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INITIATIVE/028: Solidarität in der Krise (medico international)


medico international - rundschreiben 01/09

Solidarität in der Krise
Autonome Hilfe braucht Ihre Unterstützung

Von Katja Maurer


"Den Reichen stört die Armut", lässt Bertolt Brecht den Bettlerkönig Mr. Peachum, den genialen Vermarkter menschlichen Leids, in seiner "Dreigroschenoper" sinnieren. Aber dafür müsste der Arme schon vor dessen Tür sterben. In diesen Zeiten der Krise mag diese Lebensweisheit eines professionellen Spendensammlers erst recht gelten. Denn so viel von der Krise die Rede ist, die Opfer will man nicht sehen. Die mentale, politische und ökonomische Abschottung der privilegierten Welt und die Ausgrenzung der Unterprivilegierten könnten so neue, ungeahnte Formen annehmen. Es zahlen die Armen der Welt die Zeche für einen Boom, an dem sie keine Teilhabe hatten. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie das oft mit dem Einzigen tun, was sie besitzen. Mit dem schieren Leben. Denn Armut hat sich durch die neoliberale Globalisierung verändert. "Während Armut früher bedeutete, ein Fitzelchen Land zu besitzen, das recht und schlecht die eigene Grundversorgung sicherstellte, bedeutet Armut heute, nicht mehr als den eigenen Körper zu besitzen", so die Soziologin Saskia Sassen. Wenn unsere afghanischen Kollegen in den Minenräumorganisationen bis zur Hälfte aller Stellen abbauen müssen, weil aufgrund der Krise internationale Gelder fehlen, dann kommt das einem "Opel-Effekt" am Hindukusch gleich. Nur mit einem fundamentalem Unterschied: Die afghanischen Familien, die von diesen Gehältern abhängen, haben nichts mehr zum Überleben.

Für die Zivilgesellschaft, für soziale Initiativen, für Organisationen der sozialen Anwaltschaft wie medico international bedeutet die aktuelle Krise, jetzt unbedingt die Möglichkeit und die Tatsache eines anderen, solidarischen Handelns sichtbar zu machen und zu unterstützen. Unsere Antwort kann jetzt erst recht nur ein entschlossenes "Projekt der Emanzipation" sein. Und wir glauben, dass dies auch möglich ist. Worin besteht dieses "Projekt der Emanzipation", von dem der italienische Philosoph Toni Negri in einem für medico international vor einem Jahr geschriebenen Essay sprach? Drei Beispiele aus der Praxis unserer Partner, die wir mit Ihrer Hilfe unterstützen, sind dafür sinnbildlich. Sie enthalten, wie Negri in dem Text formulierte: "die Perspektive des Auszugs, der Trennung, des Exodus".


Das gefährdete Leben

Als Erstes wäre eine traurige Geschichte zu erzählen: die von den Gaza-Bewohnern Mohammed Shurab und seinen beiden Söhnen, Ibrahim und Kassab, sowie dem Israeli Tom Mehager, einem Mitarbeiter der Physicians for Human Rights.

Es ist keine Geschichte von erfolgreicher Hilfe, keine, die in der Unmenschlichkeit des Krieges unser Gewissen beruhigen könnte. Denn auch Tom Mehager gelang es nicht, einen Krankenwagen zu Mohammed Shurab und seinen Söhnen zu schicken, die in einer Feuerpause in einen Hinterhalt geraten und von israelischen Soldaten beschossen worden waren. 24 Stunden lang konnten sie sich nicht vom Fleck bewegen. Während seine Söhne starben, versuchte der Vater, die Soldaten anflehend, über Handy telefonierend Hilfe zu holen. Irgendwann hatten auch die Physicians for Human Rights von seiner ausweglosen Situation erfahren. Um ein Uhr nachts rief Tom Mohammed an. Sie sprachen die ganze Nacht, bis der Akku leer war. Worüber konnten ein Israeli und ein Palästinenser angesichts dieser Katastrophe aus Feindschaft und Krieg noch sprechen? Im Angesicht zweier erschossener blutjunger Männer und ihrer nicht gelebten Zukunftspläne: Architektur und Wirtschaftswissenschaften? Warum gelang es ihnen, zwischen ihren Regierungen und der militärischen Gewalt und ihrem eigenen Menschsein und ihrer Mitmenschlichkeit zu trennen? Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler spricht von einer zu entwickelnden gewaltfreien Ethik, die bei dem gefährdeten Leben des Anderen ansetzt. Diese Paradoxie des Menschlichen, wo doch alles Menschliche gescheitert ist, wohnt dem israelisch-palästinensischen Konflikt auch inne. Und damit nichtsdestotrotz die Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit.


