrheit sagt, in unserer Medienlandschaft, in der problematischen Verfaßtheit unserer öffentlichen Diskussionen, bedauerlicherweise oftmals nicht funktioniert. Entschließt man sich, ein Organspender zu sein, hat das wahrscheinlich indirekt Einfluß darauf, wie man stirbt. Stirbt man im Krankenhaus, dann führt diese Entscheidung dazu, daß die Ärzte an dem Punkt, an dem sie nichts mehr für einen tun können, ihren Blick wechseln und sich überlegen müssen, wie sie die Organe bewahren, mit denen man anderen Leuten helfen kann. In der Praxis ist das sehr schwierig, da man relativ früh und zum Teil vielleicht auch schon vor Eintritt des Todes im Hinblick auf die Qualität der Organe einige Maßnahmen ergreifen muß. Auch wenn man natürlich bis zur letzten Sekunde für das Leben des Patienten kämpft, wird man ab dem Zeitpunkt, an dem klar ist, daß man den Kampf verloren hat, beginnen müssen, an die Organe zu denken, und zwar ganz unabhängig von der geltenden Todesdefinition - ob wir nun wie in Deutschland ausschließlich von Menschen sprechen, bei denen wir in einem komplizierten mehrstündigen Verfahren den Hirntod festgestellt haben, oder ob es wie in den Nachbarländern Menschen sind, die nach Herztodkriterien für tot erklärt werden.

Wir sollten den Leuten deutlicher sagen, daß Organspender zu sein eine Entscheidung darüber ist, wie sie sterben möchten. Damit ist ein ganz praktisches Problem verbunden. Wir haben, seit vor drei Jahren das Gesetz geändert wurde, das Instrument der Patientenverfügung rechtlich anerkannt. Wir alle können sehr genau - es gibt wunderbare Formulare dazu - und nach Rücksprache mit unseren Ärzten festlegen, was wir wollen und nicht wollen, das für uns in bestimmten Situationen gemacht wird. Die Möglichkeiten, die Art seines Lebensendes vorherzubestimmen, soweit das Schicksal das zuläßt, ist heute so gut wie nie. Es gibt jedoch sehr viele Menschen, die nicht wollen, daß die Apparatur der High-End-Gerätemedizin bis ins letzte ausgereizt wird, wenn es nach ihrer eigenen Auffassung für sie selber keinen Sinn mehr macht.

Gleichzeitig wollen sie aber Organspender sein, und das paßt nicht so ohne weiteres zusammen. Wir können bei vielen Menschen Dinge, die wir machen müßten, damit sie ihren Wunsch, Organspender zu sein, nach ihrem Tod oder im Sterben realisieren können, nicht tun, weil sie Patientenverfügungen haben, die, wenn Sie so wollen, über das Ziel hinausschießen. Schon dieses Problem zeigt Ihnen, daß die Entscheidung, ein Organspender zu sein, auch eine Entscheidung über die Art und Weise ist, was mit mir im Sterbeprozeß medizinisch unternommen wird. Man braucht also das ganze Bild.

Wollen wir den Menschen helfen, daß sie uns einerseits in ihren Patientenverfügungen möglichst genau sagen, was man machen soll, wenn wir sie nicht mehr fragen können, und uns gleichzeitig erlauben sollen, die Organspende zu realisieren, müssen wir Klartext reden. Was kann man ankreuzen, was kann man nicht ankreuzen? Was ist es genau, was ich will, in meinen vielleicht einander widersprechenden Zielen?

In diesem Punkt sollten wir deutlicher aufklären. Wir gehen oft von dem Grundsatz aus, daß die Aufklärung zur Organspende ergebnisneutral sein muß. Ich halte das für falsch. Jeder von uns hat das von der Verfassung garantierte Recht zu sagen, er möchte damit nichts zu tun haben. Und niemand von uns kann gezwungen werden, einen Grund dafür anzugeben, warum er kein Organspender sein will. Aber der Staat hat das Recht, uns alle regelmäßig damit zu konfrontieren, daß wir im Sterben Leben retten können. Und der Staat hat das Recht, von uns zu verlangen, daß wir uns Gedanken machen, ob wir das nach unseren ganz eigenen Kriterien können und wollen. Ich halte es für radikal falsch, dem Staat eine Neutralitätspflicht aufzuerlegen, da er die Pflicht hat, das Leben der Menschen auf den Wartelisten zu retten, sofern er dafür nicht in unsere Rechte als Spender eingreifen muß. Er kann uns daran erinnern, daß wir möglicherweise moralische Pflichten haben, über die wir zumindest nachdenken sollten. Insofern heißt mein Appell, der Staat sollte die Bevölkerung noch besser und offener über die Organspende aufklären wie auch darüber, daß es eine Entscheidung ist, die nicht nur meinen Zustand nach Eintritt des Todes betrifft, sondern schon Vorwirkungen hat.

