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HINTERGRUND/189: Das Arbeiterlied als politisches Lied (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013

Das Arbeiterlied als politisches Lied

Von Klaus-Jürgen Scherer



Arbeiterlieder wirken aus heutiger Sicht manchmal wie aus der Zeit gefallen, klingen nach einem Relikt aus alten Kampfes- und Demo-Tagen. Doch auch heute noch erfüllen sie mancherlei soziale und gesellschaftspolitische Funktion.


SPD-Parteitage enden immer noch damit, dass gemeinsam das Lied "Wann wir schreiten Seit an Seit" angestimmt wird - so viel Traditionspflege muss sein. Nicht nur bei linken Falken-Gruppen und feuchtfröhlichen Juso-Abenden. Selbst die sich modern gebenden "Netzwerker" halten den Arbeiterliedern abends die Treue, schmettern inbrünstig gerade die klassenkämpferischen Zeilen, die mit ihrem politischen Handeln bei Tage so gar nichts zu tun haben. Die vorwärts-Liederfreunde wollen, dass die ganze Partei wieder textsicher wird. In ihrem Liederbuch sind 100 Lieder zusammengekommen, allerdings nicht nur Klassiker der Arbeiterbewegung, sondern auch Werke politischer Liedermacher der letzten Jahrzehnte von Bob Dylan bis zu Wolf Biermann.

Vertonte Lyrik war die wichtigste musikalisch-literarische Darbietungsform der Ziele der Arbeiterbewegung. Keine Feste und öffentlichen Auftritte, wie der 1. Mai, Versammlungen, Gewerkschafts- oder Parteitreffen, Streiks, Aufmärsche und Demonstrationen, ohne die Lieder der Arbeiterbewegung. Diese erfüllten verschiedene soziale Funktionen: Nach außen waren die Lieder ein Bekenntnis, sie propagierten die Ideen der Arbeiterbewegung, in ihnen wurden grundsätzliches Wissen, Moral, Wertvorstellungen ausgedrückt. Sie dienten der Agitation und Ermutigung von Arbeitern, für die Durchsetzung der sozialen Interessen der eigenen Klasse einzutreten, waren auch ein Stück Selbststärkung. Zudem bedeutete die Selbstverständigung über die soziale Lage und politischen Ziele im vereint gesungenen Arbeiterlied ein Gemeinschaftserlebnis und vermittelte Solidaritätsgefühle. Die Lieder der Arbeiterbewegung halfen in spezifischer Weise, die Probleme eines "kämpferischen Lebens" - wie zum Beispiel die Erfahrung politischer Verfolgung - besser zu bewältigen.

Im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Arbeiterliteratur, wo sich das Archiv des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes befindet, heißt es über die Arbeiterlieder: "Nach innen schufen sie das Bewusstsein, gemeinsame Ziele zu verwirklichen und eine Gemeinschaft darzustellen, was im Singen der Lieder emotional von allen erlebt wurde, nach außen wurde bei Demonstrationen deutlich, 'Auch wir haben eine Sprache, nicht nur die herrschende Gesellschaft, und dies sind die Ziele, die wir einfordern!'."


Lange Traditionen des politischen Liedes

Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Bewegung und politischem Gesang hat eine lange Tradition. Bereits in den demokratischen und nationalen Freiheitsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts, den napoleonischen Befreiungskriegen, dem Vormärz und der 1848/49er Revolution, war das politische Lied verbreitet - bevor es dann den Entstehungsprozess der sozialdemokratischen Parteien, in den 1860er Jahren hervorgegangen aus Arbeiterbildungsvereinen, begleitete.

