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GEWALT/213: Anmerkungen zur Suizidalität (Ulrich Supprian)


Anmerkungen zur Suizidalität

Von Ulrich Supprian


Ein weiter Rahmen für das zu Bedenkende ist mit der menschlichen Freiheit gegeben, welche Möglichkeiten einschließt, dem Lebens-Vorgang ein vorzeitiges, selbstbestimmtes Ende zu bereiten. Es geht nicht um Selbst-"Mord", sondern Selbsttötung, überflüssig zu sagen.

Das ist ein Problem, welches die Philosophen beschäftigt, aber Ärzte können es mit ihren besonderen Kenntnissen gut reflektieren. Überdies liegen ihnen die technisch notwendigen Mittel oft in der Nähe bereit und sie töten sich häufiger, als andere Gruppen.

Eine tiefliegende Grundlage ist damit gegeben, dass personales Leben nicht zuerst eine persönliche Leistung ist, sondern sich von sich aus darlebt, von einem nicht gewußten Untergrund getragen. Dazu gehört, dass ein Gegenstehendes stets in einer Aura von Machbarkeit erscheint und gleichsam optimistisch getan werden darf. Es heißt im Koran, 2. Sure "Die Kuh", Vers 286: "Nicht belastet Allah die Seele über Vermögen". Das scheint eine optimistische Botschaft zu sein, heißt aber auch, dass etwas "über Vermögen" doch getragen werden muss, da es nun einmal Allahs Gabe ist.

Diese (endogene) Trägerschaft erlaubt es, die eigentlich unlösbar schwierige Lage zu durchleben, die mit der Kindheit gegeben ist. Oft bleibt von dem rätselhaft angeborenen Zutrauen zur Welt etliches bis in spätere Jahre erhalten. Es erscheinen Aufgaben im Leben und mit ihnen zugleich die begleitende Meinung, sie seien lösbar. Das ist ein Geheimnis des Daseins. Auf dieser Erfahrung ruhen viele Einstellungen und Haltungen.

Aber auch eine Erfahrung ist es, wenn genau dieser Hintergrund eines Tages nicht mehr zu tragen scheint, von sich aus, wie es manche Depression endogen mit sich bringt. Dann ist "die" Depression existenziell etwas anderes, als nur eine Bedrückung und Handlungserschwernis. Zwar sind viele tägliche Arbeiten so eingerichtet, dass der eigentätige Zeitablauf das heranträgt, was zu tun ist, aber das überbrückt nur weniges.

Es ist interessant, dass die Kraft zum Fällen der täglich zu treffenden Entscheidungen begrenzt ist, schon ohne Depression. Tritt mehr auf, dann herrscht Not.

Von den Bilanzen und den Konflikten in der Vorgeschichte von Suiziden soll nicht gesprochen werden. Denn ihre Bewertung ist nur möglich mit Kenntnis der konkreten Umstände.

Eine der bittersten Erfahrungen, vor allem für Ärzte, ist zu bestehen, wenn alles Erdenkliche und Tunliche getan wurde und dann gelingt die drohende Tötung doch, beschützt durch perfekte Täuschung der Wohlmeinenden - bis zur Arglist. Der schließlich feststehende Entschluss kann sogar einen Ausdruck von Entlastung mit sich bringen, was jedoch als Besserung fehlgedeutet wird (denn in der Depression verliert das Ausdrucksgeschehen seine verständliche Verbindlichkeit).

Es kann eine lebensleitende Erleichterung bringen, wenn bei bestehender Depression die richtige Diagnose beim Namen genannt und nicht höflich oder diffus umschrieben wird. Nicht wenige Depressive fühlen sich von einer gewohnten Lebensart ihrer Seele so sehr verlassen, dass sie ihre Lage nicht treffend reflektieren können als das, was sie ist. Sie sind aber erleichtert und nicht mehr mit sich allein, wenn sie hören, dass jemand diese Lage kompetent als bekannt kennt und einzuschätzen weiß.

