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PSYCHOLOGIE/063: Hirnforschung - Die 7 größten Neuromythen (Gehirn&Geist)


GEHIRN&GEIST 4/2012
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Hirnforschung
Die 7 größten Neuromythen

Von Stephan Schleim



»Hirnjogging macht schlauer«, »Psychopathen lassen sich am Gehirn erkennen«, »Forscher können Gedanken lesen« - diese und weitere Legenden entlarvt der Psychologe und Philosoph Stephan Schleim von der Universität Groningen.


Spinat enthält viel Eisen, lesen bei schlechtem Licht schadet den Augen, und einen Kaugummi verschlucken ist schlecht für den Magen. Das Gemeinsame dieser drei Aussagen? Genau - es handelt sich um Mythen. Wissenschaftlich lässt sich keine der Behauptungen stützen. Auch um unser Denkorgan ranken sich Legenden, die trotz zweifelhafter Grundlage in der Öffentlichkeit kursieren. Die Komplexität des Gehirns, der Boom neurowissenschaftlicher Forschung und das große Interesse der Bevölkerung bieten einen idealen Nährboden für die Verbreitung von Halbwahrheiten. Und manch hartnäckigem Mythos sind nicht nur Laien, sondern auch Wissenschaftler - ich eingeschlossen - schon auf den Leim gegangen. Höchste Zeit für eine Klarstellung.


1. Hirnjogging macht schlau

Wer regelmäßig joggt, steigert damit seine Laufleistung, gleichzeitig verbessert er sich aber auch in anderen Sportarten wie dem Radfahren. Doch wie sieht es mit dem viel beschworenen Jogging für das Oberstübchen aus? Aktuelle Befunde belegen: Langjährige Taxifahrer oder Berufsmusiker zeigen tatsächlich eine veränderte Hirnstruktur - ihr permanentes Training schlägt sich also nicht nur in ihren Fähigkeiten, sondern auch auf neuronaler Ebene nieder.

Der millionenschweren Industrie des Gehirnjoggings geht es jedoch nicht nur darum, ob ihre Denkaufgaben unser Können in bestimmten Gebieten verbessern. Sie preist ihre Programme vielmehr mit dem Versprechen an, die Nutzer würden dadurch allgemein intelligenter. Die so geweckten Hoffnungen werden von Werbespots genährt, die eine vermeintliche wissenschaftliche Fundierung suggerieren. Häufig treten in derartigen Reklamen etwa Personen mit Professor- oder Doktortitel auf.

In der realen Forschung dagegen kommt das Hirnjogging deutlich schlechter weg. Nach einer groß angelegten Online untersuchung, an der über 11.000 Versuchspersonen sechs Wochen teilnahmen, stellten Adrian Owen von der Cambridge University und seine Kollegen die Behauptungen auf den Prüfstand. Zu Beginn ermittelten sie die Denkfähigkeiten jedes Teilnehmers mit verschiedenen neuropsychologischen Tests. Danach teilten sie die Versuchspersonen zufällig einer von drei Gruppen zu: Die erste erhielt Trainingsaufgaben zum Schlussfolgern, Planen und Problemlösen; die zweite eine an Gehirnjoggingprogramme angelehnte Auswahl an Aufgaben für Gedächtnis, Aufmerksamkeit, räumliche Wahrnehmung und mathematisches Verständnis; die dritte musste nur belanglose Fragen beantworten.

Die Auswertung der Ergebnisse förderte ein ernüchterndes Ergebnis zu Tage - zwar verbesserten sich die ersten beiden Gruppen im Gegensatz zur dritten in jenen Tests, die sie geübt hatten. Dies übertrug sich jedoch nicht auf die generelle geistige Leistungsfähigkeit.

Die Studie zeigt damit zwar nicht, dass Gehirnjogging prinzipiell unmöglich ist. Man sollte sich aber keine allzu großen Hoffnungen machen, durch Verwendung der verfügbaren Programme seine allgemeine Intelligenz zu steigern. Forscher vermuten, dass ein individuell abgestimmtes Training zu vorteilhafteren Ergebnissen führen kann.


2. Psychopathen lassen sich am Gehirn erkennen

Psychopathen gelten als Inbegriff des ruchlosen, unsozialen und hinterlistigen Verbrechers, der fern jeglicher sozialer Konvention agiert. Sie scheinen sich so stark von der Normalbevölkerung zu unterscheiden, dass die Vermutung naheliegt, sie hätten auch außergewöhnliche Gehirne. Dieser Gedanke hat sich sogar in der Forschung hartnäckig am Leben gehalten, vor allem dank seiner besonderen historischen Wurzeln.

