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HINTERGRUND/169: "Meine Religion sind die Lieder" - Bob Dylan und die Folkmusik (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 4/2011

"Meine Religion sind die Lieder"
Bob Dylan und die Folkmusik

Von Knut Wenzel


Der Liedermacher Bob Dylan, der am 24. Mai 70 Jahre alt wird, gehört seit Jahrzehnten zu den erfolgreichen Interpreten. Auch außerhalb einer ausdrücklich christlichen Phase spielt Religion eine zentrale Rolle in seinen Songs. Was ist der Kern der Religiosität dieses Folkmusikers?


Bob Dylan hat Lieder geschrieben, um der Gewalt seiner Glaubensüberzeugung Ausdruck zu verleihen. Und er hat diese Lieder in Musiktraditionen eingelassen und mit Musikern eingespielt, die seiner Stimme zu einer solchen Punktgenauigkeit, Phrasierungsdynamik und vitalen Präsenz verholfen haben, dass die Botschaft unmittelbar im Ohr der Hörenden zu ertönen scheint. Texte und Musik scheinen alle Schranken fallen gelassen zu haben: die der kulturellen Differenzierungen, der persönlichen Scham, des intellektuellen Skrupels, der kunst- und musikbetrieblichen Klugheit, des Respekts vor der Integrität der anderen.

Alles klingt wie unmittelbarer Ausfluss eines frisch gewonnenen Glaubens, alles ist unmittelbare Ansprache: drängend-bedrängend, unabweisbar dringend. "Wann, wann endlich wirst du aufwachen - zerreißen den allumfassenden Schleier des Falschen?" ("When You Gonna Wake Up?", aus dem Album: Slow Train Coming, 1979). Poesie, Lieder der Glaubensdringlichkeit, einer mitteleuropäischen Temperierung eher fremd, in den dynamischen Kreisen des Pfingstlertums womöglich aber der normale Verkehrston.

Und doch ist hier eine eigene Stimme wahrzunehmen, die gerade in ihrer Präsenz verlangt, nicht auf Temperament und Ton reduziert zu werden; vielmehr die vibrierende Nötigung einer Glaubensäußerung: - "Bist du bereit / Bist du bereit / Bist du bereit zur Begegnung mit Jesus?" ("Are You Ready", aus: Saved, 1980). Wann lässt man alle Vorsicht fahren? Wenn es um alles geht. Das ist die Geste dieser Lieder.


Shows wie Erweckungsgottesdienste

Eine apokalyptische Katastrophenwahrnehmung begleitet das Werk Bob Dylans beinahe von Anfang bis heute, und sie artikuliert sich mal in surrealistischen Bildketten, mal in Posen christlicher Empörung oder des politischen Protests, mal in einer widerborstigen Grundstimmung. Wo sie sich ganz ungebremst ihrem Furor hingeben kann, bekommen Dylans Lieder etwas Gewaltsames: Religiöse Verkündigung (und darum handelt es sich bei diesen Liedern aus der Wende von den siebziger in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts), die ihre Legitimität einzig aus der eigenen Überzeugtheit schöpft und nicht etwa aus der unbedingten Anerkennung des Adressaten, muss notwendig gewaltförmig werden. Dies, den anderen zu seinem Heil zwingen zu dürfen, wo es doch um sein Heil geht, ist die Versuchung, in der jede religiöse Verkündigung, jede Mission, steht.

Bob Dylan hat das praktiziert. Seine Instrumente, oder Waffen, waren das Wort, die Musik, die Show. Die Botschaft war zwingend und das eingesetzte Kapital an Poesie und performance womöglich auch. Aber an den veröffentlichten Alben und unternommenen Tourneen, deren Shows wie Erweckungsgottesdienste inszeniert waren, hat sich kein Flächenbrand der Bekehrungen entzündet - noch ist die Welt unter Zurücklassung der Chosen Few untergegangen. Das Projekt der Herstellung von Eindeutigkeit durch die Gewalt des Bekenntnisses ist gescheitert.