SB: Wir haben vorhin darüber diskutiert, wer bei der politischen Weichenstellung der Souverän sein sollte. Darf nur das Parlament darüber entscheiden? Ist eine Verfassungsänderung erforderlich? Man betritt offenbar ein sehr problemträchtiges Feld, wenn man die Frage aufwirft, wer die letztendlich entscheidenden Informationen dazu beisteuert. Besteht nicht die Gefahr, daß ein kleiner Kreis von Experten oder gar Lobbyisten den Kurs vorgibt?

TG: Wir sprechen hier auf diesem Kongreß über den Todesbegriff und die Organspende. Dabei sind wir in der Diskussion binnen kurzem auf ein anderes Thema gestoßen, nämlich die Verteilung der Organe. Dabei haben wir wahrscheinlich die schlimmste Entscheidung zu treffen, die wir diesseits des Krieges in einem Staat treffen müssen. Es geht nicht ums Geld, sondern die fehlenden Organe, mit denen wir Leben retten oder Leiden vermindern können. Bei Leber und Herz ist es unmittelbar lebensrettend, bei der Niere haben wir die Dialyse, da entscheidet ein Spenderorgan, das wir zuteilen, über Lebensqualität und Lebensdauer. Es handelt sich also direkt oder indirekt um eine Entscheidung über Leben und Tod. Wenn wir in einem bestimmten Bereich der Leber- und Herzerkrankungen, Lungenerkrankungen, etc. nicht alle Leute retten können, müssen wir uns als Bürger fragen, wer leben darf und wer sterben muß. Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man eine Vielzahl von medizinischen Daten und Fakten im Blick hat. Man muß sie beachten, doch können sie über die Entscheidung als solche, die normativer Natur ist, nicht verfügen.

Um ein Beispiel zu geben: Von zwei Patienten mit Hepatitis C ist Patient A im Endstadium. Er ist dunkelgelb angelaufen, multimorbid, schwerkrank und wird - das kann man sehr gut prognostizieren - in zwei Wochen tot sein. Bekommt er eine Leber, lebt er vielleicht noch drei Jahre, was man nicht exakt, aber so ungefähr prognostizieren kann. Im Bett neben ihm liegt Patient B mit Hepatitis C in einem früheren Stadium, der in fünf Jahren genauso wie unser Patient A aussehen wird. Bekommt B, der noch viel weniger geschädigt ist, die Leber, lebt er mit ihr vielleicht 20 Jahre. Die Mediziner können uns ganz genau erklären, warum der eine in zwei Wochen stirbt, der andere in ein paar Jahren, warum der eine vielleicht nur drei Jahre mit der Leber lebt, der andere aber 20 Jahre. Doch die Entscheidung, wer von den beiden die Leber bekommt, können Sie mit medizinischen Mitteln nicht treffen. Das ist eine normative Entscheidung nach moralischen, rechtlichen und vielleicht auch politischen Gesichtspunkten. Sie müssen also, um bei dem Beispiel der beiden Patienten zu bleiben, eine normative Grundsatzentscheidung treffen. Was ist wichtiger, Dringlichkeit oder Erfolgsaussicht?