Fast jeder Neurointeressierte ist mit dem Schicksal des US-Amerikaners Phineas Gage vertraut. Der Bahnarbeiter verlor 1848 bei einer missglückten Sprengung einen Teil seines Frontalhirns. Ärzte hielten ein Überleben für unmöglich. Noch während Gage in seinem Hotelzimmer gepflegt wurde, stellte man vor der Tür den Sarg auf. Doch Gage überlebte das Unglück - und gilt heute als einer der berühmtesten neurologischen Patienten der Geschichte.

Sein Fall wurde immer wieder dazu herangezogen, eine bestimmte Sichtweise auf das Gehirn zu belegen. Die Verletzung habe aus dem tadellosen Bahnarbeiter einen unausstehlichen, unzuverlässigen, enthemmten und alkoholabhängigen Psychopathen gemacht, so eine auch in Wissenschaftskreisen verbreitete Meinung.

Es ist der akribischen Arbeit des Wissenschaftshistorikers Malcolm Macmillan zu verdanken, dass sich langsam eine andere Sichtweise durchsetzt. Macmillan hat sämtliche verfügbaren Details zum Fall Gage und seiner Rezeption zusammengetragen. So waren etwa die ursprünglichen medizinischen Berichte in Fachzeitschriften nur schwer zugänglich - sie sind nur noch in wenigen Bibliotheken erhalten. Die Dokumente lassen den Einfluss des Unfalls in einem anderen Licht erscheinen: So traten den Originaldarstellungen zufolge erst Wochen später, nachdem Gage schwerste Entzündungen und Fieberdelirien überstanden hatte, psychische Auffälligkeiten auf.

Der ehemalige Vorarbeiter konnte zum Beispiel nicht mehr richtig mit Geld umgehen und widersetzte sich ärztlichen Auflagen. Dass er nach vielen Wochen im Bett wieder draußen spazieren oder zu seiner Familie wollte, kann man ihm kaum verübeln. Spätere Berichte seines Arztes deuten eher auf einen reizbaren und cholerischen Menschen als auf einen Psychopathen hin. Gages liebevoller Umgang mit Verwandten und Tieren ging in der Wissenschaft ebenso unter wie die Tatsache, dass er seiner späteren Arbeit als Kutscher in Chile zuverlässig nachkam. Gage und Menschen mit ähnlichen Schäden des Frontalhirns mutieren demnach nicht automatisch zu gefühlskalten Psychopathen. Oft haben die Betroffenen Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Mitmenschen. Doch ob und wie sich ihre Persönlichkeit verändert, dürfte auch wesentlich davon abhängen, wie ihr Umfeld auf die Erkrankung reagiert.

Dank moderner bildgebender Verfahren lässt sich das Phänomen nun zudem in umgekehrter Richtung untersuchen: Haben alle Psychopathen ein auffälliges Gehirn? Diese Frage versuchten Sabrina Weber und ihre Kollegen von der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule in Aachen 2008 zu beantworten. Nach einer Sichtung des Forschungsstands kamen sie zu dem Schluss, dass Psychopathen im Frontalhirn, wo Gages Verletzung lag, weniger Neurone besitzen. Auch in Teilen des Temporallappens, des limbischen Systems und des Balkens fanden sich weniger graue Zellen. Die Befunde galten jedoch jeweils nur für den Durchschnitt der Probanden. Anhand der Bilder eines einzelnen Gehirns kann man nach wie vor nicht die geistige Gesundheit beurteilen.


3. Das Gehirn besteht im Wesentlichen aus Nervenzellen

Bei diesem Mythos dürften die Meinungen weit auseinandergehen. Laien würden das Gehirn wohl hauptsächlich als Ansammlung von Nervenzellen bezeichnen. Lehrbücher verbreiten dagegen eine ganz andere Wahrheit: Nicht die Neurone selbst, sondern Zellen, die sie stützen und in Stand halten, überwögen im Gehirn - so genannte Gliazellen. Laut Standardwerken wie den »Principles of Neural Science« von Eric Kandel und Kollegen gebe es rund 100 Milliarden Nervenzellen, aber zehnmal mehr Gliazellen im Gehirn.