In diesem Scheitern haben sich aber unterschiedliche Bedeutungslinien zu einer markanten Konstellation ausgeprägt, die nun als Schlüssel des gesamten Werks von Bob Dylan verstanden werden kann: Das ist zum einen die Linie der poetischen "Chimes Of Freedom" oder surrealistischen "Desolation Row" Evokation, der kafkaesken Inszenierung "Ballad Of a Thin Man", der engagierten Kritik "The Lonesome Death Of Hattie Carroll" und der politischen Verurteilung "Political World, Everything Is Broken" einer unverständlich gewordenen, von Täuschung und Ausbeutung bestimmten, in einem umfassenden Schleier der Verblendung verfangenen Welt.


Da ist zweitens die Bedeutungslinie der Suche nach, des Bestehens auf einer Instanz, in Bezug auf die oder von der her dieser Weltzusammenhang des Falschen transzendiert, zerrissen, konterkariert werden kann. Eine noch ungeschützte Appellation an eine solche Instanz findet sich etwa in dem Song "All Along the Watchtower" (erstmals auf: John Wesley Harding, 1967). Im Ausklang der explizit christlichen Phase wird diese Instanz auf der Spur biblischer Sprache und einer gewissen christlichen Frömmigkeitskultur dann noch einmal überausdrücklich in Anspruch genommen: wenn nämlich in einem apologetischen Lied der, der sich frei gemacht hat von all dem, ohne das man nicht leben zu können glaubt, als "Property Of Jesus" deklariert wird - und seinen Kritikern sarkastisch konzediert wird, sie hätten ja etwas Besseres, nämlich ein Herz aus Stein (auf: Shot Of Love, 1981).


Gescheiterte Identifizierung

Nebenbei zeigt sich hier das Grundproblem aller integralistisch verfassten religiös motivierten Kritik an "der" Welt, das heißt an einer bestimmten gesellschaftlich-politischen Lage oder Situation: Diese Kritik adressiert sich an eine als extern oder gar fremd empfundene Welt, jedoch in einer strikten Binnensprache. Das mag zuweilen unbedacht geschehen, meistens aber voller Stolz: Selbstredend lassen solche Religiösen sich nicht auf die Sprache "der" Welt ein, über die sie gerade ein Verdammungsurteil sprechen. Mit dem nicht ganz unbedeutenden Effekt allerdings, dass die so adressierte Welt es gar nicht zur Kenntnis nehmen oder gar verstehen muss, dass und was hier zu ihr gesprochen wird.

"Der" Welt, gegen die jenes zuvor zitierte Lied kritisch aufgeboten wird, ist "Property Of Jesus" keine Kategorie, die ihr irgendetwas erklären würde. "Heart Of Stone" hingegen ist wohl biblisches Zitat (Ez 36,26), doch längst so sehr in den Allerweltswortschatz eingegangen, dass hier die Binnensprache ein Fenster nach außen hat. Womöglich ist Bob Dylan immer durch solche Passagen der Bedeutung gegangen und hat die von ihm aufgesuchten, bewohnten und im Fall des Erweckungschristentums bis zum Bodensatz ausgekosteten Sprachbezirke als Transiträume begriffen. Es gibt eine postchristliche Phase im Werk Bob Dylans, und sie dauert bis heute an.


Eine dritte Bedeutungslinie, die im Prisma der gescheiterten Identifizierung mit dem expliziten Erweckungschristentum sich mit den anderen Linien zu einer bedeutungsvollen Konstellation bündelt, ist die der Autoritätsungebundenheit. Keine Kirche, kein Amt, kein Lehramt finden irgendeine Resonanz als anerkannte Autoritäten in den Liedern Bob Dylans. Und nicht einmal der Heiligen Schrift wird je die Rolle einer exklusiven Bedeutungsquelle zugemessen. Darin artikuliert sich ein Freiheitsbewusstsein, das allerdings erst in einem Diskurs faktischer Autoritätsabwesenheit voll zur Geltung kommen kann. Bei Bob Dylan ist dies der wiederentdeckte Diskurs der Folkmusik.