Als "alternative culture" zur bürgerlichen Kultur, oft mit neu verfassten sozialdemokratischen Texten zu Melodien patriotischer Gesänge, hatten Lieder und Gedichte bereits vor den Sozialistengesetzen (1878-90) eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Auf politischen Versammlungen waren es vor allem Hymnen wie die 1864 von Jacob Audorf verfasste Arbeitermarseillaise, "die im allgemeinen bei öffentlichen Auftritten und Demonstrationen aus den Kehlen der Sozialdemokraten ertönte. Der gemeinsame Gesang einer solchen Hymne diente nicht nur als kämpferisches Identifikationsmittel, sondern konnte auch helfen, widerstreitende Emotionen wie Empörung, Wut, Stolz und Angst in 'kritischen' Augenblicken zu kanalisieren", so Bettina Hitzer in ihrer Studie zum politischen Lied 1848-1875. Denn "durch den Gesang der 'Arbeiter-Marseillaise' und anderen Massenliedern verkündeten die Teilnehmer nicht so sehr, woran sie (im Einzelnen, d.A.) glaubten, sondern, daß sie glaubten und daß sie dazugehörten", so Vernon Lidtke in der Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft.

Besonders bei Stiftungsfesten waren Musik und Dichtung Teil des kulturellen Rahmenprogrammes, es ging ja auch darum, die Familien und andere Gruppen der Gesellschaft anzuziehen. Die gemeinsamen SPD-Feste sollten, wie Wilhelm Liebknecht es 1875 ausdrückte, "wahre Kulturfeste" sein, d.h. sie sollten die erträumte zukünftige Gesellschaft zumindest für einen Augenblick erlebbar machen.

Besonders verbreitet waren (nach 1864) die jährlichen Feiern zum Todestag von Ferdinand Lassalle am 31. August mit diesem gewidmeten Gedichten und Liedern. Die Lassalle-Feiern trugen dem sozialdemokratischen Bedürfnis nach emotionaler Bindung und Heldenverehrung Rechnung. Oder auch die nach 1872 begangenen sogenannten "Märzfeiern" im Gedenken an die Kämpfer von 1848 und die Pariser Kommunarden von 1871. Dies war eine Art Gegen-Sedanfest (französische Kapitulation am 2. September 1870 nach der Schlacht von Sedan), eben nicht nationalistisch, sondern mit dem Schwerpunkt auf Freiheitskampf und Revolutionsliedern von 1848/49.

So formulierte bereits die klassische Sozialdemokratie in ihren Liedern den Anspruch auf politische Partizipation mittels Selbstdefinition als das "wahre" Volk. Eben nicht ein anderes Volk, sondern die Bourgeoisie tritt in ihren Liedern als Gegner auf, der dafür verantwortlich gemacht wird, dass den Arbeitern politische und soziale Freiheit vorenthalten wird. Gegen zunehmenden Hurrapatriotismus setzte sie internationale Solidarität. Wie formulierte Clara Zetkin so schön (1910): "Im Proletariat selbst mehren sich die Zeichen, daß es als aufstrebende Klasse nicht bloß kunstgenießend sein will, sondern auch kunstschöpfend. Das beweisen vor allem die Arbeitersänger und Arbeiterdichter...".


Über das gespaltene Arbeiterlied

Das deutsche Arbeiterlied war in Westdeutschland kaum ein Gegenstand der Forschung und Musiksoziologie. Ganz anders in der DDR, wo es das von Inge Lammel 1954-1985 geleitete Arbeiterliedarchiv an der Akademie der Künste der DDR gab. Die Wissenschaft unter marxistisch-leninistischen Vorzeichen behauptete allerdings eine eigenartige Gegenüberstellung: In der revolutionär-kommunistischen Musikbewegung hätte das Arbeiterlied die proletarischen Klassenkämpfe auf der Straße angeleitet, während bei der reformistischen Sozialdemokratie das Arbeiterlied in Biergärten und auf Festen angeblich nur zur Umrahmung und Erbauung diente!

Richtig ist jedenfalls, dass der 1877 in Gotha gegründete Arbeitersängerbund sich mit 225.000 Mitgliedern (Mitte der 1920er Jahre) zu dem Gegenspieler des bürgerlichen Deutschen Sängerbundes entwickelte. Der Arbeitersängerbund war nach dem Arbeiterturn- und -sportbund sowie nach dem Rad- und Kraftfahrerbund "Solidarität" die drittgrößte Organisation der Arbeiterkultur in Deutschland. Erst 1932 wurde das Internationale Musikbüro der Komintern mit Sitz in Moskau gegründet; diese kommunistische internationale revolutionäre Musikbewegung konnte natürlich nach Hitlers Machtergreifung nur noch außerhalb Deutschlands wirken.