Der Anatomin Suzana Herculano-Houzel von der Universität in Rio de Janeiro fiel jedoch auf, dass die Neurolehrbücher keine Quellen für die Herkunft dieser Zahlen angeben. Ihr Eindruck bestätigte sich auch, als sie zahlreiche Kollegen dazu befragte: Niemand wusste, woher die Zahlen eigentlich stammen.

Also machte sie sich mit ihrer Arbeitsgruppe selbst ans Zählen. Das Ergebnis dieser neueren Untersuchung aus dem Jahr 2009: Ein menschliches Gehirn besitzt bei etwa 1,5 Kilogramm um die 86 Milliarden Neurone. Daneben gibt es mit 85 Milliarden etwa genauso viele andere Zellen - unter ihnen die Gliazellen. Über die Hälfte aller Nervenzellen befindet sich im Kleinhirn, wo es umgekehrt besonders wenig Gliazellen gibt. Insgesamt verteilen sich die Neurone im Gehirn so, wie es stammesgeschichtlich zu erwarten war (siehe Kasten unten).


Vorläufer unseres Gehirns
Viele Forscher betonen die Einzigartigkeit des menschlichen Denkorgans. Ein für unsere Körpergröße überdimensioniertes Gehirn sei ein klares Anzeichen für einen qualitativen Unterschied zu sämtlichen Tieren.
Der Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel von der Universität in Rio de Janeiro erscheint dieser Zusammenhang fragwürdig: Denn was hat die Körpergröße mit der geistigen Leistungsfähigkeit zu tun? Die Forscherin bestimmte 2009 die Anzahl von Neuronen in den Gehirnen verschiedener Säugetiere und setzte sie in Beziehung zum jeweiligen Gewicht des Denkorgans. Vergleiche zeigten, dass es in Primatenhirnen wesentlich mehr Nervenzellen im Verhältnis zur Hirnmasse gibt als in denen von niederen Säugern - der Autorin zufolge ein qualitativer Sprung.
Die Zahl der Neurone im menschlichen Gehirn entspricht dagegen etwa jener, die ein Primatenhirn dieser Größe haben müsste. Herculano-Houzels Fazit: Von weniger entwickelten Säugetieren unterscheiden wir uns durch eine andere Art der Hirnorganisation, von Primaten dagegen nur auf Grund eines Plus an Hirnschmalz.
(Herculano-Houzel, S.: The Human Brain in Numbers: A Linearly Scaled-up Primate Brain. In: Frontiers in Human Neuroscience 3, S. 1-11, 2009)
(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Jedoch erscheint nicht nur die Zahl der Neurone und Gliazellen, sondern auch die klassische Idee der Arbeitsteilung im Gehirn neuerdings fragwürdig. Bislang ging man davon aus, dass Neurone Informationen verarbeiten, während Gliazellen nur für Reparatur- und Stützarbeiten zuständig sind. Diese Ansicht brachten James Schummers und seine Kollegen vom Massachusetts Institute for Technology 2008 ins Wanken. Sie untersuchten den visuellen Kortex von Frettchen, während sie diesen visuelle Reize darboten. Es zeigte sich, dass Astrozyten, die am häufigsten vorkommende Art von Gliazellen, auf eingehende Signale mit Änderungen ihres chemischen Potenzials reagierten. Teilweise waren die Antworten der Astrozyten sogar feiner auf den Stimulus abgestimmt als die der nahe gelegenen Neurone.


4. Forscher können Gedanken lesen

Gedankenlesen - diesen Begriff verwenden in letzter Zeit immer mehr Neurowissenschaftler. Sie meinen damit den direkten Blick ins Innerste des Menschen mittels moderner bildgebender Verfahren. Die raschen Fortschritte bei der Messung und Auswertung von Hirnscans ließen deren Bedeutung stetig wachsen. Doch können Forscher an der neuronalen Aktivität wirklich einzelne Gedanken erkennen? Dieses Unterfangen scheint auf den ersten Blick gar nicht so schwierig zu sein: Hat man einmal zuverlässige physiologische Merkmale von bestimmten Gedanken oder »Bewusstseinsinhalten« aufgespürt, kann man im Umkehrschluss von ihnen auf psychisches Geschehen schließen.

Dass dies tatsächlich funktioniert, konnten einige Wissenschaftler bereits nachweisen. Forscher um Jack Gallant an der University of California in Berkeley zeigten ihren Probanden 2011 kurze Filmsequenzen und zeichneten dabei deren Hirnsignale mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) auf. Die aus der Hirnaktivität des visuellen Kortex berechneten Videos ähnelten dem, was die Probanden zuvor gesehen hatten.

