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HINTERGRUND/132: Zum Spannungsverhältnis von Popmusik und Religion (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 11/2008

Gehhilfen zum Himmel
Zum Spannungsverhältnis von Popmusik und Religion

Von Udo Feist


Das Thema Religion ist in der Popmusik weithin präsent, von den Provokationen einer Madonna bis hin zum gregorianischen Choral in den Charts. Wie gehen Theologie und Kirche mit den direkten oder auch nur angedeuteten Verweisen auf religiöse und andere spirituelle Traditionen um?


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Als Ry Cooders Kuba-Opas vom "Buena Vista Social Club" den Annalen einst hoffnungsvollerer Zeiten entstiegen, wurden diese für sie verspätet doch noch Wirklichkeit. Schmunzeln indes auf allen Gesichtern, als im vergangenen Jahr eine 40-köpfige, im Schnitt 78-jährige Rentnerband namens "The Zimmers" aus dem Vereinigten Königreich dem Rock zu neuer Vitalität verhalf. "The Zimmers" (so benannt nach einer britischen Gehhilfen-Marke) zwinkern zugleich philosophisch-weise mit den Augen: Vergnügen ist zeitlos - und endlich. Sicher nicht die schlechteste Definition, wenn man benennen will, was Pop sei und worum es ihm geht: Das Leben, nicht mehr, nicht weniger - und damit letztlich um dasselbe wie der Religion.

Mit großem Ernst, trotzdem Spaß und völlig zu Recht: Eine entsprechende Spurensuche zwischen Pop und Religion haben Musikjournalisten um den als Poppapst geltenden Diedrich Diederichsen in den achtziger und neunziger Jahren unternommen - wobei sie mit der pop- und rockbefeuerten Jugendrevolte um das Jahr 1968 im Nacken sowohl gesellschaftlich wie individuell wirkmächtige Befreiungswirkungen von Pop zum Maßstab von Musikkritik, Essays und Büchern machten. Sie hatten in der Musikzeitschrift "Spex" ihr Zuhause, und der Ventil Verlag in Mainz hält diese Fackel bis heute lobenswert hoch, aktuell etwa mit Steven Lee Beebers "Die Heebie-Jeebies im CBGB'S" - einer fesselnden Monographie über "die jüdischen Wurzeln des Punk" in New York (Mainz 2008).

Zwar warenförmig, dennoch potenziell Erkenntnis fördernd und nicht zuletzt Solidarität bildend, lautete der Tenor mit Blick auf neue (pop)soziale Bewegungen wie Punk, HipHop oder Techno. Das bürgerliche Feuilleton ließ sich infizieren und bereichern - und adoptierte diesen so genannten Popdiskurs. Konzertberichte, Plattenrezensionen und thematisch großflächigere Essayistik sind seither dort nicht mehr wegzudenken. Alte Hochkulturzöpfe, denen Pop allenfalls noch als jugendkulturelles Phänomen in den Blick geriet, kamen ab.

Was da funkelte und blitzte, geriet in der Folge, teils bedingt durch die eigene Lebenspraxis (mit Songs als Gebeten und Konzerten als Gottesdiensterlebnissen) auch jungen Theologen, kirchlichen Zeitschriftenmachern und Akademieveranstaltern in den Fokus, so dass sich Mitte der neunziger Jahre eine Art "theologischer Popdiskurs" etablierte, der die Sakropop-Szene bewusst hinter sich ließ und religiöse Propria in gewandelter oder vielleicht auch ausgewanderter Gestalt stattdessen im säkularen Pop zu vermuten begann oder gar zu finden vermeinte.

Die Wünschelruten schlugen an, gelockt von Inhalten (der Sinn- und Gottesfrage, dem Thema Schuld, einer mystisch-mystizistischen Weltsicht, Stichworten der religiösen Weltliteratur usw.), strukturähnlichen Erlebnisweisen (Meditation, Versenkung, Ekstase), spannenden Amalgamen (etwa der legendären Single "God is a DJ" der Gruppe "Faithless" von 1998 in Anlehnung an das Bild des guten Hirten im Psalm 23), Symbolen (Madonna und das Kreuz) und nicht zuletzt fasziniert von soziokulturellen Parallelen. Gemeindebildung und Identitätsformulierung oder -vergewisserung spielen dabei eine wichtige Rolle.

