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REZENSION/013: Kate Tempest - Let Them Eat Chaos (SB)


Mit Spoken Word Poetry und Hip-Hop Abgründe öffnen


Mit Kate Tempest hat diese Epoche sich anbahnender Katastrophen eine Poetin hervorgebracht, deren große Ausdruckskraft der offenkundigen Weigerung geschuldet ist, Augen und Ohren auf markttaugliche Weise zu verschließen. 30 Jahre jung, schon vor 14 Jahren auf Poetry Slams und bald darauf in der internationalen Hip-Hop-Szene aktiv, tut sich die Dichterin keinen Zwang zur Einhaltung von Genregrenzen an. Zu ihren literarischen Einflüssen zählen Samuel Beckett, James Joyce und William Blake ebenso wie der Wu-Tang Clan, mit ihrer Band Sound of Rum tourte sie weltweit durch Clubs und Konzerthallen, und für ihren Gedichtband Brand New Ancients erhielt sie 2012 den renommierten Ted Hughes Award für neue zeitgenössische Dichtung in Großbritannien. Bei der Royal Shakespeare Company ist sie mit gerappten Texten des großen Dichters wie eigenen Werken ebenso präsent wie auf dem Glastonbury Festival, der ersten Adresse für angesagte Popkultur.

Kate Tempest nimmt bei ihrer Karriere in atemberaubendem Tempo eine Hürde nach der anderen, die Presse dies- und jenseits des Atlantiks rennt ihr die Tür ein, und die Rezensenten können gar nicht anders, als ihre Auftritte, Bücher und Alben in höchsten Tönen zu loben. Interessant ist diese aufgrund ihres überzeugenden Könnens einmal nicht als Hype abzuwertende Anerkennung vor allem deshalb, weil die Rapperin es nicht an Deutlichkeit mangeln läßt. So wird die TV-Übertragung eines Auftritts der Künstlerin im Londoner Rivoli Ballroom, die Anfang Oktober den Auftakt zu einer Reihe von Live-Sendungen über innovatives Theater und aktuelle Dichtkunst auf BBC Two bildete, mit den warnenden Worten eingeleitet: "This broadcast contains some extremely strong language and explicit poetry".

Tempest bedankt sich denn auch bei der BBC dafür, daß sie das Risiko auf sich nahm, sie mit ihrer dreiköpfigen Band zu einer Direktübertragung der Sendung Performance live einzuladen. Aufgeführt wird ihr jüngstes Werk Let Them Eat Chaos in Auszügen, und wer sie noch nicht kennt und einen Eindruck von ihrem Können erhalten will, kann dies anhand der Aufzeichnung der BBC-Sendung tun. Kein "Konzeptalbum", wie man früher entschuldigend sagte, wenn die dramaturgische Ambition progressiver Rockgruppen desaströs ins Kraut schoß, vielmehr hat Tempest eine in lyrischer Präzision hochverdichtete Momentaufnahme des Lebens von sieben Menschen verfaßt, die alle in einer Straße Londons leben und frühmorgens zur gleichen Zeit nicht schlafen können.

Dieser auf die Minute 4:18 eingefrorene Rahmen wird mit einem regelrechten Pandämonium verunsicherter bis angeekelter, angsterfüllter bis aggressiver Stimmungen angefüllt. Was Tempest mit am Timbre ihrer Stimme abzuhörender Erlebnistiefe vorträgt, entspringt keinem irgendwie gearteten Weltschmerz, sondern den konkreten Anlässen und Geschichten aus dem alltäglichen Leben der sieben Akteure. Was die einleitende Warnung betrifft, so wird das Publikum nicht enttäuscht, doch im Unterschied zu manchen Hip-Hop-Acts, denen das Beschwören von blutiger Gewalt und sozialem Elend mitunter zum Selbstzweck gerät, betreibt die Rapperin keine Effekthascherei. Die Wirklichkeit, die Tempest mit großer darstellerischer Intensität in Szene setzt, entspringt der täglichen Entfremdung eines Lebens in warenförmigen Tauschverhältnissen, die jeder schon erlebt hat, wenn der Wunsch, es könne doch ganz anders sein, mit zerreissender Kraft auf Nerven und Sinne einwirkt.