Die Suche nach Glück

Die Macht, so Toni Negri, "ist dazu verdammt, mit der Vielfalt der Revolten konfrontiert zu sein, die fortfahren, das Glück zu suchen". Niemand symbolisiert diese Glückssuche in diesen Zeiten so deutlich wie die, die unter größtem eigenen Lebensrisiko aufbrechen, das gute Leben zu finden. Gäbe es eine Skala der globalen Verteilung von körperlicher Verletzbarkeit, wären die Millionen Migranten neben den Menschen in Kriegszonen diejenigen, die angesichts der körperlichen Gefährdungen am meisten Aufmerksamkeit und Ressourcen benötigten. Ihr Wagnis ist am größten, die Hilfen jedoch sind am geringsten. Wer die Aktivisten der Selbsthilfeorganisation der Ausgewiesenen in Mali (AME) kennenlernt, versteht: Diese individuellen Revolten legen eine große Unbeugsamkeit an den Tag. "Wir malischen Migranten machen uns seit jeher auf die Suche nach einer Verbesserung unseres Lebens. Auf diesem Weg werden wir registriert, gehetzt, wie Tiere hinter Zäune gesperrt und schließlich, ohne Begleitmaßnahmen oder störende Beachtung unserer Menschenrechte, abgeschoben. Die Kontrollpraktiken, die gegen uns angewandt werden, verstoßen gegen alle international geltenden Konventionen und Rechtsnormen." Die AME schafft mit "kärglichen Mitteln und großen Ambitionen", wie sie selbst sagen, einen öffentlichen Raum, einen Ort des Sprechens über die Menschenrechtsverletzungen gegen die Migranten.


Die Weigerung

Dass die Befreiungen die Macht von innen bedrohen, habe man laut Negri '68 gelernt. Die medico-Partner in Nicaragua und den anderen Ländern Zentralamerikas sind mit der Niederlage der Befreiungsversuche in einer Region tätig, die als Appendix dem Inneren der Macht einverleibt wurde: Abhängig von den nun bedrohten Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten, ausgeliefert einer ziellosen und ungeheuren Gewalt zum Überleben. Was kann die Erfahrung der geglückten, wenn auch wieder verlorenen Befreiung, der Emanzipation, der Selbstermächtigung in der Krise, die Zentralamerika am heftigsten treffen wird, bewirken? Die Kleinbauern des nicaraguanischen El Tanque haben mit dieser Geschichte im Rücken gezeigt, dass diese Erfahrung in einer Katastrophe eine schicksalsverändernde Ressource ist. Das Dorf, die Kooperative, der Gemeinsinn, der hier herrscht, haben El Tanque zum Symbol der Hoffnung gemacht. Eine Insel der Vernunft, die von der luxuriösen Oberfläche der Shopping-Malls in Managua in ihrer Zukunfsfähigkeit bezweifelt wurde. Das Modell der Shopping-Malls ist gescheitert.


Die Vielfalt der Revolten

Wenn Solidarität in der Krise das "Nicht-mehr-Mitmachen-und-etwas-anderes-Beginnen" bedeutet, dann sind damit die vielen und unterschiedlichen Partner und Kollegen von medico überall in der Welt zutreffend beschrieben. Gemeinsam ist ihnen das Öffentlichmachen von Ausgrenzungen und der Beistand für deren Opfer. Doch Ausgrenzung allein wäre keinesfalls eine zureichende Beschreibung der Wirklichkeit in den marginalisierten Zonen. Dort wie hier steht der selbstbestimmte Exodus als gültige Antwort auf die universelle Krise. Solidarität mit denen, die Widerstand, Kritik und Ungehorsam leben, die Freiwilligen der Physicians for Human Rights, die Aktivisten der AME oder die nicaraguanischen Kleinbauern, ist so selbst eine Form des Auszugs. "Die Menschen der Herrschaftswelt müssen endlich begreifen, dass es so nicht weitergehen kann", erklärte der Schweizer Soziologe Jean Ziegler im Angesicht der Krise. Dazu wollen wir mit Ihrer Hilfe einen Beitrag leisten. Und wir haben uns dafür viel vorgenommen:

1. Autonomie stärken

Projekte der Emanzipation zu fördern, erfordert für sich selbst, auf größtmögliche Unabhängigkeit zu achten. In dem Maße, wie öffentliche Mittel immer stärker zur Absicherung eines katastrophischen Systems der Ungleichheit und Ausgrenzung genutzt werden, fehlen sie für Arbeiten des Neuanfangs. Bereits vor der akuten Krise hat der neoliberale Diskurs Breschen in die Zuschusspolitik geschlagen und den Spielraum für soziales Handeln in diesem Rahmen verkleinert. Angesichts der Schuldenberge, die jetzt aufgetürmt werden, ist es erst recht fraglich, ob künftig widerständige Projekte wie El Tanque noch öffentliche Zuschüsse bekommen werden. Wir führen seit einigen Monaten eine Debatte darüber, wie wir unsere Arbeit langfristig sichern und unabhängiger von Zuschüssen handeln können. Nur mit einer maßgeblichen Spendensteigerung kann uns dies gelingen. Angesichts der Milliardenbeträge, die derzeit verhandelt werden, geht es um eine kleine Summe: um 500.000 Euro. Für medico-Verhältnisse aber ist eine Spendensteigerung um 25 Prozent keine geringe Aufgabe. Wir sind uns der Tatsache bewusst sind, dass wir diese Unterstützung auch von denen brauchen, die selbst Zukunftsangst haben. Aber mit Ihrer Mithilfe wird es gelingen, dieses Ziel zu erreichen.