Und diese normative Grundsatzentscheidung kann nur das Parlament treffen. Will man im Anschluß daran operationale Regeln formulieren, braucht man natürlich sehr viel medizinischen Sachverstand. Man muß aber dafür sorgen, daß dieser Sachverstand in Umsetzung der vorangegangenen demokratischen Entscheidung eingebracht wird. Und das geschieht bei uns in Deutschland nicht. Die Schweizer machen das so, dort stehen einige Kriterien zur Verteilung von Organen in der Verfassung, andere im Gesetz. Feinere Kriterien werden im zuständigen Ministerium erarbeitet, und daran sind sehr viele Mediziner beteiligt, aber die Beamten im Ministerium achten darauf, daß die Mediziner ihren Job machen, nämlich ihren medizinischen Sachverstand einbringen, um die normativen Entscheidungen, die der Gesetzgeber getroffen hat, demokratisch legitimiert möglichst exakt umzusetzen. Wir haben überhaupt keine Kontrolle, wir haben dieses Problem einfach in die Hinterzimmer der Bundesärztekammer abgeschoben, und die macht, was sie will. Das ist Willkür und in einem demokratischen Rechtsstaat nicht möglich.

Daher lautet die Antwort auf Ihre Frage, daß nur das Parlament die Entscheidung treffen kann, wenn es um die Zuteilung von lebensrettenden Ressourcen geht. Geht es hingegen um die Frage, wie wir sterben wollen, entscheiden wir ausschließlich allein, jeder für sich selbst, nach seinen ureigenen Kriterien oder Maßstäben und ohne daß wir irgend jemand Rechenschaft dafür schuldig wären, was wir dabei für richtig oder falsch halten. In dieser Hinsicht greift ein ganz starkes Freiheitsrecht.

SB: Die Rede war auch von einem deutschen Sonderweg in dieser Frage, der sich natürlich historisch erklärt. Man hat vergleichsweise hohe Schranken gesetzt, um bestimmten Entwicklungen der Vergangenheit nie wieder die Türen zu öffnen. Sie haben dieses Erbe aber auch in gewisser Weise als Hemmnis ausgewiesen. Haben wir es nicht mit Zweifeln und Bedenken zu tun, die, wie begründet oder instinktiv auch immer, angesichts der deutschen Geschichte geboten und notwendig sind?

TG: Wir tragen eine Verantwortung, die sich aus unserer Geschichte begründet, und wir haben eine eigene Tradition, mit der wir umgehen müssen. Ich glaube allerdings, daß wir nicht aus der Geschichte des Nationalsozialismus lernen sollten, daß es angemessen ist, wieder Normen festzulegen, die die Selbstbestimmungsrechte von Menschen verletzen. Wir müssen aus der Geschichte auch nicht lernen, daß schlechte Bioethik besser als gute Bioethik ist. Ich glaube, daß wir das Argument des Nationalsozialismus in unseren tatsächlichen Diskussionen sehr oft nur im Munde führen, aber in der Substanz verraten und verdrehen. Es wird heute über die Möglichkeit diskutiert, nicht hirntote, sondern nur herztote Patienten zu Organspendern werden zu lassen. Da gibt es eine sehr kritische Diskussion mit dem Resultat, daß wir Deutsche so etwas nicht machen. Der Rest der Welt macht es jedoch. Ob die deutsche Entscheidung, dieses Faß nicht aufzumachen, am Ende wirklich die weiseste ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist es schwierig, dieses Faß aufzumachen, weil das mit moralischen Kosten verbunden ist und ernsthafte Probleme produziert.

Der Grund für diese Diskussion ist jedoch, daß wir Menschen auf den Wartelisten haben, von uns geliebte Verwandte, Ehepartner, Kinder, Eltern, die sterben, weil es zu wenig Organe gibt. Und die Briten, Holländer und Belgier haben gezeigt, daß man, wenn man eine Politik zuläßt, die Organe von Herztoten nimmt - die Begriffe "hirntot" und "herztot" sind ohnehin irreführend -, bis zu 70 Prozent mehr Organspender bekommen kann, und das heißt, Menschen zu retten. Ich wehre mich dagegen, daß man diese Diskussionen immer auf diese vulgäre Art mit einer Logik des Verdachts totschlägt. In Transplantationszentren arbeiten Menschen, die Interessen haben, es sind Institutionen beteiligt, die ihrerseits Interessen haben, und diesen Interessenträgern muß man auf die Finger schauen. Aber die Praxis, der Wunsch, mehr Organspender zu haben, ist primär gerechtfertigt dadurch, daß wir die Pflicht haben, es zu vermeiden, daß Menschen ohne zwingenden Grund sterben müssen vor der Zeit und leiden müssen ohne zwingenden Grund. Und das müssen wir ernst nehmen.

