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GEWALT/270: Hilfe nach sexualisierter Kriegsgewalt (IPPNWforum)


IPPNWforum - nr 147 september 2016
Das Magazin der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

"Ich will keine Medikamente nehmen, ich will lachen."
Psychosoziale Hilfe für Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt

Von Jeannette Böhme und Mechthild Buchholz


Während des Krieges in Bosnien und Herzegowina (BuH) von 1992 bis 1995 wurden zwischen 20.000 und 50.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Viele von ihnen waren über Monate hinweg sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Die Aufarbeitung dieser Verbrechen und die Interessen der Überlebenden wurden im Friedensabkommen von Dayton nicht berücksichtigt. Eine Studie der Frauenrechtsorganisationen Medica Zenica und medica mondiale (Anm. d. Redaktion: siehe Forum Nr. 145, März 2016) liefert wichtige Erkenntnisse über die Langzeitfolgen der Kriegsvergewaltigungen und zeigt auf, wie Betroffene unterstützt werden können.

Vergewaltigungen gehören zu den schwerwiegendsten traumatischen Erfahrungen. Intime Grenzen werden einschneidend verletzt und die Selbstbestimmtheit in zwischenmenschlichen Beziehungen untergraben. Krieg ist außerdem gekennzeichnet durch eine andauernde Gefahr für Leib und Leben und geht mit einer Verkettung traumatischer Erfahrungen einher: Vertreibung, Hunger, dem Verlust von Angehörigen, bei sexualisierter Gewalt mit Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung. Eine solche Sequenz traumatischer Erfahrungen führt häufig zu besonders starken traumatischen Stressreaktionen.

Mehr als 70 Prozent der Frauen, die sich an der Studie aus dem Jahr 2014 beteiligten, gaben an, dass die Vergewaltigungen ihr Leben noch immer in hohem Maße beeinflussen. 93,5 Prozent der Frauen berichten von gynäkologischen Problemen, 65 Prozent von ihnen nehmen regelmäßig Psychopharmaka und 57 Prozent leiden an posttraumatischer Belastungsstörung. Die Forschungsergebnisse weisen auf eine Chronifizierung der Folgen von Kriegsvergewaltigungen hin. Die Folgen traumatischer Erlebnisse hängen nicht nur von ihrer Schwere ab, sondern auch von den Erfahrungen, die Betroffene danach machen. Entscheidend für Überlebende sexualisierter Gewalt ist die Anerkennung des Erlebten.

Wichtige Faktoren für die Stabilisierung der Betroffenen sind Sicherheit, das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwert, Solidarität und soziale Verbindung. So können Betroffene ihre eigenen Ressourcen aktivieren und die Kontrolle über ihr Leben sowie Vertrauen in sich und andere wiedererlangen. Diese Grundprinzipien der Stress- und Traumasensibilität finden Anwendung in allen Unterstützungsangeboten von Medica Zenica und medica mondiale.

Bis heute bieten fast nur Frauenrechtsorganisationen in BuH diese qualifizierte Beratung und Versorgung an. Staatliche Institutionen hingegen sind weder fachlich noch von ihrer Haltung her darauf vorbereitet, Hilfe anzubieten. Beispielsweise ist es üblich, dass ÄrztInnen bei Anzeichen traumatischer Belastung Psychopharmaka verschreiben. In Nachkriegskontexten ist es daher notwendig, die Gesundheits-, Justiz-, Sicherheits- und Bildungssysteme im Hinblick auf Stress- und Traumasensibilität sowie Geschlechtergerechtigkeit zu reformieren.

Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt empfinden häufig Selbstzweifel und Scham. Neben dem sozialen Umfeld ist die Haltung von Staat und Gesellschaft gegenüber Überlebenden zentral für die Aufarbeitung und Bewältigung des erlebten Unrechts. Die befragten Frauen in BuH beschreiben in der Studie alltägliche Diskriminierung und erneute Gewalt. Für sie gilt noch immer das Gebot des Schweigens. Brechen sie es, werden sie stigmatisiert und ausgegrenzt.

Ungleiche Geschlechterverhältnisse drücken sich in Gewalt gegen Frauen und Mädchen aus. Ihre Rechte, vor allem das auf sexuelle Selbstbestimmung, ihre Bedürfnisse und Interessen werden in patriarchalen Gesellschaften denen von Männern und Jungen untergeordnet. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt verstetigt sich in Friedenszeiten, verschärft sich in bewaffneten Konflikten und setzt sich in Nachkriegsgesellschaften fort. Der Einsatz von Vergewaltigung als strategisches Mittel der Kriegsführung ist letzten Endes die Konsequenz aus dieser Ungerechtigkeit. Sexualisierte Kriegsgewalt ist eine Verletzung internationalen Rechts und Regierungen haben die Pflicht, diese Verbrechen zu ahnden. Für die meisten Betroffenen ist es unerträglich, dass Täter nie zur Rechenschaft gezogen werden. Teilnehmerinnen der Studie berichteten, wie sie ihren Vergewaltigern im Alltag wieder begegnen - was häufig zu Re-Traumatisierungen führt. Begründet ist die anhaltende Straflosigkeit vor allem in dem mangelnden politischen Willen, das Unrecht anzuerkennen und aufzuarbeiten.

