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HINTERGRUND/160: Partituren der Erinnerung (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 51/Frühjahr 2010

Partituren der Erinnerung

Von Melanie Unseld


Dem musikinteressierten Menschen des 18. Jahrhunderts war es fremd, alte Musik auf der Bühne zu hören oder sogar Werke für die Nachwelt zu erhalten.Das 2009 wieder entdeckte Cembalo-Konzert der Wiener Komponistin Marianne Martines (1744-1812) ist vor diesem Hintergrund ein großes Glück. Die gefundene Partitur ermöglicht genauere Einblicke in die bislang noch relativ unbekannte Musikkultur der Wiener Klassik, insbesondere des aristokratischen Salons - und stellt die musikwissenschaftliche Erinnerungsforschung vor neue Herausforderungen.


Über die Musikkultur des 18. Jahrhunderts zu forschen, heißt, sich in eine scheinbar vertraute Welt zu begeben. Vertraut durch die gegenwärtige Musikhochkultur, in der Werke wie Mozarts "Zauberflöte" oder die Beethovenschen Klavierkonzerte allgegenwärtig sind.

Der Kanon wird noch immer von den großen Namen angeführt: Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven bilden jene Trias, die die "Klassik" gleichsam personifiziert. Bewegen wir uns also auf vertrautem Terrain, wenn wir über Musik des 18. Jahrhunderts sprechen? Nur scheinbar, denn in ihrer Vielfalt jenseits des engen Kanons ist uns die Musikkultur der Klassik eine fremde Welt. Jene Werke, die bis heute immer wieder aufgeführt werden, bilden nur die Spitze eines Eisbergs, dessen Fundament aus einer Vielzahl vergessener oder nur in Ansätzen bekannter Werke besteht. Die Musikkultur des 18. Jahrhunderts ist uns auch deshalb fremd, weil das Selbstverständnis im Umgang mit Musik damals ein grundsätzlich anderes war. Durch die Verbürgerlichung der Musikkultur, die im 18. Jahrhundert ansetzte und sich dann vor allem im 19. Jahrhundert ausprägte, veränderten sich viele musikalische Praktiken. Und was uns heute selbstverständlich erscheint - etwa die Tatsache, dass wir Musik der Vergangenheit als wesentlichen Bestandteil unserer Musikhochkultur betrachten -, ist Ergebnis dieses musikkulturellen Wandels. Eine Oper, komponiert für die Saison 1781, galt in der darauf folgenden Saison bereits als veraltet und wurde nur in Ausnahmefällen nochmals aufgeführt. Entsprechend groß war der Bedarf an neuer Musik: Höfe und aristokratische Salons konkurrierten um die besten Komponisten, die immer wieder tagesaktuell komponierten. Musik der Vergangenheit war allenfalls ein Sonderfall für Kenner. Dass heute vor allem Historisches auf den Opern- und Konzertpodien erklingt, wäre für die Menschen des 18. Jahrhunderts unvorstellbar gewesen.


Herausforderungen für die Musikwissenschaft

Für das kulturelle Gedächtnis stellt die Musikkultur des 18. Jahrhunderts damit eine Herausforderung dar. Denn erst wenn die Musik aufgeschrieben, gedruckt und bewahrt wird, ist sie für die Nachwelt greif- und aufführbar. Das musikalische Selbstverständnis und die Schnelligkeit des Musikbetriebs im 18. Jahrhundert aber zielte nicht auf die Nachwelt - mit der für die Musikwissenschaft fatalen Konsequenz, dass viele Kompositionen nur für den Augenblick aufgeschrieben, selten aber bewahrt wurden. Zahllose Streichquartette, Sinfonien und Opern sind nicht oder nur fragmentarisch überliefert. Was aber wurde überliefert? Können wir Kriterien erkennen, nach denen Musik für das Archiv und damit für das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt wurde?

Die Fragen führen direkt in einen Forschungsbereich, der sich am Institut für Musik neu etabliert hat: die musikwissenschaftliche Erinnerungsforschung. Als beispielhaft für die Arbeit dieses Forschungszweigs an der Universität Oldenburg mag die hier entstehende Promotion von Gesa Finke über Mozarts Ehefrau Constanze als Nachlassverwalterin gelten. Selbst bei einem kanonisierten Komponisten wie Mozart ist zu erkennen, dass der Prozess der Erinnerungskultur kein selbstverständlicher ist. Es bedurfte einzelner Personen, die das Bewusstsein des Bewahrens entwickelten, die sich der Kompositionen annahmen, die die Partituren und Stimmen aufbewahrten und dafür sorgten, dass sie gedruckt und archiviert wurden. In einer Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Erinnerungsforschung ist nun der Fund einer autographen Partitur aus dem 18. Jahrhundert Herausforderung und Glücksfall gleichermaßen: das Cembalo-Konzert in E-Dur der Wiener Komponistin Marianne Martines (1744-1812) gibt Anlass, neu über die Wiener Klassik nachzudenken.


Marianne Martines - ein außergewöhnliches Talent

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Komponistin und generell von musikkulturellen Zusammenhängen liegt in der Distanz zu einer reinen Werkbetrachtung: Der Blick kann sich etwa auf den Ort konzentrieren, für den Musik im 18. Jahrhundert komponiert wurde, vor allem aber muss nach den Beteiligten einer Aufführung gefragt werden. Die Komposition erscheint so nicht als autonomes Kunstwerk, sondern als Teil kommunikativer Prozesse, an denen Gruppen von Menschen beteiligt sind: Personen, die Musik komponieren oder improvisieren, die sie spielen, drucken, verlegen - und hören. Im Betrachten jenes "Kommunikationsnetzwerks Musik" lässt sich die "andere" Musikkultur des 18. Jahrhunderts konturieren.