Enthusiasten, die auf Grund solcher Befunde unsere Gedanken bereits entschlüsselt sehen, vergessen allerdings zwei entscheidende Tatsachen: Zum einen kann in solchen Experimenten bislang nur eine kleine Anzahl psychischer Inhalte bestimmt werden. Andererseits ist die Versuchsperson selbst die größte Stütze beim Gedankenlesen: Die Untersuchungen funktionieren nur, wenn die Probanden kooperieren.

Eine Gruppe um Giorgio Ganis von der Harvard University machte 2010 die Probe aufs Exempel. In der Standardbedingung ihres Experiments konnten sie zuverlässig aus der Hirnaktivität der Probanden darauf schließen, ob diese die Wahrheit sagten oder logen. Dann baten sie ihre Versuchspersonen, ihr Wissen durch ein mentales Ablenkungsmanöver zu verbergen. Dadurch brach die Erkennungsrate dramatisch ein - auf nur ein Drittel. Wie hatten die Probanden die Maschine überlistet? Sie hatten lediglich minimal mit ihren Fingern gewackelt.

Neben derlei praktischen Schwierigkeiten krankt die Idee des neurowissenschaftlichen Gedankenlesens aber auch an dem alten Problem, jedem psychischen Prozess ein eindeutiges physiologisches Muster zuschreiben zu wollen. Diesbezüglich hat Russell Poldrack, inzwischen an der University of Texas in Austin, schon 2006 auf ein unter Forschern verbreitetes Missverständnis hingewiesen: Wenn im Experiment einem mentalen Phänomen ein Hirnprozess zugeordnet wird, muss dieser noch lange nicht für den psychischen Vorgang spezifisch sein. Wie genau neuronale Aktivität mit einzelnen Gedanken zusammenhängt, weiß heute noch niemand. Daher ist auch das viel zitierte Neurogedankenlesen ein Mythos.


5. Das Gehirn ist eine Art Computer

Dass das Gehirn eine Art Computer sei, ist ein immer wieder verbreiteter Irrtum. Er besagt im Kern, dass das Gehirn eine Rechenund Steuereinheit besitzt und mit Hilfe eines Speichers Eingaben zu Ausgaben verarbeitet, wie der heimische PC. So ist die in der Gedächtnispsychologie gängige Unterscheidung zwischen Langzeit- und Arbeitsgedächtnis eigentlich dem Computerreich entliehen: Sie ähnelt den verschiedenen Funktionen von Festplatte und Arbeitsspeicher.

Mittlerweile weiß man, dass unser Hirn deutlich komplizierter ist als in derartigen Modellen angenommen. Während die Arbeitsweise eines Computers - da von Menschenhand entworfen - grundsätzlich erfassbar ist, hat die Forschung das Gehirn noch längst nicht entschlüsselt. So kommt es, dass Computerwissenschaftler sich umgekehrt das Gehirn zum Vorbild nehmen. Sie entwickeln Architekturen und Algorithmen, die die neuronale Informationsverarbeitung imitieren.

Ein Beispiel dafür ist die Modellierung so genannter künstlicher neuronaler Netze. Die Knotenpunkte dieser Netze verfügen wie Nervenzellen über einen oder mehrere Eingänge, durch die sie aktiviert oder gehemmt werden. Überschreitet die Aktivierung einen kritischen Schwellenwert, gibt der Knoten selbst ein Signal durch seinen Ausgang ab. Durch Gewichtung von Knotenverbindungen lassen sich Lernvorgänge abbilden, die den künstlichen Netzen beachtliche Fähigkeiten beispielsweise zur Mustererkennung verleihen.

Auf Grund solcher Erfolge schießt der ein oder andere Computerhersteller in seinem Marketing schon mal übers Ziel hinaus. Insbesondere der IT-Konzern IBM hat in jüngster Zeit mit Plänen zur Simulation eines gesamten Gehirns geprahlt. Begriffe wie »Cognitive Computing« oder die Behauptung, man habe ein Patent auf die Funktionsweise des Gehirns erhalten, schafften es immer wieder in die Schlagzeilen. Experten im Bereich der künstlichen Intelligenz wie Raúl Rojas von der Freien Universität Berlin nehmen diese Berichte kaum ernst. Trotz mancher Parallele, die sich zwischen Hirn und Rechner erkennen lässt, handelt es sich doch um grundverschiedene Dinge.