Bereits 1954 und 1962 hatte Wolfgang Steinitz die DDR-Standardwerke Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten herausgebracht. Mit der These, dass in den Kämpfen zwischen Leibeigenen und Feudalherren, zwischen Arbeitern und Kapitalisten, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern das Lied jahrhundertelang von beiden Seiten bewusst als ideologische Waffe gehandhabt wurde. Die jeweils Herrschenden versuchten immer schon - über die Schule, das Militär, durch Liederbücher in hohen Auflagen - mit volkstümlichen Liedern den Geist der Untertänigkeit, sich in die "gottgewollte Ordnung" ohne Widerspruch einzufügen, zu verbreiten. Dem entsprach das Verbot und die Verfolgung des Singens von Liedern, in denen die unterdrückten Schichten ihr elendes Leben beklagten, die Urheber anklagten oder sogar zur politischen Aktion aufriefen.

Wie es Hanns Eisler formulierte, klang es doch sehr nach kommunistischer Geschichtsteleologie: "Das moderne Industrieproletariat lebt in so komplizierten Arbeitsverhältnissen, dass die naive Art des Volksliedes nicht mehr ausreicht, sie zu beschreiben. Die eigentümliche Stellung des Industrieproletariats im modernen Leben wird tatsächlich in keinem einzigen Volkslied ausgedrückt. Das Proletariat hat sich aber für seine Klassenzwecke etwas viel Verwendbareres geschaffen, das Kampflied. Das Kampflied ist das eigentliche Volkslied des Proletariats."

Eigentlich selbstverständlich, dass Arbeiter in der Weimarer Zeit, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse sie zwangen, Interessenvertretung und somit Politik in den Mittelpunkt ihres Lebens zu rücken, auch in ihren Liedern diesen zentralen Lebensbereich ansprachen. Allerdings vergessen wir nicht: Dies galt nicht für alle Arbeiter, sondern nur für diejenigen, die sich der Arbeiterbewegung verbunden fühlten.


Renaissance des Arbeiterliedes

Mehr als ein halbes Jahrhundert später, im "roten Jahrzehnt", wie Gerd Koenen die Jahre "unserer kleinen deutschen Kulturrevolution" 1967 bis 1977 nannte, zeichnete sich eine neue Konjunktur des politischen Liedes ab. Neben dem aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammenden Protestsong wie von Pete Seeger oder Joan Baez, neben der neuen generationsprägenden Rock- und Popmusik der rebellischen Jugend, von den jungen Rolling Stones bis zu "Woodstock", war auch das Arbeiterlied wieder da. Im gespaltenen Deutschland gleich doppelt:

Im Westen im Zuge des ideologischen Rückgriffs der Neuen Linken auf die traditionelle Arbeiterbewegung - das "neue politische Lied" der Liedermacherbewegung trug hierzu bei: von Franz-Josef Degenhardt über Reinhard Mey, Hannes Wader und Dieter Süverkrüp bis Konstantin Wecker.

Im Osten gab es die Singebewegung der FDJ, die kulturpolitisch versuchte, die internationale Jugendrevolte zu verknüpfen mit den weltweit - kommunistisch definierten - angeblich "fortschrittlichen Kräften" und mit der historischen Arbeiterkultur. Dabei "treten neben die sogenannten lauten, agitatorischen, hymnischen Töne zum Teil an ihre Stelle reflektierende, leise, individuelle", so Lutz Kirchenwitz 1984 auf einer internationalen DDR-Tagung zum Arbeiterlied. Angesichts der Entspannungspolitik wurde mancher historische Marschrhythmus alter Arbeiterlieder durch Elemente des Jazz und Swing entschärft.