Dabei wird bei den einzelnen musikalischen Ereignissen (wie Konzert oder Rave) eine vergleichbare Erlebnisdramaturgie vorausgesetzt wie bei religiösen Ritualen. Das reicht von antiken Mysterienfeiern (Eleusis) über den eher nüchternen protestantischen Verkündigungsgottesdienst bis zum katholischen Hochamt je mit dem Dreischritt "Überschreiten des Schwellenraums - Feier des erfüllten Augenblicks (kairos) - Rückkehr (bestenfalls gewandelt oder gestärkt, sozusagen angereichert, erbaut) aus dem Sakralen in den Alltag".

Mit einem solchen Ansatz entstanden etliche Texte und manche Dissertationen innerhalb der praktischen Theologie, so dass Doktorarbeiten neben dem Literaturverzeichnis nun ohne Scham auch eine Diskographie enthalten konnten. Bei den Protestanten legte 1996/1997 Bernd Schwarze, heute pastoraler Leiter und künstlerischer Geschäftsführer an der Lübecker City- und Kulturkirche St. Petri, "Die Religion der Rock- und Popmusik" (Stuttgart 2001) vor, deren "Analysen und Interpretationen" im Rückblick arg zeitabhängig wirken. Gotthard Fermor, inzwischen Professor für Gemeindepädagogik und Diakonie an der evangelischen Fachhochschule Bochum, zog ein gutes Jahr später mit "Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche" (Stuttgart 1999) nach. Austausch fand in dem etwa zur selben Zeit etablierten "Arbeitskreis Populäre Kultur und Religion" (akpop.de) statt - einerseits Networking, andererseits aber auch ein Streitforum.


Praxisversuche mit Techno-Events in Kirchen

Grob gesagt kristallisierten sich zwei Bewertungen heraus, die miteinander in teils heftigen Clinch gerieten: Während es den einen um nachgehendes Verstehen und letztlich Wiedergewinnen der in Pop übergesiedelten Religiosität ging, also in gewisser Weise um deren Wiedereingemeindung, sahen andere diese Möglichkeit weder als gegeben noch als erstrebenswert an.

Praxisversuche wie das von Kirchenleitungen heftig kritisierte Techno-Event "Crusade" in der Hamburger Kirche St. Katharinen 1996 gab es jedoch auch, was so genannte Szeneforscher wie der Soziologe Ronald Hitzler begrüßten. Überhaupt machte der von den frühen Love-Parade-Zeiten befeuerte Event-Begriff seither zwischen Werbung, Wissenschaft und Kirche bedenklich flächendeckend verklärende Karriere.

So durfte man ruhig lästern, als die Organisatoren des Weltjugendtages 2005 in Köln ihre Veranstaltung schon Monate zuvor zum "Mega-Event" erklärten und sie dann medienaktiv-zeitgeistnah wie Marketing-Maßnahmen großer Marken inszenierten. Eine nach Pop-Effekten heischende Autosuggestion, die sie denn auch prompt von Hitzlers Mitarbeiterin Michaela Pfadenhauer als "Szene-Ereignis" wissenschaftlich begleiten ließen. Das waren Nach- und Nebenwirkungen des Pop-Diskurses, für die es Gelder der Deutsche Forschungsgemeinschaft gab.

Bleibenderen Wert hat, was der belgische Jesuit Jan Koenot mit "Hungry for Heaven. Rockmusik, Kultur und Religion" (Düsseldorf 1997) vorlegte. Szene-intim und zugleich der eigenen Verortung bewusst, unternahm er darin den Versuch, die Rockkultur als prägnantes kulturelles und religiöses Eigenphänomen zu verstehen und gleichzeitig christliche Ressentiments und Eingemeindungsversuche in Aufgeschlossenheit zu verwandeln. Es ging ihm um den spirituellen Rock- und Popmehrwert.

Koenot opponierte gegen Gängiges, indem er sich intensiv auf den Gegenstand einließ. Verteufelungen, ob nun fundamentalistisch, jugendschützerisch oder kulturkritisch begründet, trat er entgegen, indem er darin enthaltene Ängste als das eigentliche Vehikel "teuflischer" Strategien benannte: "Wenn Rock den Satan interessiert, dann geschieht das nur, weil Musik ursprünglich mächtig und gut ist. Läppische Dinge interessieren ihn nicht."

Hinzugefügt sei, dass damals "Der Geist der Liturgie" (Freiburg 2000) von Kardinal Joseph Ratzinger, heute Benedikt XVI., noch nicht erschienen war. Ihm war Pop immer schon suspekt. Industriell hergestellt, sei er, so Ratzinger - darin Adorno-nah - nicht dem Volk (Pop) im alten Sinne, sondern der Masse zuzuordnen. Letztlich gehe es um einen "Kult des Banalen", lautete die Pop-Definition des Präfekten der Glaubenskongregation. Rock war ihm gar "Gegenkult", der "in der Ekstase des Zerreißens in der Urgewalt des Alls versinken lässt".