6. Neuroforscher haben bewiesen, dass der freie Wille eine Illusion ist

Wenige Ideen aus der Hirnforschung haben so viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren wie die Behauptung, es gebe keinen freien Willen. Für viele entscheidet sich dieses Problem am Determinismus, also der Vorstellung, dass zukünftige Ereignisse durch aktuell herrschende Bedingungen bereits vorherbestimmt sind. Schon lange streiten sich Philosophen darüber, ob der menschliche Geist durch natürliche oder göttliche Gesetze determiniert ist. Immanuel Kant etwa schlug im 18. Jahrhundert eine Lösung vor, die den Menschen als Natur- und als Vernunftwesen begreift.

Gemäß neuerer philosophischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert folgen wieder mehr Fachleute einer so genannten kompatibilistischen Sicht: Nicht ob wir determiniert sind oder nicht, sondern was uns determiniert, ist essenziell. Demnach sind diejenigen Entscheidungen frei, die wir selbst im Einklang mit unseren Wünschen und Überzeugungen treffen und nicht etwa durch Zwang. Die unlösbare Frage, ob jeder Zustand des Universums eindeutig durch den vorherigen Zustand und die Natur gesetze festgelegt ist, verliert dann an Bedeutung.

Eine andere Frage ist, inwieweit uns das Unterbewusstsein unsere Entscheidungen diktiert. Insbesondere eine Serie von Experimenten des Neurowissenschaftlers Benjamin Libet interpretieren manche Hirnforscher und Philosophen in diesem Sinn als Widerlegung der Willensfreiheit: Wir dächten zwar, wir hätten bewusste Kontrolle über uns selbst - in Wirklichkeit bestimmten aber unbewusste Gehirnprozesse unser Handeln.

In seinem bekanntesten Experiment maß der Wissenschaftler von der University of California in San Francisco 1983 mittels Elektroenzephalografie (EEG) die Hirnströme seiner Probanden. Schon bevor sie nach eigenen Angaben einen bewussten Drang verspürten, ihren Finger zu bewegen, trat ein elektrisches Signal auf, das die Bewegung vorhersagen konnte - ein so genanntes Bereitschaftspotenzial. Liest man Libets Originalarbeiten, dann stolpert man jedoch über das Vorhandensein dieses Signals auch dann, wenn die Versuchspersonen den Finger nicht bewegten. Es kann daher nicht eins zu eins das Verhalten vorhersagen.

Eine Gruppe um den Berliner Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes wiederholte das Experiment 2008 im Magnetresonanztomografen und kam zu einem noch frappierenderen Fazit. Die Entscheidung stehe im Gehirn nicht Zehntelsekunden, sondern häufig bereits geschlagene zehn Sekunden fest, bevor sie ins Bewusstsein dringt.

Davon abgesehen, dass der gemessene spontane Drang, einen Knopf zu drücken, für den Alltag ziemlich irrelevant ist, bleiben wichtige Kennzeichen freier Willensbeschlüsse bei diesen Untersuchungen außen vor: Menschen planen ihre Handlungen oft lange im Voraus, manchmal brechen sie diese auch mittendrin ab. Beides war in den Experimenten verboten. Gerade das langfristige Planen von Handlungen hat sich in vielen psychologischen Studien als sehr wichtig herausgestellt, um Verhalten zu beeinflussen. Wer sich Situationen erst vor dem inneren Auge vorstellt oder bestimmte Verhaltensregeln formuliert, führt eine intendierte Handlung mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich aus.

Das Libet-Experiment und seine Nachfolger ignorieren den Zeithorizont menschlicher Entscheidungen. Sie haben der Debatte um die Willensfreiheit noch kein Ende bereitet, auch wenn manche Wissenschaftler etwas anderes behaupten.


7. Das Ich ist nicht im Gehirn zu finden, also existiert es nicht

Wissenschaftssoziologen von der McGill University in Montreal haben mehrere Jahre damit zugebracht, Medienberichte über Hirnforschung auszuwerten. Einen der Trends, den die Forscher um Eric Racine dabei entdeckten, nennen sie »Neuro-Realismus«. Diese Sichtweise sieht psychische Phänomene nur dann als real an, wenn sie mit einem neurowissenschaftlichen Verfahren belegt werden können.