2. Mitstreiter finden

medico hat mit Ihnen, den Spenderinnen und Spendern, ein großes und uns ermutigendes Unterstützernetz. Gerade im letzten Jahr haben wir anlässlich des 40jährigen Bestehens sehr viele positive Rückmeldungen erhalten. Das geschah auf vielen Veranstaltungen, in Briefen, E-Mails und nicht zuletzt in einer beachtlichen siebenprozentigen Erhöhung der Spenden. Der erste Schritt zu einem autonomeren medico ist also bereits getan. In den vielen Gesprächen, die wir in diesem Rahmen führten, haben wir den Eindruck gewonnen, dass wir noch viele Menschen ansprechen könnten. Menschen, die mit den Zielen von medico korrespondieren, aber medico noch nicht kennen. In einer Öffentlichkeit, die geprägt ist von simplen Botschaften, ist das medico-Projekt von Solidarität, gleichberechtigter Partnerkooperation und Veränderung von Herrschaftsverhältnissen nicht mit den üblichen Fundraising-Methoden zu bewerben. Wir brauchen stattdessen Ihre aktive Unterstützung, um weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu finden. Mit Ihrer Hilfe kann es gelingen, das Netzwerk der Veränderung, die öffentlichen, freien Räume für ein anderes Denken und Handeln auszuweiten. Das medico-rundschreiben will diese Öffentlichkeit mitgestalten. Wir haben deshalb diesem Heft eine Karte beigelegt, um neue Leserinnen und Leser zu werben. Machen Sie bitte rege davon Gebrauch. Reden Sie mit Freunden, Bekannten, Verwandten, ob sie nicht regelmäßig das rundschreiben lesen wollen. Sie wissen, dass wir damit eine aufgeklärte Öffentlichkeit unterstützen und nicht ein schönfärberisches Spendenwerbeprodukt erstellen. Es ist ein erster Schritt, um medico kennenzulernen und um die Arbeit im Sinne einer anderen Welt zu unterstützen.

3. Öffentliche Räume

Es ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen. medico bemüht sich, stärker vor Ort in Erscheinung zu treten. An lokalen Diskussionsveranstaltungen nehmen immer häufiger medico-Kollegen oder Vertreter von medico-Partnernorganisationen teil. Wir wollen das Globale lokal begreiflich machen. Vor allen Dingen entstehen hier aber die Räume des Austauschs und der Verständigung, die wir genauso dringend brauchen wie die Beteiligten vor Ort. Auch das Internet entwickelt sich immer stärker zu einem Raum von Öffentlichkeit, in dem frei verhandelt und nachgedacht werden kann. Wir haben deshalb auch unsere Website so verändert, dass wir uns umfangreicher und schneller in diese Debatte einbringen können. Es geht uns darum, die öffentliche Sphäre und die Wahrnehmung der Realität in ihr auszuweiten. Denn gerade in den Jahren des "Krieges gegen den Terror" ist es den Mächtigen gelungen, die Gewalt aus der öffentlichen Wahrnehmung so zu verbannen, als ob sie, und vor allen Dingen ihre Opfer, nicht existierten. "Hier ist", so Judith Butler, "weniger ein dehumanisierender Diskurs am Werk als eine Verweigerung des Diskurses, welche die Dehumanisierung zur Folge hat." Unsere bescheidenen Mittel dieser Ent-Menschlichung etwas entgegenzusetzen, ist die zentrale Aufgabe dieser öffentlichen Aktivitäten. Der medico-Newsletter informiert deshalb regelmäßig über neue Mitteilungen und Blog-Einträge auf der Website. Abbonieren Sie ihn. Außerdem werden hier auch die Veranstaltungen in Ihrer Nähe bekannt gemacht. Auf Ihre Reaktionen dazu sind wir gespannt.


Dass wir in den beschriebenen Formen einer anderen, unabhängigen Öffentlichkeit handlungsfähig sind, hat das große Echo auf den Spendenaufruf für unsere medizinische Nothilfe in Gaza gezeigt. Wir haben 250.000 Euro für diese dringende Arbeit erhalten, obwohl keine Spendenaufrufe von den meisten Medien veröffentlicht wurden. An dieser Stelle einen Dank an unsere Unterstützerinnen und Unterstützer, auch im Namen unserer Partner in Palästina und in Israel.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 01/09, Seite 5-9
Herausgeber: medico international
Burgstraße 106, 60389 Frankfurt am Main
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2009