Martines verfügte über ein weit gespanntes Netzwerk von Kontakten. Sie war Tochter des Zeremonienmeisters des apostolischen Nuntius in Wien. Über den Vater Nicolò Martines bestanden enge Kontakte zum Wiener Hof, die für Ausbildung, berufliche Karrieren und Anerkennung aller Martines-Kinder von großer Bedeutung waren. Dieser Kontakt intensivierte sich über Pietro Metastasio, seit 1730 Hofpoet in Wien und mit der Familie Martines eng befreundet. Er war es, der das außergewöhnliche Talent der jungen Marianne Martines erkannte und die Verantwortung für ihre Ausbildung übernahm. Zu den Lehrern, die er für das Mädchen auswählte, gehörten Nicolò Porpora und Joseph Haydn, der zeitweise - ebenso wie Metastasio selbst - im Hause Martines wohnte.

Ob die Aufführung ihrer dritten Messe 1761 in der Michaelerkirche ihr erster öffentlicher Auftritt als Komponistin war, ist nicht gesichert - die 17-Jährige wurde anlässlich dieser Aufführung jedenfalls als komponierendes Wunderkind gefeiert. 1767 wurden zwei ihrer Klaviersonaten gedruckt, 1773 wurde sie als erste Frau in die Accademia Filarmonica di Bologna aufgenommen. Sie etablierte sich in Wien als Komponistin, Cembalovirtuosin und Sängerin, weiterhin gefördert durch Metastasio und den Wiener Hof. In Metastasios Salon veranstaltete sie Akademien, die von zahlreichen ansässigen und durchreisenden Musikern und Künstlern geschätzt und rege frequentiert wurden. Auch das neu aufgefundene, 1766 entstandene Cembalo-Konzert E-Dur war offenbar für den Aufführungsort "Salon" gedacht.

Von ihm führt ein direkter Weg zu den stilistischen Eigenheiten der Musik selbst: der Cembalo-Part ist hochvirtuos, und wir können annehmen, dass die Komponistin selbst am Cembalo saß, als das Konzert zur Aufführung gelangte. Auf diese Weise erhalten wir einen Eindruck von den pianistischen Fähigkeiten der 22-Jährigen. Da das Konzert vielfach mit dem Formprinzip der (variierenden) Reihung arbeitet, liegt die Vermutung nahe, dass Martines eine versierte Improvisatorin war. Ein Zeitzeuge berichtet von Konzerten im Salon Metastasios, bei denen Martines und Mozart ausgiebig vierhändig improvisiert haben sollen.

Der Aufführungsort "Salon" lenkt zudem den Blick auf die Besetzung des Konzerts: die reine Streicherbegleitung lässt den Rückschluss zu, dass Martines zu diesem Zeitpunkt keine Bläser zur Verfügung hatte. Dieses Komponieren "auf die Gegebenheiten hin" gehörte zum musikkulturellen Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts: Die Orchesterbesetzung war nicht standardisiert, wie es heute üblich ist, sondern richtete sich nach den Fähigkeiten der vorhandenen Musiker, nach der Festlichkeit des Anlasses (Trompeten und Pauken als Zusatz für aristokratischen Glanz), nach der Raumgröße oder auch dem finanziellen Spielraum - je größer dieser war, um so mehr und bessere Orchestermusiker konnten engagiert werden. Das Biographische Lexikon des Kaisertums Österreich verzeichnet im Eintrag über Marianne Martines zwölf Cembalo-Konzerte. Zusammen mit dem nun wieder aufgefundenen E-Dur-Konzert sind damit vier Cembalo-Konzerte bekannt. Über den Verbleib der übrigen wissen wir bislang nichts.


Das Geschlecht als Kriterium für Erinnern oder Vergessen

Eine gendersensible Erinnerungsforschung wird hier ansetzen und nach den Mechanismen der ausbleibenden Tradierung im konkreten Fall der Marianne Martines fragen müssen. Denn es ist offensichtlich, dass das Geschlecht ein wesentliches Kriterium für das Erinnern, Archivieren und Vergessen darstellte: Zwar war Martines als Komponistin vergleichsweise gut etabliert und in den für Professionalität und öffentliche Anerkennung stehenden Institutionen entsprechend vernetzt - Komposition aber tatsächlich als Profession auszuüben, war ihr als Frau nicht möglich. Damit blieben ihr gerade jene Archive, Institutionen und Verlage verschlossen, die für die musikalische Erinnerungskultur von großer Bedeutung sind. Dass Noten von Martines aufbewahrt wurden, ist daher musikhistorisch kaum rekonstruierbaren Zufällen geschuldet - und keiner erinnerungskulturellen Strategie. Eine Freude und Bereicherung unseres Bildes von der Musikkultur der Wiener Klassik bleibt das Konzert allemal.


Die Autorin

Melanie Unseld ist seit 2008 Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Universität Oldenburg und seit 2009 Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZFG).Zuvor war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Nach dem Studium der Musikwissenschaft, Philosophie, Literaturwissenschaft und Angewandten Kulturwissenschaft in Karlsruhe und Hamburg folgte 1999 die Promotion; 2002 bis 2005 war sie Stipendiatin des Lise Meitner-Hochschulsonderprogramms. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die europäische Musikkultur um 1900, slawische Musikgeschichte, die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts, Biographik, Musikgeschichtsschreibung, Erinnerungsforschung sowie Gender Studies.


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Quelle:
Einblicke Nr. 51, 25. Jahrgang, Frühjahr 2010, S. 4-7
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg
Presse & Kommunikation:
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Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
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Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2010