Neurowissenschaftler haben verschiedene Regionen des Gehirns als Sitz des Ichs vorgeschlagen. So ist der Präfrontalkortex ein Kandidat, der in diesem Zusammenhang häufig Erwähnung findet. Georg Northoff von der University of Ottawa und Jaak Panksepp von der Washington State University haben ein anderes Modell entwickelt. Ihnen zufolge sind kortikale und subkortikale Strukturen entlang der Fissura longitudinalis - der Furche zwischen den Hirnhälften - für mehrere auf das Selbst bezogene Verarbeitungsprozesse entscheidend. Das mediale Frontalhirn, der zinguläre Gyrus und der mediale Parietalkortex spielen demnach beim Icherleben eine wichtige Rolle. Wenn ihre Probanden über sich selbst nachdachten oder ihre Persönlichkeit bewerten sollten, fanden die beiden Forscher in diesen Regionen eine verstärkte neuronale Aktivität.

Der Grundgedanke der Ichverleugner scheint zu sein, dass es keine zentrale Gehirnregion gibt, zu der alle anderen hinführen. Dem Einheitsgefühl des Ichs entspräche keine Einheitsregion des Gehirns. Diese Sichtweise hängt jedoch immer noch der jahrhundertealten Idee an, im Gehirn gäbe es einen Homunkulus - ein kleines Männchen, das für uns wahrnimmt, denkt und das Verhalten steuert. Schon längst glauben Forscher jedoch, dass das Ichgefühl auch ohne eine zentrale physiologische Steuerung entstehen kann.

Ähnliche Überlegungen gab es schon zum so genannten Bindungsproblem. Hierbei geht es um die Frage, wie das Gehirn eine Vielzahl von Sinneseindrücken, beispielsweise eines roten, schnell fahrenden und hupenden Autos, zu der einheitlichen Wahrnehmung eines Objekts verbindet. Ein Lösungsvorschlag weist nicht auf räumliche, sondern auf zeitliche Eigenschaften der Verarbeitung hin: Nicht weil alle Informationen zu einem bestimmten Ort fließen, werden die Eindrücke demnach zu einer Wahrnehmung integriert - sondern weil verschiedene Neuronenverbände im Gleichtakt feuern. Ob man ein Ich im Gehirn findet oder nicht, hängt demnach davon ab, nach was für einem Ich man überhaupt sucht.


Was lernen wir das daraus?

Die hier vorgestellten Mythen haben verschiedene Ursachen - vom Vermarktungsdrang der Hirnjoggingindustrie bis hin zu überkommenen Ansichten über das Gehirn, etwa bei der Suche nach dem Sitz des Ichs. Generell gilt: Wissenschaftler wie Laien sollten das, was sie als gegeben ansehen, ruhig öfter hinter fragen. Manch ein ad acta gelegter Forschungsgegenstand würde dann wieder interessant! Das Aufdecken von Neuromythen kann also neue Untersuchungen inspirieren.


Stephan Schleim ist promovierter Kognitionswissenschaftler und Assistant Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande). Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie sowie öffentliche Debatte der kognitiven Neurowissenschaft.


QUELLEN

Nishimoto, S. et al.: Reconstructing Visual Experiences from Brain Activity Evoked by Natural Movies. In: Current Biology 21, S. 1-6, 2011

Racine, E. et al.: Contemporary Neuroscience in the Media. In: Social Science & Medicine, S. 725-733, 2010

Soon, C.et al.: Unconscious Determinants of Free Decisions in the Human Brain. In: Nature Neuroscience 11, S. 543-545, 2018

Weitere Quellen im Internet:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/1142313

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 39:
WUNSCH STATT WIRKLICHKEIT
Manche »Fakten« über das Gehirn entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als haltlos.

Abb. S. 40:
BERÜHMTER FALL
In dieser historischen Aufnahme posiert der ehemalige Bahnarbeiter Phineas Gage mit der Eisenstange, die ihm 1848 bei einer missglückten Sprengung durch den Kopf schoss. Gage verlor bei dem Unfall große Teile des linken Frontalhirns sowie sein linkes Auge.

Abb. S. 42:
RECHENMASCHINE GEHIRN?
Die neuronale Architektur folgt anderen Prinzipien als die Hardware eines Computers.

© 2012 Stephan Schleim, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
GEHIRN&GEIST 4/2012, Seite 38 - 43
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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Internet: www.gehirn-und-geist.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2012