Dylans postevangelikale Phase beginnt mit einem Album, das den vielsagenden Titel Infidels (Ungläubige, 1983) trägt. Die auf dem Cover und der Innenhülle abgedruckten Photos stammen aus dem Zusammenhang der Bar Mizwa-Feier von Dylans Sohn Jesse, die 1982 in Jerusalem stattfand. Dylan hat diese Feier, Kippa, Tefillin und Gebetsmantel tragend, sehr ernst genommen. Ein Albumtitel und affirmative Gesten in Richtung der religiösen Dimension seiner jüdischen Herkunft: zwei unübersehbare Brechungen einer Überidentifikation mit einem Hyper-Christentum. Bereits in den für Dylan schwierigen achtziger Jahren setzt dann ein, was Anfang der neunziger Jahre zu einer Revitalisierung der Schaffenskraft führt und den Beginn eines beeindruckenden Spätwerks markiert: das erneute Eintauchen in die reiche Tradition der Folkmusik.

Alltagsnahe Lieder, nicht unpoetisch, in allen Schattierungen der Hautfarbe geschrieben und gesungen, aus allen verfügbaren Quellen schöpfend: Gesangstraditionen der Britischen Inseln, mitteleuropäische Tänze, Blues, Kirchenlieder bis zurück in die elisabethanische Zeit, doch genauso aus den entstehenden afro-amerikanischen Kirchen; anekdotische Sensationslieder über Unglücke, Morde, Postzugüberfälle, überhaupt Eisenbahnlieder, Bergarbeiterlieder, Protestlieder, Gewerkschaftslieder, Spirituals, Gospelsongs, Liebeslieder, Leidenslieder; Chroniken, Träumereien, Klagen, Rettungsrufe - der ganze Kosmos menschlicher Selbstartikulationen: das ist die Welt der Folksongs.

Wer sie organisiert? Niemand, jedenfalls diesseits des Zugriffs von Musikindustrie und Politik. Und genau deswegen konnte die Folkmusik Ausdrucksmedium der Menschen werden. Wenn Bob Dylan zu Beginn der neunziger Jahre diese Kultur wieder entdeckt, greift er auf ein historisch gewordenes Paradigma zurück. Dass dieser Rückgriff aber unmittelbar funktioniert, stellt das uneingelöste und unverbrauchte Versprechen unter Beweis, das die Folkmusik inkorporiert: die autonome Selbstartikulation der Menschen, weitab von institutionellen Autoritäten. Die beiden Alben Good As I Been to You (1992) und World Gone Wrong (1993) werden stilprägend, vorbildhaft, Referenzadressen anderer Musiker.


Streuner und Landstreicher

Folkmusik ist im Kern keine Übung von Profis im Gegenüber zu einem laienhaften Publikum. Die Musiker gehören denselben sozialen Kreisen an wie ihre Zuhörenden. Sie sind Farmer, Handwerker, Arbeiter, Händler, Saisonarbeiter, Arbeitslose, Arbeitsmigranten, Arbeitsflüchtlinge. Wer jetzt noch zuhört, kann im nächsten Moment selbst performer sein. Folkmusik hat etwas Anarchisches. Freier Diskurs, der nie zu einem Ende kommt, sondern einfach weitergeht. Wer nur irgendwo in ihn eintritt, hat schon Anteil an seiner Universalität: Hierin liegt das eigentlich Romantische des Folk.


Dieser Kultur wendet Bob Dylan sich erneut zu, dreißig Jahre nach seiner ersten Ankunft in New York 1961, wo er in eine akademisierte, unter ideologischer Spannung stehende Folk-Szene stieß. Er wird sie drei Jahre später sprengen und verlassen in Richtung einer elektrisch befeuerten und rockmusikalisch universalisierten Eigenwelt vorbildloser Lieddichtungen, in denen urbane Streunereien, Pilgerfahrten der Nacht, nicht abreißende Sequenzen des Albtraumhaften, Litaneien der Liebe, Klagepsalmen der Sehnsucht sich zu geisterhaften Seancen der Bedeutung treffen. All das schöpft weiterhin aus dem Kosmos des Folk, aus seiner traumbildhaften Nachtseite.