Koenot indes ging sogar noch weiter, indem er sich als Kenner tief auf die britische Feedback-Neopsychedelia-Band "Spacemen 3" und ihren - drogengesättigten - Sound einließ, speziell auf die erste Single "Walkin' with Jesus (the sound of confusion)", in der Jesus dem Sänger vorhält: "You've found heaven on earth/gonna burn for your sin" ("Du hast den Himmel auf Erden gefunden/brenne für deine Sünden"), worauf der erwidert: "So listen, sweet Lord/forgive me my sins/'cause I can't stand this life/ without all of this things" ("Nun hör' mal, lieber Jesus/vergib' mir meine Sünden/weil ich dieses Leben nicht aushalten kann/ohne dies alles"). Er hatte auch die Stirn, deren Motto "Taking drugs to make music to take drugs to" so stehen zu lassen, und sogar ihre Musik und die von Pierce' neuer Band "Spiritualized" zu würdigen: "Was im gesamten Werk auffällt, ist das Maßvolle, die Heiterkeit, der unaufdringliche Reichtum der Klänge. Das ist Musik, die Geborgenheit schenkt." Ein Hit wurde "Hungry for Heaven" aber nicht, sondern recht bald verramscht.

Das war keine Apologie des Rock-Klischees vom "Live fast, die young", wohl aber Respekt vor der Unbedingtheit, die Rock oder Pop in den besten Augenblicken erreichen kann. Das gilt auch für die mehr oder minder tragischen Helden, deren Kerze symptomatisch von beiden Enden brennt: Nirvanas Kurt Cobain etwa oder aktuell Ex-Libertines-Sänger Pete Doherty.


Zielstrebig bediente Lust am Exotischen

An dieser Stelle ist auch Pater Karl Wallner zu nennen, der für die CD "Chant - Music for Paradise" ("Gregorianik für Materialismusgeschädigte") höchst professionell europaweit Promotion-Termine wahrnehmende Zisterzienser vom Stift Heiligenkreuz im Wienerwald. Ein Dogmatikprofessor, den es nicht anficht, den CD-Erfolg mit einem Triumphalismus zu verbinden. Seine Mönche hätten eine Frau wie die, "die dauernd in Entziehungsanstalten eingeliefert wird", in den Charts überflügelt.

Wobei diesen verbalen Missgriff noch übertrifft, dass er die beachtlich hohe verkaufte Stückzahl als eine Art "Beweis des Geistes und der Kraft", als Wunder verstanden wissen will. Dabei tat er selbst einiges dafür, indem er die säkulare Lust am Exotischen ebenso zielstrebig bediente wie die von seinem Stand offenbar erwartete Pop-Business-Unerfahrenheit reiflich bekräftigte.

Sicher, Pop ist immer auch Ware, aber eben nicht nur. Das beweisen seit Jahren die Berliner Punkrocker "Die Ärzte". Gegründet auf ein Ethos aus Witz, Provokation und Lust am Singen, verbinden Bela B., Farin Urlaub und Rodrigo González liebenswertes Rabaukentum, Kompromisslosigkeit und ein solides Gespür dafür, was Pfeifen auf vorgebliche Wichtigkeiten und eine gehörige Portion Selbstironie so unwiderstehlich macht. So erteilten sie in "Junge", Single zu ihrem Vorjahres-Album "Jazz ist anders", einer unzufriedenen Mutter das Wort, die ihrem Sohn gegenüber neben diversen übellaunigen Hinweisen auf den Erfolg anderer in der Familie vor allem eines herausrotzt: "Wie du wieder aussiehst!"

Es ist ein Erlebnis eigener Güte, diesen Satz auf Konzerten aus den Kehlen Zehntausender mitgesungen zu hören. Der Reim darauf: Hier findet Gemeindebildung statt, Vergewisserung von Identität und sicher auch Absolution, die sich Band und Fans gegenseitig zusprechen.

