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ARTIKEL/491: Neues Wissen über Sterblichkeit im Alter über 110 (Demografische Forschung)


DEMOGRAFISCHE FORSCHUNG - Aus Erster Hand - Nr. 1/2011

Auf der Suche nach dem modernen Methusalem
Neues Wissen über Sterblichkeit im Alter über 110

Von Heiner Maier, Jutta Gampe und James W. Vaupel


Steigt die Sterbewahrscheinlichkeit im sehr hohen Alter weiter an oder sinkt sie ab? Hat sich die Mortalität in den höchsten Altersstufen in den vergangenen Jahrzehnten verbessert - ähnlich wie es für andere Lebensalter beobachtet wurde - oder ist sie unverändert geblieben? Eine internationale Forschergruppe, koordiniert vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock, hat erstmals den Mortalitätsverlauf nach dem Alter 110 untersucht und festgestellt, dass sich das Sterberisiko auf einem Plateau von 50 Prozent pro Jahr einpendelt.


Die Sterbewahrscheinlichkeit innerhalb einesJahres bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, bis zum Alter x+1 zu sterben, wenn man x Jahre alt geworden ist. In Deutschland (Abbildung 1) und anderen entwickelten Ländern folgt die Sterbewahrscheinlichkeit einem typischen Verlauf. Unmittelbar nach der Geburt ist die Sterblichkeit relativ hoch und fällt dann deutlich ab. In der Kindheit vermindert sie sich mit jedem Lebensjahr. Im Alter von acht bis zwölf Jahren werden die geringsten Sterbewahrscheinlichkeiten beobachtet. Danach nimmt die Sterblichkeit rapide zu; das gilt besonders für Jungen. Im jungen Erwachsenenalter (25 bis 30 Jahre) ändert sich die Sterbewahrscheinlichkeit kaum. Ab dem 30. oder 35. Lebensjahr bis ungefähr Alter 80 steigt sie nahezu exponentiell an. In diesen Altersgruppen verdoppelt sich das Sterberisiko ungefähr alle acht Jahre. Jenseits des 80. Lebensjahrs verlangsamt sich der Anstieg der Mortalität. Dieser typische Verlauf der altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten ist für beide Geschlechter ähnlich. Allerdings liegt die Sterblichkeit der Männer in allen Altersstufen leicht über der der Frauen.


Abb. 1: Altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeit in Deutschland für Alter 0 bis 105, getrennt für Männer und Frauen, 2000-2008; logarithmische Skala. -Quelle: Human Mortality Database (www.mortality.org)

Abb. 1: Altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeit in Deutschland für Alter 0 bis 105, getrennt für Männer und Frauen, 2000-2008; logarithmische Skala.
Quelle: Human Mortality Database (www.mortality.org)

Zwar sind die Gesetzmäßigkeiten der Sterblichkeit in den jüngeren Altersklassen gut dokumentiert, über ihren Altersverlauf in den höchsten Altersstufen gibt es jedoch nur wenige gesicherte Aussagen. Als "Supercentenarians" (wörtlich: Über 100-Jährige) bezeichnet man diejenigen Personen, die ein Alter von 110 Jahren und mehr erreicht haben.

Den Altersrekord hält die Französin Jeanne Calment, die 1997 mit 122 Jahren starb. Als ältester Mann gilt der Däne Christian Mortensen, der 1998 mit 115 Jahren in Kalifornien starb.

Zur Mortalität der Supercentenarians lagen bisher noch keine verlässlichen Daten vor, da die Anzahl der über 110-Jährigen weltweit immer noch sehr gering ist. Ein internationales Forscherteam hat nun weltweit Geburts- und Sterbedaten der Supercentenarians gesammelt, um die Fallzahlen zu erhalten, die für statistisch gesicherte Aussagen zur Sterblichkeit im höchsten Altersbereich notwendig sind. In diesem Forschungsprojekt wurde die Forschungsdatenbank "International Database on Longevity" (IDL) angelegt, auf deren Grundlage der Mortalitätsverlauf nach dem Alter 110 erstmals zuverlässig beschrieben werden kann. Die IDL beinhaltet Listen von Supercentenarians mit valider Altersbestimmung aus verschiedenen Ländern.