Europe Is Lost - nur einer von 13 Titeln, doch er sticht aus der formalen Geschlossenheit des Albums aufgrund der Schärfe der Kontraste, die mitunter in zwei, drei hart gesetzten Worten aneinander reiben, hervor. Eine derart explizite Anklage herrschender Widersprüche ist zumindest im Kontext populärer Musik so selten, daß die Beschwichtigungsformate, die das popmusikalische Feld beherrschen, in ihrer besinnungslosen Betriebsamkeit leerlaufen. Die berstende Sprachmacht Tempests und der minimalistische Off-Beat ihrer Musiker macht unüberhörbar, daß die akustischen Beruhigungsmittel, die den aufsteigenden Zorn besänftigen und die Menschen in den Schlaf unauffälligen Funktionierens wiegen, allein von der quälenden Repetition kulturindustrieller Maschinen angetrieben werden. Nicht erst nach dem Brexit, aber um so mehr nach der nationalistischen Adressierung der sozialen Misere in seinem Fahrwasser bedarf es einer Desillusionierung, die im besten Falle zu produktiver Ernüchterung führt, immer jedoch ins Mark schmerzhafter Vergeblichkeit trifft. Wer Tempest verstehen will, braucht keine Brücke der Empathie, die wäre schon zu umwegig für den Kontakt, den die Rapperin mit Verhältnissen herstellt, die normalerweise lieber nicht zur Kenntnis genommen werden.

Befähigt zum Blick durch die Fassaden erwünschter Akzeptanz auch der brutalsten Kriegs- und Tötungshandlungen, wenn sie denn von der eigenen Armee oder dem eigenen Schlachter begangen werden, wurde Kate Tempest 2003, als die jugendliche Kriegsgegnerin feststellen mußte, daß millionenfacher Protest den verheerenden, bis heute täglich Opfer fordernden Überfall auf den Irak nicht verhindern konnte. Kate Esther Calvert, die ihren Künstlernamen zweifellos dem berühmten Shakespeare-Stück The Tempest entlehnt hat, ginge sicherlich nicht so weit zu sagen, daß es keine Hoffnung für die Menschen gebe. Sie perforiert jedoch die Grenzen zur distanzierten Betrachtung alltäglicher Fremdheit und Zerstörung mit einer Verve, die niemanden unberührt läßt, der sich ihren Worten länger aussetzt. Allein die Auseinandersetzung mit einer Schlaflosigkeit, die Ungeheuer gebiert, weil sie den Menschen irgendwo im Zwischenraum vermeintlich klar definierter Bewußtseinszustände zu einer unvertrauten Konfrontation nötigt, bietet Stoff zu intensivem Miterleben.

Let them eat cake - die Königin Marie Antoinette zugeschriebene Äußerung, mit der sie angeblich ihrem Unverständnis darüber, daß die Bevölkerung nach Brot ruft, wenn sie doch Kuchen essen könnte, weltfremden Ausdruck verlieh, wird im Titel des Albums Let Them Eat Chaos auf eine Weise zugespitzt, die zeigt, daß das revolutionäre Hinwegfegen des Adels in Frankreich längst nicht gereicht hat, um menschlichen Fortschritt nicht im Desaster enden zu lassen. Das konkrete Ziel einer tatsächlich besseren Welt läßt auf sich warten, und da es immer Menschen sind, die warten, und nicht die Verhältnisse, die ihnen um so schwerer auf die Füße fallen, trifft die Geschichte um sieben von ihren ganz persönlichen Dämonen verfolgte Menschen ins Schwarze der von so vielen Dingen getriebenen, alles andere als selbstbestimmten Existenz.

Daß die Spoken Word-Artistin und Dichterin mit einer Sprache erfolgreich ist, die ein hohes Maß an Übertragspotential aufweist, muß nicht als konformistisches Anbiedern an einen Zeitgeist verstanden werden, der bei aller immanenten Kritik doch in Anpassung und Unterwerfung mündet. Man könnte das Lob, das ihr aus ansonsten unkritischen Medien entgegengebracht wird, auch als das wilde und unberechenbare Wuchern einer Vegetation, die aus den Spalten im Disparaten der Kultur zum Licht drängt, nehmen. Zu begreifen, daß es höchste Zeit dafür ist, den auf den Abgrund zurasenden Zug aufzuhalten, ohne in apokalyptische Depression zu verfallen, sondern im Infight mit der Gefahr zu wachsen, wäre ein produktives Resultat der Auseinandersetzung mit dieser höchst imaginativen wie hyperrealistischen Wortkunst.

26. November 2016

Kate Tempest "Let Them Eat Chaos"
Label/Vertrieb: Caroline (Universal Music)


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