Es ist ein extremer Unterschied zwischen einer robusten Definition des Todes, die uns erlaubt, nach gehöriger Aufklärung der Bevölkerung mehr Organspender zu gewinnen, weil ich Menschenleben retten will, und einer Nazipolitik, die immer auf die Tötung, die Zerstörung von Leben, das Foltern von Menschen angelegt war und die schlechthin keiner Rechtfertigung zugänglich ist. Wir haben ein hochrangiges, moralisch gerechtfertigtes Ziel. Das heißt nicht, daß jeder Beteiligte im Transplantationssystem sich ständig davon leiten läßt. Das heißt nicht, daß wir keine Kontrollen brauchen, aber das heißt, daß die Praxis der Transplantationsmedizin eine tiefe moralische Fundierung hat. Und die will ich verteidigen, bei aller Kritik an dem, was in Deutschland in der Transplantationsmedizin los ist. Denn was bliebe andernfalls? Sollten wir als vermeintliche Lehre aus den Mißbräuchen des Nationalsozialismus eine Todesdefinition wählen, die möglichst spät angesiedelt ist? Ich glaube vielmehr, daß eine Lehre aus dem Nationalsozialismus eine Politik ist, die den grundrechtlich geschützten besten Interessen der beteiligten Personen am besten gerecht wird. Und das ist das Grundrecht auf Selbstbestimmung über das eigene Lebensende, das wir alle haben, das Grundrecht darauf, daß kein Leben unnötig verkürzt wird, aber auch das Grundrecht darauf, daß der Staat seiner Schutzpflicht nachkommt, wenn ich schwerkrank bin, im Rahmen des rechtlich Möglichen und moralisch Gerechtfertigten dafür zu sorgen, daß wir ein vernünftiges und effizientes Organspendesystem haben, damit ich eine Überlebenschance habe als Leberpatient, als Nierenpatient. Das Recht der Patienten auf den Wartelisten, daß ihnen geholfen wird, ernst zu nehmen als Grundrecht, wäre meines Erachtens ein gutes Prinzip, das wir beherzigen sollten, wenn wir uns möglichst weit entfernen wollen vom Unrecht des Nationalsozialismus.

SB: Sie haben die Interessen der Beteiligten im Gesundheitswesen angesprochen. Inwieweit findet da eine Kommerzialisierung statt, weil es zum einen ein Hightech-Betrieb ist, in dem sehr hohe Kosten entstehen, aber zugleich entsprechende berufsständische und karrierebezogene Optionen winken? Steht nicht zu befürchten, daß sich solche Interessenlagen verselbständigen und entscheidend Einfluß nehmen?

TG: Ich wundere mich immer ein bißchen, daß dieses Kommerzialisierungsargument nur bei der Organspende vorgetragen wird. Wir sind ein Gemeinwesen, das die Motive, Geld zu verdienen, Karriere zu machen, sich zu beweisen, exzellent zu sein, tolle Dinge zu machen als Motive anerkennt. Die besten Dinge, die wir haben, werden davon angetrieben. Es ist mir relativ egal, ob der Wissenschaftler, der hoffentlich bald das wirksamste Medikament gegen den Krebs erfindet, das tut, weil er nur dienen will, oder weil er sich den Nobelpreis verdienen will, oder weil er arrogant und eitel ist und glaubt, daß er einfach klüger ist als die anderen, oder erhofft, daß er hinterher über das Patent auch noch Geld verdient. In einem liberalen Rechtsstaat müssen wir keine Heiligen sein. Wir müssen unsere Rollen erfüllen, und wir müssen uns an die Regeln halten, die das Recht uns vorgibt.