Die Zuverlässigkeit der Altersangaben war eine große Herausforderung bei der Erstellung dieser Listen. Viele Berichte über außergewöhnlich hochaltrige Personen haben sich in der Vergangenheit schlichtweg als falsch herausgestellt. Oftmals konnten Altersangaben nicht überprüft werden, da keine zuverlässigen Quellen wie Geburts- oder Sterbeurkunden vorlagen. Beim Aufbau der Forschungsdatenbank IDL kam deshalb der Altersvalidierung große Bedeutung zu. Nur altersvalidierte, das heißt sorgfältig auf ihre Richtigkeit überprüfte Fälle, wurden in die Datenbank aufgenommen.

Auch an die Listen der Supercentenarians aus den einzelnen Ländern wurden strenge Anforderungen gestellt, da die IDL eine unverfälschte Beschreibung der Mortalität in den höchsten Altersklassen gewährleisten soll. Verzerrungen können beispielsweise dann entstehen, wenn Supercentenarians über Medienberichte identifiziert werden, da Medien eher über "ältere" als "jüngere" Supercentenarians berichten. Deshalb wurde bei der Datensammlung darauf geachtet, dass das genaue Alter einer über 110-jährigen Person keinen Einfluss darauf hatte, ob die Person in die Liste aufgenommen wurde.

Aufgrund der hohen Anforderungen der Altersvalidierung konnten für die IDL nur Länder berücksichtigt werden, die über hohe Standards der Dokumentation von Geburten und Sterbefällen verfügen und deren Dokumentation bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Die zur Altersvalidierung eingesetzten Methoden und Verfahren orientierten sich an den Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern. So stützte sich die Altersvalidierung in Deutschland auf Einträge im Personenstands- und im Melderegister. Ein ähnliches Verfahren kam in Frankreich zum Einsatz. Hier wurden Geburts- und Sterbedaten der Supercentenarians anhand von Geburts- und Sterbeurkunden verifiziert, die in den jeweils zuständigen französischen Gemeinden verwahrt werden. In den Vereinigten Staaten von Amerika konnten die Forscher dagegen nur gelegentlich auf Geburtsurkunden zurückgreifen, da eine flächendeckende Geburtenregistrierung erst relativ spät eingeführt wurde. Deshalb stützte sich die Überprüfung der Geburtsdaten dort auch auf Unterlagen der Volkszählungen aus den Jahren 1880 und 1900.

Seit Juni 2010 ist die IDL unter www.supercentenarians.org im Internet verfügbar. Für jede in der IDL verzeichnete Person können Informationen zum Geburtsdatum, zum Geschlecht, zum Geburtsland und zur Methode der Altersvalidierung sowie - falls die Person bereits verstorben ist - zum Sterbedatum abgerufen werden. Aus Datenschutzgründen wurden keine Informationen in die Datenbank aufgenommen, die eine Identifikation der Person erlauben würden (etwa Name oder Wohnort).


Abb. 2: Anzahl der in der Forschungsdatenbank IDL verzeichneten Personen nach Land und Geschlecht. -Quelle: IDL (www.supercentenarians.org; Stand: 1. März 2011)

Abb. 2: Anzahl der in der Forschungsdatenbank IDL verzeichneten Personen nach Land und Geschlecht.
Quelle: IDL (www.supercentenarians.org; Stand: 1. März 2011)