Bob Dylan artikuliert sich von nun an mit unbeirrbar eigener Stimme und betritt 1961 die Bühne der Folk-Kultur, die er mit unbrechbarer Energie binnen Kurzem zur öffentlichen Bühne des autonomen Künstlers ausbauen wird, mit einem imaginären Koffer erfundener und angemaßter Identitäten. Allein um den Namenswechsel von Robert A. Zimmerman zu Bob Dylan kultiviert er von Anfang an eine Wolke der Gerüchte. Bei seiner Ankunft in New York als 21-Jähriger tritt er wie einer auf, der schon mehrere Leben hinter sich hat. Im Zentrum steht die angemaßte Hobo-Existenz, das Leben eines Streuners und Landstreichers, der alles gesehen, alle getroffen und das Leben selbst kennen gelernt hat.

Mit der Figur des Hobo situiert Dylan sich im Zentrum der US-amerikanischen Mythologie, nimmt die Identität einer Gegenfigur an, zwischen Entwurzelung und Gangstertum. Der Hobo als Existenz und Figur einer proto-globalisierten Moderne. Der Hobo ist zugleich Träger und Figur der Folk-Kultur: All das eignet der junge Dylan sich an, der aus einer bürgerlichen Familie des Nordwestens stammt, mit High-School-Abschluss und temporärem Universitätsbesuch.


Doch ist mit dem Hinweis auf Dylans bürgerlichen Hintergrund mehr verdeckt als gesagt: Er wächst in Hibbing, Minnesota, auf, einem Realsymbol des ganzen Irrsinns einer forcierten verbrauchenden Moderne. Anfang des 20. Jahrhunderts war Hibbing einer der wohlhabendsten Orte weltweit, basierend auf der Erzgewinnung im Tagebau. Das größte menschengemachte Erdloch überhaupt lag vor seinen Toren. Ein Loch, das die Stadt schließlich verschlungen hat: Der fortschreitende Tagebau erzwang deren Verlegung. Als Dylan aufwuchs, hatte der Reichtum sich erschöpft - und neben der neu errichteten Stadt standen wie ein dunkler Schatten noch Ruinen und Überreste der verlassenen. Wie wächst es sich auf in einer Stadt, die sich in ihrer Prosperität selbst verschlungen hat und von den Ruinen ihrer Hybris wie von einem unheimlichen Schattenbild begleitet ist?

Und für Bob Dylan konnte das von Anfang an eine spezielle Symbolik haben: In der Unheimlichkeit des Herkunftsorts mag die Heimatlosigkeit der eigenen Identität einen sprechenden Ausdruck finden: Die USA sind insgesamt ein Land, eine Gesellschaft und Kultur der Einwanderung, mit den unwägbaren, unzählbaren Verlustgeschichten, die das mit sich bringt. Eine Dynamik, die sich in der hohen Mobilität dieser Gesellschaft fortsetzt - und in einer jungen, aber lebendigen, "heißen" Mythologie starken Ausdruck findet. All jene Figuren des Aufbruchs, des Umherziehens, der verfehlten Ankünfte werden zu Leitfiguren seiner Lieder: der Hobo, der obdachlose Güterzugreisende, der Arbeit suchende wie fliehende, außerbürgerliche Streuner. Es ist als würde in deren ständigem Unterwegssein, so wie Dylan selbst seit 1988 ununterbrochen auf Konzerttour ist, noch die Herkunft seiner Familie aus dem zaristischen Russland nachhallen, aus dem sie vor judenfeindlichen Pogromen geflohen war, zuvor aus der Türkei stammend.