Bob Dylon sang vor 42 Jahren im Nonsenseblues "Rainy Day Women 12 & 35": "They'll stone ya when you're trying to be so good/they'll stone ya just a-like they said they would" - "Sie steinigen dich, wenn du mal gut sein willst, sie steinigen dich, wenn es ihnen gerade passt". Und wäre da nicht der Refrain "Everybody must get stoned - jeder muss mal breit sein", hätte er wohl auch "crucified", "gekreuzigt" nehmen können. Was Kollegin Madonna auf der Tour 2006 zwar nicht im Song, aber auf der Bühne tat, und dafür verbal gesteinigt wurde. In Italien und in Russland etwa, wo das zum Zeitgeist passt, seit Wladimir Putin orthodoxe Kirche und Nationalisten zu Attacken auf jeweils zu Blasphemikern erklärte Künstler ermutigte.

Kritik gab es auch in Deutschland, wo Madonna in Düsseldorf und in Hannover ihre Show mit sich am Kreuz zeigte. Zwar nur in Worten, die aber unverhohlen auf die Ereiferungsbereitschaft sonst wenig gelobter Muslime blickten: "Wenn jemand Mohammed in dieser Form darstellen würde, gäbe es einen Aufstand", orakelte Manfred Becker-Huberti, seinerzeit Sprecher des Erzbistums Köln. Becker-Huberti beklagte, "dass in einem christlichen Land in solcher Form christliche Symbole verunstaltet werden dürfen", und nannte die Gesetzeslage "hundsmiserabel".

Einen Sinn hatte der Aufschrei indes doch: Es darf wieder überlegt werden, ob Popmusik und ihre Inszenierungen Kunst sind und entsprechende Freiheiten zu Recht genießen. In den neunziger Jahren, als das Feuilleton für sich neue Felder gedankenreicher Vertiefung fand, schien die Frage beantwortet. Zumal sich auch Kirchen und ihre Theologen fortan gern auf dem Terrain tummelten und in Madonnas Kreuzkettchen tiefe Sehnsüchte nach religiöser Erfüllung sahen. Inzwischen rudern führende Prostestanten von Bischof Wolfgang Huber bis zu seiner Amtskollegin Margot Käßmann offenbar zurück. Ob das mit der seit einigen Jahren nicht zuletzt von dieser Seite herbeigeredeten Renaissance der Religion zu tun hat?

Die für das Verhältnis von Religiosität und Pop wesentlichen Aspekte lassen sich unterdessen sowohl in die Früh- und Vorgeschichte von Pop (Anfang des 20. Jahrhunderts) zurückverfolgen als auch in die Zukunft spinnen. Außer Frage steht, dass auf dem weiten Feld des Pop vieles schlichter Unfug ist - erfreulich vieles jedoch ganz und gar nicht.

Aktuell am eindruckvollsten zeigt das der in Programmkinos bei uns gerade angelaufene Dokumentarfilm "Young at Heart" des Briten Stephen Walker. Er porträtiert einen gleichnamigen, seit 1982 existierenden US-Chor aus Northampton/Massachusetts, in dem Menschen, die im Schnitt die 70 schon locker hinter sich haben, mit anrührender Intensität, Neugier, Spaß und spürbarer Lust Rock- und Popsongs aus dem Relevanzgefilde singen. Ausgesucht wird das Programm vom inzwischen auch schon 52-jährigen Bob Cilman, der den Chor mit den gut zwei Dutzend aufgeschlossenen Senioren seit seiner Gründung leitet. Der Film zeigt zwischen den teils enorm mühevollen Proben und gefeierten Auftrittserlebnissen, wie die Sänger mit sich, dem Chor, den Songs, ihrer sattelfesten Band (Keyboards, Bass, Gitarre, Schlagzeug) und nicht zuletzt dem Tod leben (zwei Solisten starben während der Dreharbeiten).

Was an den Songs dran (oder auch drin) ist, könnte sich bezwingender wohl kaum zeigen als in der Arbeit des "Young@Heart Chorus" (www.youngatheartchorus.com): So etwa wenn eine 92-Jährige die Soloparts des Clash-Klassikers "Should I Stay or Should I Go" übernimmt (inzwischen ebenfalls verstorben) und im Gespräch mit dem Autor sehr locker den Bogen zu ihrem Leben und dem der andern schlägt. Ein Vitalitätsfeuerwerk mit Gehhilfen und Terminen für Bluttransfusion oder weitere Chemotherapien. Humor, der sich verfestigt, wenn sie in ihrem auch optisch gewieften Chor-Video den "Talking Heads"-Song "Road to Nowhere" inszenieren.


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Udo Feist (geb. 1963), Dr. theol., ist evangelischer Theologe, freier Journalist und Publizist in Dortmund.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 11, November 2008, S. 589-592
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2009