Die Studie belegt: Eine langfristige und ganzheitliche Beratung und Versorgung stabilisiert Überlebende. Ebenso wichtig sind ein nicht-stigmatisierendes Umfeld, soziale Anerkennung sowie der Schutz vor erneuter Gewalt. Gelingt das, benötigen viele Betroffenen keine intensive psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung. Sie können ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Dazu braucht es Angebote kontinuierlicher Beratung und Therapie für Überlebende von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt im Krieg. Da es keine standardisierten Langzeittherapiekonzepte für die oft chronifizierten und komplexen Formen von Traumatisierung gibt, sind hier Kreativität und Anpassung an die lokalen kulturellen Kontexte gefragt.

Wichtig sind beispielsweise niedrigschwellige Beratungsangebote für Familien von Überlebenden und für deren Kinder, um insbesondere den transgenerationalen Mechanismen der Übertragung von Traumata entgegenzuwirken und Entlastung anzubieten. Mehr als die Hälfte der Befragten berichtete, dass die Vergewaltigungserfahrungen die Beziehungen zu ihren Kindern entweder vollständig oder teilweise beeinträchtigen - und zwar nicht nur zu jenen, die durch Vergewaltigung gezeugt wurden. Präventionsmaßnahmen fördern den konstruktiven Umgang mit dem erlebten Unrecht auf gesellschaftlicher Ebene und wirken friedensbildend. Wichtig ist daher auch die Sensibilisierung von LehrerInnen, SozialarbeiterInnen und von Bildungseinrichtungen in Bezug auf die transgenerationalen Effekte von Traumatisierung. Hilfreich wären zudem Angebote spezialisierter Sexual- und Eheberatung, um Frauen und ihren Partnern Hilfestellung zu geben im Hinblick auf deutlich ausgeprägte und chronifizierte Probleme im Umgang mit Nähe, Intimität und Sexualität.

Die alarmierenden Ergebnisse der Studie zeigen, dass die gesundheitliche und psychische Situation der Überlebenden immer noch als sehr fragil einzuschätzen ist und sich möglicherweise noch verschlechtern wird, weil sich der Alterungsprozess und die noch immer andauernden Nachkriegsbelastungen negativ auswirken werden. Deshalb ist eine Trauma-Sensibilität überall dort, wo Überlebende potenziell Zugang zu Unterstützung suchen, enorm wichtig. Dies betrifft besonders, aber nicht ausschließlich den Gesundheitssektor, denn Gesundheitseinrichtungen sind häufig erste Anlaufstelle für Frauen. Hier können auch Frauen, die sonst niemals über ihre Kriegsvergewaltigung sprechen würden, erreicht und gestärkt werden. Alle im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen sollten deshalb regelmäßige Fortbildungen über die Wirkung von Traumata (durch Kriegsvergewaltigung) auf die Gesundheit erhalten und darüber informiert werden, wie sie in ihrer Arbeit einen stress- und traumasensiblen Ansatz umsetzen können.

Angesichts der hohen Prävalenz von Krebs und der Häufigkeit und Massivität gynäkologischer und reproduktiver Probleme ist eine Sensibilisierung des medizinischen Personals besonders wichtig. Gleiches gilt für den Umgang mit Psychopharmaka, die viele Frauen häufig schon seit zwei Jahrzehnten nehmen. Berufsgruppen, die mit von Gewalt betroffenen Frauen arbeiten, müssen mehr als bisher über die Risiken von Medikamentenabhängigkeit aufgeklärt werden. Das Wissen über andere Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten bei Traumafolgestörungen kann dabei helfen, den Einsatz von Psychopharmaka zu reduzieren. Dies wiederum führt zu mehr Empowerment von Frauen und ermutigt sie dazu, positive Formen der Selbstregulierung und der Stabilisierung zu nutzen. Wie eine Frau es treffend in ihrem Interview zur Studie ausdrückte: Ich will keine Medikamente nehmen, ich will lachen."

Wie mit Überlebenden sexualisierter Gewalt und den Folgen dieser Verbrechen umgegangen wird, liegt in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft. Letztlich geht es um Geschlechtergerechtigkeit: Jegliche Form sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt - sei es in bewaffneten Konflikten oder in Friedenszeiten - ist Ausdruck diskriminierender Geschlechterverhältnisse. Ohne Geschlechtergerechtigkeit entsteht kein Frieden, nirgends.


Jeannette Böhme ist Referentin für Politik und Menchenrechte bei Medica mondiale.
Mechthild Buchholz ist Pressesprecherin von Medica mondiale.

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Kasten mit Zitaten:

"Es ist meine Geschichte, ich werde alt damit und ich habe keine Tränen mehr."

"Ich habe mich noch einmal umgedreht, nur um sicherzugehen, dass er es war, und alle schauten mich an."

"Mein Kind ist in einer psychiatrischen Anstalt wegen all dem, was ich durchgemacht habe."

"Mir Kraft zu geben, mir zu sagen, dass es nicht meine Schuld war. Das war für mich so wertvoll."

"Du bist nicht anders oder schlechter als die anderen. Wertschätze dich selbst!"

"Zeig mit dem Finger auf den Täter, nicht auf mich!"

(Die Zitate stammen von Klientinnen von Medica Zenica und wurden im Rahmen der Studie "We are still alive." aufgezeichnet).

Sie finden die Studie unter:
http://www.medicamondiale.org/fileadmin/redaktion/5_Service/Mediathek/Dokumente/Deutsch/Dokumentationen_Studien/2015_Zusammenfassung_Studie_We-Are-Still-Alive_Bosnien-Herzegowina_CR_Medica-Zenica_medica-mondiale.pdf

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Quelle:
IPPNWforum | 147 | September 2016, S. 24 - 25
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2017

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