Souveräner Benutzer vieler zur Verfügung stehender religiöser Stoffe

Die jüdische Familie, die 1946 Hibbing erreicht, ist letztlich nicht angekommen. In einer fragilen Gesellschaft um Identität ringen zu müssen: Bob Dylan beantwortet diese Herausforderung mit der ostentativen Annahme von Masken. Von den biographischen Erfindungen seiner Frühzeit über die Rolle des Alias, die er 1973 in Sam Peckinpahs "Patt Garrett & Billy the Kid" spielt, bis hin zu dem von ihm auf allen Ebenen (Script, Acting, Soundtrack) mitverantworteten Film "Masked and Anonymous" (2003): Die Identität-als-Maske sichert die schützende Anonymität. Er hat viele Masken getragen; die Maske selbst scheint mittlerweile zur Physiognomie wenigstens der Bühnenfigur Bob Dylan geworden zu sein.


Es war aber nie das Spiel der Maskierung, sondern ist Überlebensversuch und echte Identitätssuche in einem. Deswegen die Streuner, Spieler und Gauner in seinen Liedern. In diesem Sinn war die Phase expliziter Christlichkeit eine unter vielen Maskierungen. Doch hat er keine dieser Masken je im Spaß bloß aufgesetzt. In einem gewissen Sinn hat er keine von ihnen je abgelegt. Bob Dylan ist all das: Star, Familienmensch, Stadtstreicher, Weißclown, Polit-Aktivist, Bekenner und Prediger, Folk-Musiker; und durch diese und andere Rollen hindurch jener, der zunehmend sichtbar wird als er selbst, unter dem Pseudonym des Bob Dylan, greifbar am ehesten in der Figur des Hobo, Streuner und Pilger in einem, Zugpassagier, der nie ein Ticket löst.

Erst jenseits der Phase rücksichtslosen Bekennertums wurde seine Religiosität erkennbar. Hinsichtlich der Religiosität, also der Praxis des Glaubensausdrucks, zeigt Bob Dylan sich vor allem in seinem Spätwerk, dessen Produktivität auch gegenwärtig noch andauert, als souveräner Benutzer vieler zur Verfügung stehender Ausdrucksstoffe. Keine Religion bestimmt ihn. Vielmehr verfügt er selbstbestimmt über seine Religiosität. Unter den Bedeutungsstoffen, denen er Ausdruck seiner innersten Überzeugungen, seines Glaubens, anvertraut, können auch Semantik und Pragmatik des Christentums sein. Doch ist Dylans Praxis des Selbstausdrucks von keiner Religionsgrammatik (mehr) dominiert.

Deswegen ist sein Auftritt 1997 auf dem Eucharistischen Kongress in Bologna unter den Augen des bereits von seiner Krankheit gezeichneten Johannes Paul II. kein Bekenntnis zu irgendeiner bestimmten Religionsformation, sondern sozusagen die freie Durchkreuzung des römisch-katholischen Koordinatenfelds durch das autonome Glaubenssubjekt Bob Dylan: Er singt unter anderem "A Hard Rain's A-Gonna Fall", ein düsteres, ungetröstetes, Hoffnung bis zuletzt verweigerndes Untergangslied, worin weniger ein Gestus der Provokation als der Selbstbehauptung zu sehen ist.

Bob Dylan erklärt sich nun, 1997, ausdrücklich religionsdistant: "Ich finde meine Religiosität und Philosophie in der Musik. Ich finde sie nirgendwo anders. Lieder wie 'Let Me Rest On a Peaceful Mountain' oder 'I Saw the Light' - das ist meine Religion. Ich hänge keinen Rabbis an, keinen Predigern, keinen Evangelisten, niemandem von dieser Art. Ich habe mehr von den Songs gelernt als von irgendeiner dieser Größen. Die Songs sind mein Wörterbuch. Ich glaube (an) die Songs" (in einem Interview für Newsweek).