Derzeit sind 672 Supercentenarians aus 15 Ländern in der IDL aufgeführt (Abbildung 2). Auffällig ist, dass 600 Frauen, aber nur 72 Männer verzeichnet sind. Zwei Prozesse tragen dazu bei, dass fast 90 Prozent der in der IDL enthaltenen über 110-Jährigen weiblich sind. Zum einen unterliegen Frauen in allen Altersklassen einer geringeren Sterblichkeit als Männer (Abbildung 1). Dies führt dazu, dass in den höheren Altersstufen zunehmend immer mehr Frauen immer weniger Männern gegenüberstehen. Zum anderen haben zwar beide Geschlechter in den vergangenen Jahrzehnten enorme Mortalitätsverbesserungen im Alter erfahren, aber die Verbesserungen waren für Frauen deutlicher ausgeprägt als für Männer.

Die Mehrzahl der altersvalidierten Supercentenarians stammt aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Dies rührt daher, dass die USA das bevölkerungsreichste Land sind, das in die IDL aufgenommen wurde. Allerdings sind Ländervergleiche bezüglich der Anzahl der in der Datenbank verzeichneten Supercentenarians nur bedingt aussagekräftig, da einerseits der Beobachtungszeitraum zwischen den Ländern variiert und andererseits die Listen der Supercentenarians in den einzelnen Ländern unterschiedlich vollständig sind.

Erste Auswertungen der IDL-Daten ergaben für die Altersstufen 110 bis 114 Jahre eine konstante altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeit von 0,5. Dieser Wert ist auch für die Alterstufen 115 und darüber plausibel. Allerdings sind die Fallzahlen der über 115-Jährigen zu gering für statistisch gut abgesicherte Aussagen zur Sterblichkeit in diesem Altersbereich. Diese ersten Auswertungen deuten darauf hin, dass die menschliche Sterblichkeit im höchsten Alter nicht weiter zunimmt, sondern vielmehr ein Plateau erreicht, das bei einem Sterberisiko von 50 Prozent pro Jahr liegt.

Die Analysen der IDL-Daten ergaben einen weiteren überraschenden Befund: Die Sterblichkeit der Supercentenarians hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht messbar verbessert. Dies ist erstaunlich, weil sich die Mortalität in den meisten anderen Altersstufen aufgrund eines allgemeinen Anstiegs im Lebensstandard und durch Fortschritte in der Gesundheitsversorgung sogar deutlich verbessert hat. Dieser Befund legt nahe, dass die Sterblichkeit im höchsten Alter in geringerem Maße durch erhöhten Lebensstandard und andere zivilisatorische Errungenschaften beeinflussbar ist als die Sterblichkeit in jüngeren Altersgruppen.

In der Zukunft sollen der Forschungsdatenbank IDL neue Daten zugeführt werden. So werden derzeit weitere Geburts- und Sterbedaten von Supercentenarians gesammelt und in die Datenbank integriert. Anhand der größeren Fallzahlen können dann die getroffenen Aussagen zur Sterblichkeit im höchsten Altersbereich besser abgesichert und präzisiert werden. Darüber hinaus wird die Datensammlung auf die Altersklassen der 105- bis 109-Jährigen ausgeweitet, um genauer bestimmen zu können, in welchem Alter das Plateau der Mortalität erreicht wird.


Literatur:

Maier, H., J. Gampe, B. Jeune, J.-M. Robine, and J.W. Vaupel (Eds.) (2010):
Supercentenarians. Demographic Research Monographs, vol. 7.
Berlin: Springer. www.demogr.mpg.de/books/drm/007/.

Kontakt: maier@demogr.mpg.de

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Quelle:
Demografische Forschung Aus Erster Hand 2011, Jahrgang 8, Nr. 1, Seite 1-2
Herausgeber:
Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Kooperation mit dem
Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien,
und dem Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels
Konrad-Zuse-Str. 1, 18057 Rostock
Telefon: +49 (381) 2081-143, Fax: +49 (381) 2081-443
E-Mail: redaktion@demografische-forschung.org
Internet: www.demografische-forschung.org
 
Demografische Forschung Aus Erster Hand erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2011

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