Nehmen wir das Beispiel der Uniklinik Münster, die ich sehr gut kenne, da arbeiten großartige Mediziner. Ich möchte, daß sie sich ganz exakt an alle rechtlichen Regeln halten, die wir ihnen gegeben haben, und ich möchte, daß sie sensibel nachdenken über ihre moralischen Pflichten ihren Patienten gegenüber und daß sie ihren Job richtig machen. Ich würde mir aber niemals anmaßen zu sagen, ich finde es nicht in Ordnung, daß ihr auch von Eitelkeit, von Karrierestreben und dem Wunsch, Geld für euch und eure Familien verdienen zu wollen, motiviert seid. Was ist daran falsch? Wir sollten nur keine falschen Anreize setzen. Wir müssen aufpassen - das gilt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens -, daß wir nicht Situationen schaffen, in denen Menschen strukturell in Versuchung sind, das Falsche zu tun, weil sie davon profitieren. Aber ich sehe diese Anreizstrukturen nicht.

Nehmen Sie das Beispiel der Fälle, in denen Transplantationsmediziner den Anreiz haben, ihre eigenen Patienten bei der Organspende bevorzugt zu sehen. Manche kriegen ein bißchen Geld, wenn sie einen Patienten mehr haben. Für die Krankenhäuser rechnen sich Transplantationen manchmal, manchmal nicht. In mancher Hinsicht ist es sogar ein Draufzahlgeschäft. Wenn man mehr Patienten hat, kann man bessere Vorträge auf Kongressen halten, es ist also wirklich erkenntnisleitend. Den meisten Transplantationsmedizinern erwachsen keine unmittelbaren Vorteile aus ihrer Tätigkeit, aber sie fühlen sich ihren Patienten massiv verpflichtet. Sie wollen ihre Patienten, die sie in den Sprechstunden sitzen oder in ihren Betten liegen haben, möglichst gut versorgen. Das Motiv, diesen Patienten zu helfen, weil es die eigenen Patienten sind, weil die Arzt-Patienten-Beziehung immer individuell ist, läßt sich nicht komplett auflösen in Pflichten allen Patienten gegenüber. Ich glaube, daß dieses Motiv in der Praxis vielleicht nicht bei allen, aber bei fast allen Medizinern das leitende ist. Warum kritisieren wir nicht gute Anwälte dafür, daß sie als Anwälte so gut sind? Warum sind sie gut? Weil sie Geld verdienen wollen. Warum bewerben sich Politiker für Mandate? Warum wollen Leute in die Vorstände von großen Aktiengesellschaften? Wir leben in einer Gesellschaft, in der diese Motive einfach legitim sind.

SB: Im Zusammenhang mit der Organspende fällt auch das Stichwort "Solidarität". Besteht nicht die Gefahr, daß diese Forderung, der Mensch habe auch eine gewisse Verpflichtung anderen gegenüber, in eine falsche Richtung gelenkt wird und in eine bioorganische Bürgerpflicht mündet, indem man sagt, dein Körper und seine Befindlichkeit gehören dir nicht allein, das ist ein gesellschaftliches Gut, über das auch andere entscheiden dürfen?

TG: Das ist eine schöne Frage, und die Antwort lautet nein. Ich spreche jetzt mal für mich. Ich vertrete als Philosoph und als Jurist eine Position, die vor allem darauf abstellt, daß wir Selbstbestimmungsrechte über unseren Körper haben. Das Bundesverfassungsgericht hat wunderbar gesagt, daß das Recht, über unseren eigenen Körper zu bestimmen, ein Freiheitsrecht ist. Eines der wichtigsten Freiheitsrechte, die wir haben, ein Recht, bei dem wir nichts und niemandem Rechenschaft schuldig sind, wie wir es ausführen. Im Zentrum meiner Arbeit, ob als Medizinjurist oder Philosoph, geht es mir darum, unser Selbstbestimmungsrecht zu stärken. Ich möchte, daß niemand reinredet beim Organspenden, niemand reinredet bei den Behandlungen, die ich an meinen Körper lasse oder nicht lasse, niemand reinredet - in den Grenzen, die das Schicksal mir erlaubt -, darüber zu bestimmen, wie ich einmal sterben oder nicht sterben möchte. Und ich möchte, daß das Gesetz mir nicht reinredet, was mit meinen Organen passiert, weder während ich lebe, noch im Sterbeprozeß und danach. Das heißt, ich vertrete durchgehend eine ganz starke liberale Interpretation vom Grundgesetz garantierter Rechte.