Aber diese Selbsterklärung hat es in sich: Es ist nämlich eine religiöse Religionsdistanz. Das alte zweipolige Schema religiös-säkular hat ausgedient. Wer sich erklärtermaßen keiner Religionsautorität unterwirft, kann sich im selben Moment als religiös bestimmen. Das ist selbstbestimmte Religiosität. Sie kann durchaus Strukturen, Institutionen und Autoritäten einer Religion in Anspruch nehmen - oder besuchen, wie Dylan den Papst - und sie dadurch als sinnvoll anerkennen. Aber eine so anerkannte Sinnhaftigkeit ist pragmatisch und in einem strikten Sinn subjektiv; es besteht keine Gewähr, dass sie dem Selbst-Verständnis dieser Religion entspricht. Bob Dylan ist darin eine eminent moderne Gestalt. Die kirchlich-theologische Unterscheidung zwischen Kirche und Sekte reicht nicht hin, um diese religionsproduktiven Effekte der Moderne zu bewerten. Diese religiösen Subjekte bewegen sich "quer über die Gleise" (Uwe Johnson), frei über die Grenzen zwischen unterschiedlichen Religions- und Säkularitätsdiskursen (Bedeutungs- und Metaphernfeldern).

Die Sprache, die all dies Heterogene zu vertexten erlaubt: die Religion einer gotisierenden Spitzbogenarroganz, die Prosa des Lebens, den Blues der Liebe, die Metaphorik der Trauer, ist der Folk. Dylan erhebt den Folk zu einer Art Metasprache der Säkularität: zur Sprache jener Dimension von Kultur und Gesellschaft, in der die Menschen samt ihren heterogenen religiösen, kulturellen, mentalitätsmäßigen Eigentümlichkeiten einander verletzungsfrei begegnen und miteinander Austausch, wenn nicht gar Verständigung pflegen können.


Diese Sprache aber existiert nicht. Sie ist, wenn sie dennoch behauptet wird, eine utopische Sprache. Als Sprache des Folk ist sie metareligiös, metapolitisch, metaethnisch. Auch wenn Bob Dylan davon nie gehört haben mag, kann man hierin das genuin romantische Projekt einer Universalpoesie erkennen. Die Sprache des Folk wäre in diesem Sinn eine poetische Sprache. Eine Sprache, die alles mit allem vermitteln kann, und in der deswegen Gebete wie Reime, Verse, Gedichte, Lieder erklingen ("your eyes like smoke and your prayers like rhymes", "Sad-Eyed Lady From the Lowlands", auf: Blonde On Blonde, 1966).

Wenn in dieser Sprache die Reime die Sprachform auch der Gebete vorgeben, also das religiöse Ausdrucksverlangen in eine allvermittelnde Sprachform gebracht wird, stellen umgekehrt die Gebete sozusagen die Bedeutungsnorm dieser utopischen Sprache des Folk dar: Mag sie auch Metasprache sein, bezieht sie doch aus einem unbedingten, unmittelbar adressierenden Ausdrucksverlangen wie dem des Gebets ihre Bedeutungskraft.

Indem Bob Dylan eine solche Metasprache nicht bloß behauptet oder konstruiert, sondern aus der konkreten, also partikularen, stofflichen, und im Material deswegen überhaupt nicht meta-real universalen Kultur des Folk bezieht, verleiht er dieser nicht nur einen identifizierbaren Herkunftsort, sondern auch das metaphorische Fleisch einer affektiven Bejahung der Menschen, die sich und ihre Lebensschicksale, ihre Sehnsüchte und ihre Verluste, in dieser Sprache des Folk ausgedrückt haben. Diese Selbstartikulationen der Menschen bilden den Stoff, aus dem die Sprache des Folk gemacht ist. Was immer also in solcher Sprache an Religiösem sich artikuliert, ist durch diese Filter des Menschlichen gegangen: Gebete wie Lieder eben.


Knut Wenzel (geb. 1962) ist seit 2007 Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt. Promotion zum Dr. theol. 1996, Habilitation 2001 in Regensburg.



WEITERFÜHRENDE LITERATUR:

Heinrich Detering:
Bob Dylan, Reclam Verlag, 3. Aufl., Stuttgart 2009

Richard Klein:
My Name Is Nothin. Bob Dylan: Nicht Pop, nicht Kunst, Lukas Verlag, Berlin 2006

Knut Wenzel:
HoboPilgrim. Bob Dylans Reise durch die Nacht, Grünewald Verlag, Ostfildern 2011

Sean Wilentz:
Bob Dylan in America, Doubleday, New York 2010


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 4, April 2011, S. 205-210
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2011