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GEWALT/216: Rechtsmedizin - Misshandlungen werden auch ohne Anzeige dokumentiert (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2010

Rechtsmedizin

Misshandlungen werden auch ohne Anzeige dokumentiert


Ärzte, Sozialarbeiter und Nachbarn schauen inzwischen genauer hin, um Misshandlungen zu verhindern oder zu entdecken. Ein Modellprojekt hilft.


Mecklenburg-Vorpommern hat ein rechtsmedizinisches Modellprojekt gestartet. Es soll Opfern von Gewalt helfen, die Misshandlungen gerichtsfest dokumentieren zu lassen.

Das Rostocker Institut für Rechtsmedizin der Universität zeichnet ein düsteres Bild von zunehmender Gewalt im Land. "Wir erleben das ganze Spektrum von akuten Gewaltausbrüchen sowohl bei Männern als auch bei Frauen, bis hin zu langjährigen Misshandlungen in Partnerschaften und Familien", sagte Prof. Andreas Büttner (49), Direktor des Rostocker Instituts für Rechtsmedizin. "Das Spektrum der Misshandlungen reicht von der einfachen Ohrfeige bis hin zum Schlag mit dem Hammer oder Stichen mit Schere und Messer", schilderte Büttner die Palette an Grausamkeiten. Während sich in Rostock und Schwerin im vergangenen Jahr 101 Betroffene an den rund um die Uhr tätigen gerichtsärztlichen Dienst der Rostocker Rechtsmedizin wandten bzw. als Gewaltopfer von der Polizei geschickt wurden, um Misshandlungen hier dokumentieren zu lassen, werde die Zahl dieses Jahr deutlich höher sein, sagte Büttner: "Es gibt immer mehr Opfer, die nicht gleich Anzeige erstatten wollen, aber ihre Misshandlungen in gerichtsfesten Gutachten dokumentieren lassen möchten."

Auch in Vorpommern wächst die Gewalt. Inzwischen schauen Ärzte, Sozialarbeiter und Nachbarn genauer hin. "Das spiegelt sich auch in den Zahlen des Greifswalder Instituts für Rechtsmedizin wider", betont die Direktorin, Prof. Britta Bockholdt. Im Jahr 2009 wurden in Greifswald und im Einzugsbereich Vorpommern 100 Patienten auf Verletzungen und eventuelle Misshandlungen untersucht, davon 42 Kinder. Der Trend bei Misshandlungen sei inzwischen leicht steigend. Bockholdt geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Um die auszuschalten, hat das Land das rechtsmedizinische Modellprojekt ins Leben gerufen. Justizministerin Uta-Maria Kuder von der CDU begrüßte das Modellprojekt für ihr Bundesland. Es sei ein weiterer Schritt für einen effektiveren Opferschutz, betonte die Ministerin. Die Erfahrungen anderer Bundesländer wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen oder Hamburg mit Opferschutzambulanzen zeigten deutlich, wie wichtig es sei, gerade die Rechtsmedizin in bestehenden Hilfesystemen zu etablieren. "Verletzungen von Gewaltstrafbetroffenen werden sofort dokumentiert und führen letztlich zu einer besser gesicherten Überführung von Gewalttätern", so die Ministerin.

Weil die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung der Täter häufig an einer mangelnden oder nicht ausreichenden Beweissicherung scheitere, sollen künftig Gewaltstraftaten mit Beweisführung für ein späteres Strafverfahren erfasst werden. So konnte dank der Unterstützung des Ärztlichen Direktors Prof. Peter Schuff-Werner dieses Jahr am Universitätsklinikum Rostock eine Opferambulanz für die Rechtsmedizin eingerichtet werden. "Wir wollen durch das Modellprojekt auch niedergelassene Ärzte sensibilisieren, uns bei auffälligen Befunden zu informieren und uns hinzuzuziehen", sagte Büttner. Den Opfern werde ermöglicht, sich auch ohne Anzeige untersuchen zu lassen.

Ein weiteres Problem sei sexueller Missbrauch sowohl in der Ehe als auch bei Kindern. Dieses Thema wurde gesondert auf einer Landeskinderschutzkonferenz Anfang Dezember erörtert. "Die Taten finden vielfach unter Einfluss von Alkohol statt", schilderte Büttner. Frust werde dann an Angehörigen ausgelassen. "Wir erleben immer wieder, dass Ehefrauen jahrelang misshandelt werden, weil sie finanziell abhängig von ihrem Mann sind", sagte der Rechtsmediziner. Durch die Vermittlung von Kontaktadressen der Hilfsnetze hätten Frauen sich aber auch aus dem Teufelskreis befreien können.

"Gewalt erlebe ich in allen sozialen Schichten", sagte Büttner. "Vor allem aber Arbeitslosigkeit und Alkohol fördern die Frustration und Gewaltbereitschaft."

(PM/Red)


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201012/h10124a.htm

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2010
63. Jahrgang, Seite 80
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2011