Diese neue Aneignung des historischen Arbeiterliedes nach "68" hatte damit zu tun, dass die vergangenen Klassenkämpfe der Arbeiterbewegung zu einer zentralen Bezugsgröße, vor allem der zumeist akademischen Jugend, wurden. Der Mythos vom kämpfenden Arbeiter ergriff nicht nur APO, Neue Linke und DKP, er bewegte über den Sozialistischen Hochschulbund (SHB), Jusos, Falken und IG-Metall-Jugend auch weite Teile der SPD. Neben der Renaissance des Marxismus wurde die weitgehend untergegangene Arbeiterkultur, das politisierte Gemeinschaftsleben in zahlreichen Vereinen, Wohnungs- und Konsumgenossenschaften mitsamt seinen Arbeiterliedern wiederentdeckt.

In den Liedern löste sich manche hochkomplizierte neomarxistische Theoriedebatte auf. Schwarz-Weiß-Denken entlastet. Klare Fronten wurden beschworen. "Sag mir wo Du stehst..." sang die FDJ. Und im Westen war es noch schriller: Dort bewegte die blutrünstige Romantisierung des Spanischen Bürgerkrieges (1936-39) die Gemüter. Man kaufte die beim VEB Amiga des Ministeriums für Kultur erschienenen Schallplatten von Ernst Busch, des führenden DDR-Interpreten internationaler Kampflieder. Welcher Gruppierung der zersplitterten Neuen Linken man auch immer angehörte, das Einheitsfrontlied "Und weil der Mensch ein Mensch ist ..." und das Solidaritätslied "Vorwärts und nicht vergessen...", beide getextet von Bert Brecht, vertont von Hanns Eisler, waren in den 70er Jahren so etwas wie Erkennungsmelodien aller linken studentischen Parteien und Verbände.

Dass nach 1945 das Arbeiterlied in Westdeutschland wenig gepflegt wurde, lag auch daran, dass Volkslieder und Arbeiterlieder durch die Aneignung der Nazis als diskreditiert galten, zudem hatten diese auf manch bekannte Melodie ihren faschistischen Text gelegt. Aus dem Arbeiterrevolutionslied von 1919 "Auf, auf zum Kampf, zum Kampf / Zum Kampf sind wir bereit / Dem Karl Liebknecht, dem haben wir's geschworen / Der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand" wurde um 1930 die Version von Adolf Wagner für die SA: "Auf, auf zum Kampf, zum Kampf / Zum Kampf fürs Vaterland / Dem Adolf Hitler haben wir's geschworen / Dem Adolf Hitler reichen wir die Hand."

Dieser organisierte Einsatz von Liedern durch die Nazis und die mangelnde Aufarbeitung und Bewältigung dieser Missbrauchserfahrung in der Nachkriegszeit scheint eine wesentliche Ursache dafür zu sein, dass das gemeinsame Singen im Westen lange Zeit kaum eine lebendige Ausdrucksform darstellte.

Doch wo soziale Bewegungen sind, ist immer beides: das Zuhören, das Konzert als Ausdruck des Widerstandes, etwa beim "Rock gegen Rechts"; zum anderen das Gemeinschaftserlebnis des gemeinsamen Singens. Das war auch in der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre so, etwa bei der sogenannten Prominenten-Blockade der amerikanischen Pershing-Raketen in Mutlangen. Dort bekamen wir in den nasskalten Nächten auf der Schwäbischen Alb nicht nur von Heinrich Böll oder Walter Jens vorgelesen, sondern hielten uns während des "gewaltfreien Widerstandes" auch durch gemeinsames Singen wach und machten uns dadurch Mut. Besonders ein Schlager von Drafi Deutscher musste mit neuem Text dafür herhalten: "Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unser Widerstand nicht / alles, alles geht vorbei, auch die Polizei!", so unser abgewandelter Refrain.

Die Behauptung, in postindustriellen Zeiten sterbe diese Ausdrucksform des politischen Gesanges als Gemeinschaftserlebnis unvermeidlich ab, scheint fraglich - es sei denn, das Internetzeitalter mache soziale Bewegungen überhaupt obsolet.


Klaus-Jürgen Scherer (* 1956) ist Politikwissenschaftler, Geschäftsführer des Kulturforums der Sozialdemokratie und Redakteur der NG/FH in Berlin.
klaus-juergen.scherer@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013, S. 89-93
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2013