Die Durcharbeitung von Zweifeln ist oft begleitet von einer egomanischen Zentralisierung. Der gefallene Entschluss bringt neuen Handlungs-Freiraum, weil die Umstände aus der antizipatorischen Perspektive des Todes bewertet werden können. Das bedeutet zugleich Privatheit und Schutz vor Einreden. Diese Einschränkung erlaubt auch einem ansonsten verantwortlichen Denken, den praktischen Vollzug der Tötung Anderen aufzuladen. Die allzu vielen Geisterfahrer haben wahrscheinlich in suizidaler Verkürzung nur den eigenen Tod im Sinn, obwohl sie töten (vielleicht sogar morden). Sie nutzen die Autobahn als eine Maschine, die ohnehin reichlich viele Tote produziert.

Eine geschehene Tat schlägt in der Regel bei den Angehörigen ein wie ein greller Blitz, dessen emotionaler Donner von da an ohne Linderung durch das ganze Leben weiterhallt.

S. FREUD erfand sich die "Trauerarbeit" in der Meinung, sie sei zu leisten. Aber die dunklen Gefühle der Reue über Versäumtes, der Schuld bei Geschehenem, des lebendigen Kummers über den fortbestehenden Verlust stehen nicht für eine "Arbeit" offen.

Eine wichtige, weiterführende ärztliche Erfahrung liegt in der Begrüßung des Lebens und der Dankbarkeit vieler, wenn therapeutische Könnerschaft ein Ende erfolgreich abgewehrt hat, etwa bei Tablettenvergiftungen. Man hört allerdings auch ernsthafte Verwünschungen.

Es wäre gut zu wissen, dass sehr viele Menschen eine gesamte tägliche inwendige Lebensarbeit auf die Abwehr suizidaler Gedanken verwenden. Ein Kollege verbrachte seine depressiven Tage in der Praxis - Fäuste und Ellenbogen aufgestützt und die Mahnungen seiner Sprechstundenhilfe überhörend - mit nichts als suizidalen Grübeleien, von morgens bis abends (an seinen manischen Tagen holte er das Versäumte auf).

Ein suizidaler Fenstersturz landete in einem Fahrradständer und machte ein schwerstes Polytrauma, das mit klinischer Hilfe entsetzlich lange Zeit überlebt wurde.
Ein verzweifelter Offizier schoß sich durch den Kopf, erreichte jedoch nur Blindheit.

Die eingangs erwähnte tiefe Trägerschaft behütet das Leben ohne Zutun der Person mit starken Kräften, die nicht reflektiert werden können.

Es gibt abrupte suizidale Einfälle ohne Vorgeschichte, speziell unter Alkoholisierung oder Drogen.
Manche gefährliche Sportart hat präsuizidale Züge.
Superneurotisch ist die Rache, wenn nicht getan wird, wie erwartet und eine Schuld zugewiesen wird, indem man sich tötet.
Übersteigert sinnlos (nur Vermeidung von Strafe) ist die Selbsttötung eines Mörders, der sinnlos mordete.
Es gibt das unernste suizidale Arrangement als kalkulierten Appell, das gleichsam zufällig - als Unfall des Arrangements - doch zum Tode führt.
Die Freiheit gibt auch Raum für exotische Einfälle, bei denen eine Inszenierung von größtem Schauwert vielleicht sogar den Antrieb für alles abgibt.
Abschiedsbriefe sprechen oft von einer Furcht vor andauernder Pflegebedürftigkeit.

Es kann jedoch - unter besonderen Umständen - der Suizid die einzige, im Leben isoliert dastehende, sinnvolle und gerechtfertigte Aktion sein, die Zustimmung finden kann.


Supprian, U:
Endogene Determination und personale Selbstbestimmung bei Suiziden im Ablauf manisch-depressiver Psychosen.
Fortschr. Neurol. Psychiat. 58 (1990) 270 - 281


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Quelle:
Prof. Dr. Ulrich Supprian
mit freundlicher Genehmigung des Autors
E-Mail: Ulrich.Supprian@t-online.de
Internet: www.ulrich-supprian.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2010