Dennoch bin ich der Meinung als einer, der nicht im politischen, aber im juristischen Sinne liberal ist, daß wir einander gegenüber minimale Solidaritätspflichten haben als Bürger, einander gegenüber als Fremde. Wir kennen uns ja nicht, wir treffen uns nicht einmal, wir sind nicht in einer Samariter-Situation, in der ich einen blutenden Menschen finde. Wir haben beispielsweise im Strafrecht diese minimale Pflicht sogar zum Straftatbestand gemacht, das ist die unterlassene Hilfeleistung. Wenn Sie, wie es mir kürzlich passiert ist, im Winter auf der Landstraße einen betrunkenen Mann im Straßengraben liegen sehen, dann sagt das Gesetz, daß für ihn bei zehn Grad unter Null Lebensgefahr besteht. Wenn Sie den liegenlassen, erfriert er. Wenn Sie, ohne Ihre eigenen Interessen nachhaltig zu schädigen, einem Menschen in einer solchen unmittelbaren Gefahr nicht helfen, dann werden Sie bestraft. Sie können nichts dafür, daß er sich besoffen hat und in einem Straßengraben gelandet ist, und wahrscheinlich kotzt er Ihnen das Auto voll, wenn Sie ihn retten. Aber das reicht nicht als Grund, ihn liegenzulassen, Sie müssen ihn retten. Sie müssen ihn ins Auto zerren und irgendwo hinfahren. Das ist ein entfernter Fremder, den kannten Sie nicht, Sie haben mit seiner Situation nichts zu tun, Sie sind nicht schuld an seiner Situation, es nervt alles nur, aber wir verlangen es von Ihnen. Warum? So etwas Basales, so etwas Minimales, das muß man einfach tun.

Ich glaube, daß dieser Gedanke, obwohl der Straftatbestand selber da nicht greift, auch die sogenannte postmortale Organspende betrifft. Und jetzt muß man ganz fein argumentieren: Ich habe nicht die Pflicht, Organspender zu sein, das ist falsch, wir haben Gewissensfreiheit, Gedankenfreiheit, Weltanschauungsfreiheit. Wenn ich, aus welchen Gründen auch immer, für die ich nicht Rechenschaft ablegen muß, für mich sage, ich will kein Spender sein, darf mich der Staat nicht dazu zwingen. Glaube ich, meine Frau hält es nicht aus, oder glaube ich wie manche protestantischen Theologen, daß ich nicht in den Himmel komme, wenn ich da ohne Niere erscheine, so mag das einem säkular denkenden Menschen völlig schräg vorkommen. Aber das ist egal, weil solche Einstellungen nach Art.4 Grundgesetz als Meinungs- und Weltanschauungsfreiheit geschützt sind, das heißt, ich muß es einfach respektieren. Aber der Staat kann mir sagen, hör mal zu, du könntest Leben retten mit deinen Organen, du mußt es nicht. Jeder Grund, den du hast, nein zu sagen, wird akzeptiert. Aber nachdenken darüber, ob du einen Grund hast, nein zu sagen, oder ob du eigentlich gerne ja sagen möchtest, mußt du. Das ist deine minimal-solidarische Pflicht, nicht mehr. Und wenn du darüber nachgedacht hast und du willst es nicht machen, dann können wir von dir auch verlangen, daß du eine Postkarte schickst, Porto zahlt Empfänger. Das kann man von dir verlangen, wenn völlig klar ist, daß es keinerlei negative Sanktionen gibt, wenn du nein sagst, denn das ist dein Recht, und wir akzeptieren es voll und ganz. Niemand schaut dich schräg an, es ist völlig in Ordnung, nein zu sagen, und trotzdem hoffen wir, daß du ja sagst, weil wir Menschenleben retten können.

So weit geht die Minimal-Solidarität. Und wenn man das so definiert, von starken Freiheitsrechten ausgeht und dann so einen ganz vorsichtigen Schritt macht in Richtung Solidarität, dann landen wir niemals in einem Staat, der unsere Körper als Ressource begreift. Das geht nicht, und es geht im Staat des Grundgesetzes schon überhaupt nicht. Wir haben eine Rechtsordnung, die dem Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper einen außergewöhnlich starken Status einräumt, viel stärker als zum Beispiel die englische Rechtsordnung oder die französische oder die italienische. Das passiert in Deutschland nicht.

SB: Herr Gutmann, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

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8. Januar 2014