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HINTERGRUND/172: Balkan - Schlusspunkt nach Kriegen, Orchester engagieren sich für Aussöhnung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. November 2011

Balkan: Schlusspunkt nach Kriegen - Orchester engagieren sich für Aussöhnung

von Vesna Peric Zimonjic


Belgrad, 7. November (IPS) - Der Weg zur Versöhnung im früheren Jugoslawien führt auch über die Musik: Die philharmonischen Orchester von Ljubljana, Zagreb und Belgrad bereiten sich auf ihren ersten gemeinsamen Auftritt seit 1991 vor.

Mehrere Unabhängigkeitskriege in den neunziger Jahren ließen das ehemalige Jugoslawien schließlich auseinander brechen. Während des Konflikts wurden mehr als 200.000 Menschen getötet. Da die neuen Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien und Montenegro dem blutigen Krieg ihre Existenz verdanken, ist die Aussöhnung bisher nur schleppend vorangekommen. Der Hass wurzelt tief, vor allem zwischen Kroaten und Serben.

Um die Zusammenarbeit und die Kommunikation zwischen den neuen Staaten zu fördern, haben die Direktoren der drei Philharmonien auf dem Balkan ein Programm entworfen, das in fünf Konzerten in den Hauptstädten Sloweniens, Kroatiens und Serbiens zur Aufführung kommen soll. Der Titel des Programms lautet 'Pika, Tocka, Tacka' und bedeutet in den Sprachen der drei Länder 'Punkt'. Damit soll symbolisch das Ende der Feindseligkeiten markiert werden.


Politiker und Bevölkerung müssen Botschaft aufgreifen

"Die nationalen Orchester sind zuversichtlich, dass sie trotz ihrer Konfliktvergangenheit miteinander kooperieren können. Sie glauben, dass diese Zusammenarbeit von der Bevölkerung abhängen wird", sagte der Direktor der Belgrader Philharmonie, Ivan Tasovac. "Veränderungen können nicht von oben diktiert werden. Kluge Politiker haben diese Botschaft bereits verstanden."

Die Initiatoren des musikalischen Versöhnungsprogrammes begannen vor etwa zwei Monaten damit, die Werbetrommeln zu rühren, wie Tasovac IPS sagte. Das Belgrader Orchester hatte im August zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder in Dubrovnik gespielt.

1991 und 1992 war die kroatische Küstenstadt unter schweres Bombardement des serbischen Militärs geraten und sechs Monate lang belagert worden. Nicht alle Einwohner haben diese Erlebnisse überwunden. Der Auftritt des serbischen Orchesters unter Leitung des international renommierten indischen Dirigenten Zubin Mehta stieß daher zunächst vor allem bei kroatischen Nationalisten auf Protest.


Keine Angst vor serbischen Violinen!

Die Stimmung beruhigte sich jedoch wieder, als sich der prominente kroatische Musikkritiker Branimir Pofuk zu Wort meldete. 'Warum ich keine Angst vor serbischen Violinen habe', hieß sein Artikel, der von den Medien seines Landes verbreitet wurde. Pofuk sagte IPS, dass 'Pika, Tocka, Tacka' ein weiterer Beweis dafür sei, "dass Musiker alte Brücken wieder aufbauen und neue errichten. Die Politiker können dem nur folgen."

Sein Kollege Denis Derk ist der Ansicht, dass das gemeinsame Programm zweifellos ein "Ende der Scharmützel und Vorurteile" bedeutet, die nach wie vor in der Region verbreitet sind. "Damit werden der kulturellen Zusammenarbeit in diesem Teil Europas neue Türen geöffnet. Maestro Mehtas Unterstützung für das Konzert in Dubrovnik hat den Anfang gemacht."


Dirigent Zubin Mehta will neue Brücken bauen

Vor der Aufführung sagte Mehta in der Presse, der Auftritt habe zu "Freundschaft und dem Entstehen neuer Brücken" führen sollen. "Das Konzert bedeutet mir mehr als nur die Musik", bekannte er. 'Pika, Tocka, Tacka' bezeichnete er als Schritt in die richtige Richtung: "Um das zu beweisen, werden wir unsere Herzen auf der Bühne in Dubrovnik lassen."

Tasovac sieht das Programm als Beweis dafür, dass die Kunst die Macht hat, Menschen zusammenzuführen. "Die Musiker und das Publikum wachsen zu einer Familie zusammen", meinte er. "Alle drei Orchester haben außerdem dieselbe Geschichte durchlebt, indem sie zur Geisel einer politisch motivierten Finanzierung wurden", erklärte Tasovac. Die Regierungen der drei Staaten hätten kein Interesse daran gezeigt, in die Hochkultur zu investieren. Zugleich hätten sie aber größere Summen für Popmusik-Festivals und Wettbewerbe unter Blaskapellen bereitgestellt.


Provokante Anzeige mit großer Wirkung

Um das Problem der Unterfinanzierung zu bekämpfen, hat sich die Belgrader Philharmonie vor einigen Jahren in einem ungewöhnlichen Appell an die Öffentlichkeit gewandt und ein Schlaglicht auf das Desinteresse der Staatsführung an der Kulturfinanzierung geworfen.

In einer Zeitungsanzeige bewies das Konzerthaus Selbstironie und warb beim Publikum um finanzielle Unterstützung. "Ein 85-jähriges Orchester wird zu einem vernünftigen Preis bei Ihnen zu Hause spielen", versprach die Philharmonie. "Wir können für Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen und Geburtstage gebucht werden. Zu allen Anlässen erscheinen wir in passender Garderobe."

Mit der provokanten Anzeige erreichte das Konzerthaus, dass die Regierung ihre Staatskasse öffnete. Substanzielle Unterstützung kam überdies von der 'Zubin Mehta Belgrade Philharmonic Foundation', die bei großen serbischen und internationalen Unternehmen sowie bei Einzelpersonen um Spenden warb.


Multiethnische Neujahrskonzerte

Mit ihrem die Grenzen aller Religionen und Kulturen überschreitenden Neujahrs-Konzertzyklus sorgt die Belgrader Philharmonie seit zwei Jahren für Aufsehen. Gefeiert wird nicht nur der Jahreswechsel nach dem jüdischen, islamischen, gregorianischen und julianischen Kalender, sondern auch das chinesische Neujahr.

An den Konzerten, die jeweils einen Tag vor diesen Feiertagen stattfinden, beteiligen sich Dirigenten aus Serbien und anderen Teilen der Welt, die mit dem Orchester internationales Repertoire aufführen. Unter den Zuhörern sind auch hochrangige Vertreter der jüdischen, islamischen, katholischen und orthodoxen Gemeinde in Belgrad.

"Wir haben diese Konzertreihe aus Respekt vor den multikulturellen und multiethnischen Ländern ins Leben gerufen", sagte Tasovac. "Je mehr Völker voneinander erfahren, desto weniger Missverständnisse wird es auf der Welt geben." (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2011